Report - Schindelhauer
Im Anfang war der Riemen
Eine klassische Industrieanlage im zweiten Hinterhof an der Schlesischen Straße in Berlin-Kreuzberg. Dahinter die Spree. Bunt gemischt die Nutzung der Industrieanalage: Software-Entwickler, PR-Unternehmen, aber auch handwerkliche Betriebe. Im Erdgeschoss ein veganes Café mit Mittagstisch und Außengastro, die an diesem sonnigen, aber kalten Märztag bereits genutzt wird. Wer die ersten Modelle von Schindelhauer kennt, stellt sich das »Head Office« von Schindelhauer wohl genau so vor. Und tatsächlich, gleich neben dem Café in der Schlesischen Straße liegen Werkstatt, Montage und Lager dieses Unternehmens. Oben, in der dritten Etage das Head Office. Viel natürliches Licht, offene Räume mit tendenziell puristischer, aber stilvoller Einrichtung. Das Klischee trifft also zu – und doch wieder nicht. Denn Schindelhauer hat diesen Firmensitz erst vor fünf Jahren bezogen – und sich seit den ersten Modellen stark entwickelt. »Natürlich kommen wir aus dem Fixed-Bereich«, sagt Jörg Schindelhauer, Namensgeber und Mitbegründer des Unternehmens. Doch der erste Werbeslogan »Bikes to conquer urban space« ist heute nirgendwo mehr zu lesen. Schindelhauer macht auch heute noch minimalistische fixed gear-Räder beziehungsweise Singlespeeder. Doch wer sich den Gustav oder die gerade vorgestellte Greta ansieht, erkennt darin ein waschechtes, auf praktischen City-Transport fokussiertes Alltagsrad. Den Weg dahin bestimmten die Kunden, wie wir sehen werden.
Bike-Schmiede als Plan B
Die GmbH, die vier Jungs mit gerade abgeschlossenem Studium 2009 in Magdeburg gegründet hatten, sollte eigentlich in eine ganz andere Richtung führen. Jörg Schindelhauer, Fahrzeugbauer und Motorsport-Fan, hatte einen Sportwagen im Kopf. Zweisitzer, klein, flach, schnell. Für die Landstraße, ohne großen Komfort und Schnickschnack. Ein Renner ähnlich dem Lotus Esprit. Man stieg verheißungsvoll ein, das Projekt gedieh nach und nach mit einem Stipendium des Wirtschaftsministeriums. 2008 war dann eine größere Finanzspritze nötig. »Eine Million hätte es wohl schon gebraucht«, erinnert sich Schindelhauer. Doch die war schwer aufzutreiben. Das, und vor allem das sich verändernde gesellschaftliche Klima in Deutschland ließ die Schindelhauers innehalten: Die Entwicklung ging stärker in Richtung neues Bewusstsein, Umweltbewusstsein, sich verändernde Mobilität. In so eine Zukunft passt das Rennauto gar nicht mehr so gut. Also die GmbH auflösen?
Da kam der Fixie-Fahrer in Jörg Schindelhauer durch. Ein absolut puristisches, aber edles Bike wäre ein guter Einstieg, etwas Neues zu machen. Etwas, das wesentlich besser in die Zeit passte. Als Maschinenbauer kannte Schindelhauer den Gates-Riemen, den Kalle Nicolai kurz vorher überhaupt erst für die Nutzung als Fahrradantrieb entdeckt hatte. Mit seiner Unterstützung entstand der Antrieb des ersten Schindelhauer. »Ich habe einen Fahrradrahmen gekauft, auseinandergesägt und ein Edelstahl-Verbindungsteil fräsen lassen. So entstand der Siegfried.« Im Namen schimmert es übrigens wieder durch, das Heldentum, die Eroberung – Kennzeichen der »Mood Map« der ersten Schindelhauer-Jahre. Was ursprünglich der unkonventionelle Sportwagen werden sollte, wurde innovative Aufmüpfigkeit und edler Purismus – auf zwei Rädern. Die zu erwartenden Kunden hatten sozusagen eine Entscheidung getroffen.
Purismus als Kriterium
Den Siegfried gibt es heute noch, zusammen mit dem Viktor und dem Ein-Gang-Renner Siegfried Road bildet er die Modellreihe »Puristisch«. Sie können als Singlespeed- oder als Fixie gefahren werden – die Flip-Flop-Nabe macht’s möglich. Am ausgebauten Rad wird das Riemenritzel abgenommen und auf der anderen Seite wieder angesetzt.
