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Portrait - Riese und Müller

Systemwandel in Weiterstadt

Die Entfernung ist nur ein Katzensprung, doch für Riese und Müller bedeutet der Umzug einen großen Schritt Richtung Planziel. Wir konnten den Premium-Hersteller trotz des ein oder anderen unausgepackten Kartons schon im neuen Domizil besuchen und erfahren, wie stark Logistik und Erfolg zusammenwirken – und was Familie mit der Evolution der Mobilität zu tun hat.

Der beste Platz im neuen Stammsitz in Weiterstadt ist auf dem Balkon vor den Büros von Geschäftsführung, Kommunikation, IT und Logistik: Hier, vom zweiten Stock aus, hat man eine perfekte Aussicht. Nicht auf die nur wenige Meter entfernte A5, sondern über die komplette Lager- und Montagehalle von Riese und Müller. Fast quadratisch, praktisch, groß. Alles wirkt schon von oben luftig, klar aufgebaut und übersichtlich. Die Hochregallager gegenüber der Bürozeile sind gerade mal zur Hälfte belegt. Der alte Standort platzte zuletzt aus allen Nähten. Um am neuen auch möglichst flexibel zu bleiben und eine gute Basis zu haben, sahen sich Leute aus dem Unternehmen wie Tobias Spindler ab Frühjahr 2012 bei Branchennachbarn um und besuchten Firmen wie Koga oder Cycle Union. »Wir wollten herauszufinden wie die ihr Wachstum vom Platz her gemeistert haben«, erklärt der Kommunikationsleiter von Riese und Müller. Die Mühe hat sich gelohnt, dieser Meinung sind hier wohl alle der heute 75 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese Zahl war übrigens gar nicht so einfach zu recherchieren – »zur Zeit kommen fast täglich Leute hinzu«, grinst Geschäftsführer Heiko Müller.
Zurück zur neuen Halle. Niemand kennt sie wohl so gut wie der Projektleiter Umzug und zukünftige Leiter Logistik, Christian Benning, der sie uns mit nachhaltiger Begeisterung vorstellt. Acht Tore mit Rampen zum Be- und Entladen der LKWs gibt es hier. »Früher hat da schon mal ein LKW an der Straße warten müssen. Hier haben wir noch Reserven«, so Spindler. Früher gab es auch die große Wertstoffpresse gleich neben den Lkw-Rampen nicht; sie sorgt dafür, dass recycelbare Verpackung nur etwa alle 10 Tage abgeholt werden muss statt wie früher dreimal die Woche. Und selbst für die Messeleute ist jetzt alles einfacher: Sie können direkt mit dem Lieferwagen in die Halle fahren und einladen. Perfekt.

So übersichtlich wie chaotisch

Was angeliefert wird, bekommt im Wareneingang einen Barcode und ist damit im System verortet. Anschließend wird das Material in eines der Hochregale transportiert. Hier herrscht das Chaos – allerdings in seiner übersichtlichsten Form: als sogenannte chaotische Lagerordnung. Das Paket mit Lenkern kommt zum Beispiel nicht notwendigerweise neben andere Lenker-Pakete, sondern dorthin, wo gerade Platz und der Weg zur Montage besonders kurz ist. Das hat Vorteile. Die Transparenz des Materialflusses ist hoch, das System ist schneller, und die Auffindbarkeit ist von einzelnen Personen entkoppelt. Bei klassischer Lagerordnung wissen oft nur wenige, was wo zu finden ist. Sind diese Leute mal nicht im Unternehmen, werde es wirklich chaotisch. Die EDV des Systems dagegen findet alles sofort – egal, ob im ersten Regal in Augenhöhe oder im hintersten auf 11 Meter – ein Wert, den Benning mit Stolz betont – »auch wenn die Bezeichnung Hochregal« offiziell erst bei 12 Metern gilt. Der tonnenschwere Stapler ist allerdings immer noch von einem Fahrer besetzt, mit Lagerrobotern wird hier denn doch nicht gearbeitet.
Schon dem Besucher wird ziemlich schnell klar, dass der Warenfluss durch dieses System ungemein schnell und transparent wird. Und das war schließlich eines der Ziele, wie Heiko Müller bestätigt.
Vorn, wo die Montagevorbereitung stattfindet und jedes Riese und Müller-Rad – übrigens auch die Räder der Tochtermarke Blue Label – seinen Anfang nimmt, wird die Nachschubversorgung nach dem Kanban-System gesichert, das vor Jahren von Toyota entwickelt und mittlerweile von vielen innovativen Firmen übernommen wurde: Hier lagert stets eine Vorratseinheit mehr als gerade gebraucht wird. Ist beispielsweise die erste Kiste mit Griffen leer, wird eine entsprechende Karte (Kanban), auf der das Material definiert ist, in den dafür vorgesehenen Behälter gelegt. Anhand der Karten, die im festen Rhythmus eingesammelt werden, wird das fehlende Material immer pünktlich bestellt beziehungsweise nachgelegt.

