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Markt - Digitalisierung

Was ist Digitalisierung?

Deutschland habe großen Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung, heißt es oft, wenn mal wieder die großen Problemfelder der Wirtschaft benannt werden. Abgehängt sei man, nicht vorbereitet auf die Heraus- und Anforderungen der Zukunft. Doch was genau ist eigentlich damit gemeint, wenn »mangelhafte Digitalisierung« kritisiert wird? Macht es wirklich so einen großen Unterschied, ob man die Rechnungen per E-Mail oder per Post versendet? Welche Themen sind damit sonst noch gemeint? Und was bedeutet das alles ganz konkret für die Fahrradbranche?

Es ist durchaus erstaunlich, dass der Begriff »Digitalisierung« sehr oft nur vage bleibt und keine klaren Bilder in den Köpfen der damit konfrontierten Menschen erzeugt. Die wenigsten könnten klar benennen, was Digitalisierung ist und ausmacht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die verfügbaren Definitionen von Digitalisierung meist eben nicht sehr konkret ausfallen und sehr im Allgemeinen bleiben. Je nach Anwendungsgebiet bedeutet »Digitalisierung« im Wirtschaftsleben etwas anderes als in technischen Zusammenhängen oder im Alltag der Menschen. Wenn also einfach »mehr Digitalisierung« gefordert wird, ohne weitere Ausführung, wo genau der Schuh drückt, ist das einfach wenig konstruktiv und steht im Verdacht, nur ein weiterer Eintrag im großen Wörterbuch der Marketing-Buzzwords zu sein. Angesichts dieser Lage ist es verständlich, dass auch der Handel oft genug keine besonders klaren Vorstellungen davon hat, was das für das eigene Geschäft bedeutet und wie dieses Thema angegangen werden sollte. Weiter verkompliziert wird das Gebiet durch den Umstand, dass es verschiedene Ansatzpunkte für verschiedene Branchen gibt, wenn eine Form von Digitalisierung dann tatsächlich in der Praxis von Unternehmen umgesetzt werden soll.
Doch Digitalisierung ist echt. Sie ist nicht bloß eine abstrakte Idee, sondern eine ganz konkrete Aufgabe mit ganz konkreten Auswirkungen. Sie betrifft praktisch alle Bereiche der Kommunikation mit den Kundinnen und Kunden und der Abläufe zwischen Lieferanten und Handel. Besonders spannend daran ist, dass die Fahrradbranche diesbezüglich in einer ganz eigenständigen Situation ist, die sich von so ziemlich allen anderen Branchen deutlich unterscheidet.
Die vermutlich schönste Erklärung, warum sich die Fahrradbranche viel stärker um das Themenfeld Digitalisierung kümmern sollte, stammt derzeit wohl von Dirk Sexauer, der in der Branche aus seiner Zeit beim VSF bekannt ist und inzwischen bei Dienstleister E-Vendo in Berlin tätig ist. Anhand der Customer Journey eines heutigen Kunden oder einer Kundin lasse sich ideal nachverfolgen, wie heute ein Kaufprozess ablaufe, welche Stationen durchlaufen werden und wie elementar wichtig dabei digitale Elemente sind.