Purismus, zunächst vielleicht der wesentliche Fokus des Unternehmens Schindelhauer bei seinen Modellen, stellt heute nur noch eines der Kriterien für die Radmodelle dar. Es gibt auch eine Klassikerreihe. Sie setzt auf Getriebeschaltungen von acht bis 18 Gängen und einen klassischen Auftritt; für Fahrer, die das sportliche Urban-Bike ohne Schutzblech lieben. Das Komfortrad Friedrich (Damenmodell Frieda) ist so etwas wie das klassische Tourenrad mit Träger, Schutzblechen und Lichtanlage, Acht- oder Elfgangnabe. Spätestens hier ist Schluss mit »Pure«: »Unsere Kunden haben uns schnell gezeigt, wo es weiter lang gehen könnte«, sagt Schindelhauer. »Da kamen Rückmeldungen wie ›toll zu fahren, aber könnt ihr nicht auch mal ein Rad mit Schutzblechen bauen?‹.« Händler kennen ihn schon ihr Berufsleben lang, diesen klassischen Kritikpunkt, der die Diskrepanz zwischen Bike-Träumen und Bike-Nutzen spiegelt. Ein minimalistisches Bike spricht emotional an. Aber es ist in manchen Situationen unpraktisch. Wenn Minimalismus einer der Grundgedanken des Teams war, wie geht es weiter, wenn man auf Minimalismus verzichtet? »Das Design war uns immer schon sehr wichtig«, wirft der Namensgeber ein. »Unsere Räder haben so oder so Benzin im Blut, das sieht man ihnen an.« Und er verweist auf die teils tropfenförmigen Rohrquerschnitte und den sportiv anmutenden Bogenausschnitt, der mehr oder weniger die Optik der Sitzrohre der Modelle prägt.
Zurück in der Geschichte: Eurobike 2009 war die Premiere. Fünf Räder von Schindelhauer standen am Stand von Kalle Nicolai, der heute noch als eine Art Ziehvater gesehen wird. »Aber der Handel konnte uns damals nicht richtig einordnen«, erinnert sich der Gründer. »Die Urban Bikes waren gerade im Kommen, damit lagen wir sehr richtig. Aber unsere Mischung aus Retro, Leder, das rohe Alu, die Tropfenform der Rohre …« Wie würde das der Verbraucher sehen? Außerdem sah der Handel damals noch den Zahnriemen skeptisch. Absolut entgegengesetzt nahmen neue Händler, die ein Geschäft nach Studio- oder Galerie-Art betrieben, das Rad wahr. Wer so einen Laden hatte, der wollte auch schnell ein Schindelhauer haben. Die Gründer nahmen es pragmatisch, kauften einen VW-Bus und klapperten Händler ab. Im ersten Jahr konnten sie so zehn Händler gewinnen. Erst im Mai 2010 konnten die ersten 400 Räder ausgeliefert werden. Sie waren im Juli ausverkauft.
»Der Einkauf war anfangs extrem herausfordernd«
Der Zugang zur Branche musste erst gefunden werden – ein Stück weit eingestiegen war man ja nur im Automotive-Sektor. »Vor allem der Einkauf war am Anfang extrem herausfordernd, wie macht man es, in Asien irgendetwas zu bezahlen, dann auch wirklich das zu bekommen, was man wollte – und in der gewünschten Qualität?«
Früh persönliche Beziehungen aufbauen ist wichtig, weiß man heute. »Das haben wir gemacht, und es hat sich gelohnt.« Schon lange arbeitet Schindelhauer mit einem taiwanesischen Rahmenbauer zusammen, der »deutsche Qualitätsanforderungen gewohnt ist.« Mut muss man den damaligen Jungunternehmern auf jeden Fall bescheinigen: Abgespeckte City-Fahrräder waren damals kein Fall für die dicke Brieftasche.
Überhaupt: In die Einkaufs- und Logistikstrukturen wurde am meisten investiert. »Das ist für ein Startup-Unternehmen extrem schwierig zu wissen – was ist wichtig?« Nach zehn Jahren Erfahrung und schnellem Wachstum ist man heute mit einer Einkaufssoftware ausgestattet, welche die gesamte Wertschöpfung umfasst – natürlich inklusive Website- und Händlerbestellung und Lagerhaltung. Denn anders kann man sich das heute gar nicht mehr vorstellen – und vielleicht auch nicht leisten. »Die Prozesse müssen im Hintergrund sauber abgebildet werden.«
Wer bei Schindelhauer ein Rad kaufen will, kann es sich direkt schicken lassen oder es beim Händler abholen – was das Unternehmen empfiehlt. »Transparent für den Händler« ist eine wichtige partnerschaftliche Basis für Schindelhauer. Der B-to-B-Shop zeigt zum Beispiel, welche Räder lieferbar sind. Die Händler bestellen nur die Minimalmenge an Bikes als Demo-Material. Kauft ein Kunde ein Rad, ist es im Allgemeinen in drei Tagen beim Händler – innerhalb Deutschlands. Premium-Händler dagegen bieten ihren Kunden – für andere Verträge mit dem Unternehmen – eine größere Auswahl. Nachteil für Schindelhauer: etwas mehr Lagerrisiko. Doch die Händler schätzen das System. Und Schindelhauer schult jährlich auf der Velo Berlin. Heute wird übrigens grundsätzlich der Gates Centertrack-Riemen verbaut.