Manufaktur und Automatismus

An die Vorbereitung mit sieben Beschäftigten schließt in der Hallenecke der Laufradbau an: Ein Automat stellt die »Rohlinge« her – die verspeichten Naben werden mit den Felgen verbunden – und dann geht’s in den zweiten Automaten, der mit seinen 100 verschiedenen Programmen so ziemlich jedes Laufrad zentrieren kann. »Trotzdem gibt’s den finalen Touch per Hand«, erklärt Tobias Spindler. »Wir wollen an wichtigen Stellen den Manufaktur-Charakter erhalten. Und da wir hier einen perfektionistischen Laufrad-Guru haben, müssen wir uns um Fertigungstoleranzen oder gar Probleme mit Laufrädern keine Sorgen machen.«
Serienfertigung en Gros steht jetzt allerdings bei Riese und Müller absolut im Vordergrund: Einzelräder, also nach individuellen Vorstellungen aufgebaute Bikes, gehen deutlich zurück, und so werden in den Fertigungsstraßen immer 16 Stück – eine komplette Serie – aufgebaut. Vier Straßen sind dafür reserviert, eine ist dem Faltrad Birdy vorbehalten, in einer weiteren Straße werden noch Einzelräder gefertigt. Dazwischen liegen immer wieder Ausweichstraßen; so kann man flexibel reagieren – dann zum Beispiel, wenn einmal ein Bauteil für eine bestimmte Serie fehlen sollte und die Fertigung stockt. Die Räder bleiben dann einfach hängen, bis das Bauteil eintrifft. In der nächsten freien Fertigungsstraße wird solange eine andere Serie montiert.
Die Endabnahme bringt dann noch eine Probefahrt für jedes einzelne Riese und Müller-Rad mit sich; damit setzt man sich von vielen Mitbewerbern ab, die nur Stichproben machen; für die E-Bikes soll es neben dem schon vorhandenem Prüfstand in der Halle noch eine überdachte Testrampe geben; bei Trockenheit wird jetzt schon die Funktion des Antriebs an der Laderampe getestet.
Klar: Veränderung mit viel Potenzial kostet. Allein für Umbau der Industriehalle in der Feldstraße und den Umzug wurden etwa eine Halbe Million Euro investiert. Dabei fielen die Umzugskosten mit einem Zehntel noch recht günstig aus: Riese und Müller hat ganz auf die eigene Kraft gesetzt. Ein Externes Umzugsunternehmen gab es nicht, der »Systemwandel« stand ganz unter der Leitung von Chrisian Benning. Und er und die Geschäftführer sind sich einig: Der Umzug hat nur so gut geklappt, weil sich die gesamte Belegschaft voller Elan ins Zeug gelegt hat.
Für diesen Aufwand gibt es hier auch einiges, was sich im Vergleich zur alten Heimat anhört wie Luxus: Die Entwicklungsabteilung etwa kann auf 400 Quadratmetern Prototypen bauen, und der R+M Hausfotograf Kay Tkatzik hat sein eigenes Fotostudio fast derselben Größe. Etwas größer noch ist die Schulungsfläche, an die in Kürze das Riese und Müller-Museum – ein Archiv aller Modelle und Prototypen – angrenzt. Aber auch die Kantine und Sozialräume können sich sehen lassen.
Die Außenfassade des Gebäudes wartet noch auf den neuen Haupteingang und das Logo. Das steht als Nächstes an, zusammen mit einem großen Schriftzug auf der Autobahn-Seite – schließlich will man die Lage auch in dieser Hinsicht nutzen – die zahlreichen Nachbarunternehmen machen es vor. Ob das schon zum ersten offiziellen Veranstaltungstermin Anfang März fertig ist, ist unklar. So oder so feiert das Unternehmen mit geladenen Gästen dann 20-jähriges Bestehen.

Der Realität zu weit voraus

Vor eineinhalb Jahren gab Riese und Müller das Ziel bekannt: Marktführer bei Hybrid-Premiumrädern. Das neue Domizil mit seinen vielen logistischen Neuerungen ist für die Unternehmensleitung ein notwendiger Schritt dahin – und für den Besucher tatsächlich eine Demonstration, wie ernst es dem Vollfeder-Spezialisten mit dieser Ankündigung ist. Für die Expansion ist natürlich auch ganz klar die Entwicklung in der Branche und letztendlich in der Gesellschaft ausschlaggebend, so Geschäftsführer Markus Riese. Und da kommen Familie und E-Bike ins Spiel. »Der E-Antrieb, das war für uns spätestens 2008 zu erkennen, wird die Mobilität mit dem Fahrrad regelrecht demokratisieren«, erklärt Riese. »Er ist gesellschaftlich so hochinteressant, weil damit jeder Fahrspaß und Speed im Alltag erleben kann. Auch, wenn er nicht trainiert ist und kaum Sport treibt.« Und nur über das direkte Erleben, was ein gutes Hybrid-Fahrrad kann und wie viel Freude es macht, wird den Menschen das Hybridrad verständlich. »Das ist eine psychologische Sache!« Lange Jahre erlebten sich die Macher von Riese und Müller als zu sehr zukunftsorientiert: »Wir waren der Realität immer zu weit voraus – das machte das Leben für das Unternehmen nicht einfacher«, so Riese selbstbewusst. Das Gemini – das pfiffige Familienrad, mit dem zwei Kinder transportiert werden konnten – oder das Sesselrad Equinox, beide kamen nicht wie erwartet an. »Wir waren zu früh, eine Revolution ist einfach nichts Greifbares. Und den Rädern fehlte ein entscheidender Punkt zum Erfolg: die E-Unterstützung.«
Wie sehr die Fully-Firma mit ihrer starken Ausrichtung auf den Hybrid-Sektor Recht hatte, zeigt auch das überraschende Verhältnis von Hybrid- zu unterstützungsfreien Rädern: Etwa 80 Prozent der Riese und Müller-Produktion – derzeit gut 60 pro Tag, Tendenz deutlich steigend – kommt elektrisiert zum Kunden!