High End liegt in den Kleinigkeiten
Und die Kunden schätzen die Details, auf die man bei Schindelhauer stolz ist: Dinge, die den Unterschied machen – sei es beispielsweise der von hauseigenen Ingenieuren selbst entwickelte Belt Port, also das Zwischenstück, das am Hinterbau die Einfädelung des Riemens erlaubt. Für Eingang und Nabenschaltung gibt es unterschiedliche Systeme; so wird beim Fixie beziehungsweise den Pinion-Rädern der Riemen durch das schräge Langloch beim Einlegen gleichzeitig gespannt. Beim anderen gibt es eine integrierte Arretierungshilfe, mit der ganz einfach der Riemen auf die richtige Spannung gebracht werden kann. Verschliffene Schweißnähte an den Alurahmen, hochwertige Komponenten wie Supernova-Scheinwerfer oder der rahmenbefestigte Frontgepäckträger – eigentlich muss einfach alles passen. So kommt es, dass man mit Conti zusammen einen eigenen Reifen entwickelte, der jetzt großvolumig am neuen Gustav für Komfort und einen harmonischen Auftritt sorgt: der GP Urban. Dass die Fans den Ansatz des Radkonzepts verstanden haben, zeigt die Nachfrage nach den verschiedenen Pinion-Modellen oder der Rohloff-Ausführung.
Und schließlich gibt es bei den Highend-Rädern auch Custom-Optionen. »Wir haben versucht, es schlank zu halten«, sagt Claudia Zerries, seit Anfang des Jahres Kommunikationsmanagerin beim Unternehmen. »Der Kunde kann Rohloff- und Pinion-Räder konfigurieren. Und wir geben sehr wenig vor.« Tatsächlich kommen Kunden mit eigenen Ausstattungswünschen, und wenn möglich, werden sie erfüllt – inklusive Sonderfarbe. Zum Beispiel, weil sie die bei einem Leihrad, das sie bei einer Hotelübernachtung bekamen, gesehen hatten. Schindelhauer hat Partnerschaften mit Hotels: Die Design-orientierte Gruppe »Hotel 25 Hours« hat nicht nur Schindelhauer-Leihräder, bei den Premium-Gästen ist das Fahrrad Teil des Hotelzimmers. Wartungs- oder Repa-
raturservice ist natürlich inklusive.
»Wir haben es richtig gemacht, kein Fähnchen im Wind zu sein«, glaubt Schindelhauer. Es gab immer wieder interne Diskussionen, wie weit man sich auf die Anforderungen von außen einlassen sollte. »Das ist doch nicht mehr sportlich genug, das ist nicht mehr Schindelhauer …« waren Argumente der Skeptiker, wenn die Modellschiene breiter werden sollte. Letztendlich ging man gemäßigt, in zeitlichem Abstand und mit der nötigen Sorgfalt auf die Vorstellung der Kunden ein. »Friedrich – der war schon schwierig«, sagt der Gründer. »Ein voll ausgestattetes Rad mit Tubus-Träger, Supernova, Blechen und ergonomischem Lenker – das war für uns ein großer Schritt. Aber: Er hat krasses Wachstum verursacht! Wir hatten also nicht die Kundschaft, die wir dachten zu haben.« Oder zumindest nicht nur, kann man ergänzen.
Soll ein neues Produkt entstehen – man versucht, möglichst nachhaltig zu planen, jährlicher Modellwechsel ist so ziemlich das Gegenteil davon, was man will – dann setzt sich Chefdesigner Stephan Zehren hin und zeichnet los. Darauf folgt ein Clay-Modell und schließlich wirft Manuel das CAD-Programm an. Industriedesigner und Ingenieur machen zusammen die eigentliche Konstruktion, alles wird virtuell zusammengesetzt. Das komplette Kernteam ist eingespannt. Das sind Produktmanager Schindelhauer, Designer Stefan Zehren, Manuel Holstein, der Maschinenbauingenieur – und letztendlich hat natürlich auch CEO Martin Schellhase, der Kaufmann unter den Technikern, einiges mitzureden.
Schließlich entsteht aus dieser Arbeit ein 3D-Modell im Drucker. »Bei uns läuft das eigentlich ganz anders als heute noch bei vielen größeren Herstellern; die gehen mit einer Skizze zum Rahmenbauer und sagen: mach mal. Wir kommen mit den fertigen Details zu ihm.«
Design- und Detailversessenheit – man wüsste jetzt doch gern, was aus einem Schindelhauer Sportwagen geworden wäre. Der Prototyp des Alu-Rahmens dazu hängt übrigens heute über den Kommissionierungstischen der Schindelhauer-Werkstatt, wo die Jungs die Custom-Modelle zusammenstellen.
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