Neue urbane Mobilität

Der anhaltende E-Bike-Trend – und damit letztendlich auch das enorme Wachstum des Unternehmens – hat nach Meinung der Firmenchefs viel mit Veränderungswünschen in der Gesellschaft zu tun – und dass sie erst jetzt allmählich auch erfüllt werden können.
Der Kinderanhänger hat mit dem E-Antrieb neuen Anschub bekommen – er ist heute absolut salonfähig. »Aber eigentlich ist der Trailer noch eine Notlösung«, meint Riese. Das Lastenrad mit Multifunktionscharakter, also auch als Familien-Transportrad steht noch kurz vor der gesellschaftlichen Akzeptanz. Und die geht mit der des E-Antriebs Hand in Hand: »Jetzt erkennen die Menschen den praktischen Nutzen der Unterstützung«, so Riese, und das hilft weiter auf dem Weg zur Anerkennung des Rads für die Alltagsmobilität. Denn der Familienvater muss sich nicht als unsportlicher Typ outen, wenn er ein Lastenrad für den Kindertransport mit Hybridantrieb fährt. Schließlich transportiert er seine Kinder. »Dieses Rad macht doch für den allergrößten Teil der Bevölkerung mit Antrieb erst Sinn!«
Genauso wie erst das schnelle Pedelec als Fahrzeug für lange Arbeitsstrecken sinnvoll ist, darüber war man sich im Unternehmen schon lange klar. Man will ja nicht nach Stunden und verschwitzt und müde ankommen.
Familien sehen schon lange, dass laufende Ausgaben für das Auto, Verpflichtungen und Regelungen, die die motorisierte Mobilität mit sich bringt, die Parkplatzsuche und -Kosten und nicht zuletzt der gesundheitliche Aspekt gegen das Auto sprechen. Aber erst mit dem Hybridfahrrad kann eine wirklich sinnvolle alternative Mobilität für Familien entstehen. Das erkennt Markus Riese, der wie viele seiner Mitarbeiter seine Räder im Alltag fährt, auch direkt am Interesse in seinem privaten Umfeld. »Die Akzeptanz des Antriebs kommt über Fahrspaß und unkomplizierte Praxis. Und hier steht die Branche und vor allem auch die Verkehrsinfrastruktur erst am Anfang.«
Schließlich hilft auch noch der Lifestyle-Faktor, den die Gattung Cargobike mittlerweile in den Städten hat, das Rad gesellschaftsfähig zu machen. Lastenräder von Gewerbetreibenden werden fast immer individualisiert und sind gute Werbeträger. »Auch wenn diese Entwicklungen von der Politik ignoriert werden«, meint Riese visionär, »es wird mit Sicherheit so kommen«.

Zurück im Hier-und-Jetzt

Kommen wird im April 2013 auf jeden Fall das erste vollgefederte Lastenrad: das im Herbst vorgestellte Riese und Müller Load mit multifunktionaler Ladefläche vor dem Fahrer wie etwa beim Kult-Transportrad Bullit. Hier finden nebeneinander zwei Kindersitze Platz, alternativ gibt es dazu auch eine Aufbaukiste für Gütertransport und anderes Transportzubehör. Dass Vollfederung auch beim Lastenrad sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Selbst wenn man nicht an Lebensmittel denkt, die wohlbehalten ans Ziel kommen wollen – auch vieles andere kommt besser an, wenn es nicht durcheinandergeschüttelt wird.
Als einfachere und günstigere Alternative zum Load wird der Transporter von Blue Label erhältlich sein – ein frontgefedetes Transportrad mit verlängertem Gepäckträger auf dem zwei Kindersitze oder, dank Abstellschiene auf Nabenhöhe, jede Menge Einkauf Platz finden – natürlich auch mit Hybridantrieb aus Mensch und Elektromotor.
Der hat nach Ansicht von Riese noch enormes Potenzial; sogar mehrspurige Hybridfahrzeuge kann man sich hier vorstellen. Aber zunächst ist man erst einmal froh, jetzt Räder für den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsstand zu produzieren. Und diese soziale Entwicklung damit auch mitzugestalten – statt zu weit in die Zukunft zu blicken.
Doch keine Angst: »Das Schicksal von Riese und Müller ist es, Innovationstreiber zu bleiben,« da ist Kommunikationsleiter Spindler sicher.
Gut gerüstet für die Zukunft sind sie in Weiterstadt jedenfalls.

15. Februar 2013 von Georg Bleicher
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