Die große Customer Journey

»Die Grundidee ist eigentlich, die Customer Journey des Kunden zu begleiten. Dabei finden viele Kontaktpunkte statt, bei denen Kunden mit Lieferanten und Händlern in Kontakt treten. Dort müssen immer wieder Daten ausgetauscht werden.« An jeder Stelle müsse der Handel, der in diesem Prozess mitspielen will und genau genommen muss, mit eigenen Lösungen vertreten sein.
Es beginnt damit, dass der Kunde oder die Kundin heute zuerst einmal im Internet schaut, wie der Markt für Fahrräder aussieht. Es ist nicht zwingend der Ort, an dem das Interesse am Fahrrad geweckt wird, und auch nicht zwingend der Ort, an dem gekauft wird, aber dann doch unausweichlich einer der Orte, wo eine vertiefende Recherche erfolgt.
»Eigentlich geht es um die Touchpoints und die Reise, die der Kunde vollzieht, die bruchlos stattfinden soll«, erklärt Sexauer. Er fragte sich, wie diese stattfindet, und was dabei im Hintergrund passiert. »Grundsätzlich ist es so, dass Hersteller und Lieferanten ihre Produkte und Neuheiten über Medien und alle sonstigen Kanäle kommunizieren. Irgendwo in diesem Feld entsteht bei den Empfängern der Gedanke ›ich interessiere mich für Fahrräder‹.« Schon die Erweckung dieses Wunsches ist keine Selbstverständlichkeit und auch kein Selbstläufer, sondern seinerseits eine komplexe Marketingaufgabe, bei der Digitalisierung ebenfalls heute eine wesentliche Rolle spielt, aber noch vorgelagert ist. Sobald der Wunsch geweckt ist, ist der Kunde oder die Kundin auf der Reise hin zum Wunschprodukt. Und auf diese Reise muss die Branche vorbereitet sein, sie auf den verschiedenen Stationen abholen und Kundinnen und Kunden dabei hilfreich unter die Arme greifen.

Größtmögliche Verbindlichkeit

»Entscheidend ist, dass der Kunde in diesem Prozess die Möglichkeit hat, weiterzukommen.« Ganz häufig sei es so, dass man an irgendeiner Stelle das Produkt gezeigt bekommt, aber keine weitere Handlungsoption mehr besteht. Wenn beispielsweise kein »Kaufen«-Button vorhanden ist oder irgendein anderer »Call-to-Action«, also die Aufforderung, etwas zu tun, endet die Reise. »Das Anliegen ist, dass der Kunde den Weg immer zu Ende gehen kann und dabei immer auch in die größtmögliche Verbindlichkeit kommt«, verdeutlicht Sexauer. »Das ist ein ganz wichtiger Schritt dabei.«
Wenn etwa eine Kundin in einem Magazin ein Fahrrad für sich entdeckt hat, geht sie womöglich erst einmal auf die Herstellerwebseite, um dort weitere Informationen zu bekommen. »An dieser Stelle wäre es großartig, wenn über eine Abfrage der Postleitzahl die Kundin sich anzeigen lassen könnte, ob ein Händler in der Nähe das Rad vorrätig hat«, sieht Sexauer einen Anknüpfungpunkt durch Digitalisierung der Handelsprozesse. Derzeit ist meist nur die Abfrage möglich, ob es in der Nähe überhaupt einen Markenhändler gibt.

»Entscheidend ist, dass der Kunde in diesem Prozess die Möglichkeit hat, weiterzukommen.«

Dirk Sexauer, E-Vendo

Wenn auch Long-Tail-Abfragen, also exakte Produktverfügbarkeiten, ausgegeben werden können, bietet dies einen enormen Gewinn für Händler und Hersteller.
Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass die Lieferanten Produktdaten bereitstellen und der Handel diese über die eigenen Systeme einspielen und idealerweise auch gleich die Bestände mit übertragen kann. In den neuesten Warenwirtschaftsversionen können Handelsbetriebe ihre aktuellen Warenbestände sogar wieder an die Lieferanten zurückspielen.
Wenn nun also die Kundin einen Händler mit ihrem Wunschrad finden konnte, eröffnet ihr das vorhandene Tool idealerweise auch gleich die Gelegenheit, eine Probefahrt in den nächsten Tagen zu vereinbaren. Die Prozesse im Hintergrund sorgen dafür, dass zwischenzeitlich verkaufte Räder nicht mehr angezeigt werden, also stets aktuelle Daten verarbeitet werden.
Nachdem eine Probefahrt erfolgt ist, könnte der Umstand eintreten, dass sich die Kundin noch nicht sicher ist, ob sie kaufen soll oder nicht. Sie geht also unverrichteter Dinge, um die Lage mit Freunden, Familie oder sonstigen Fahrradexpertinnen zu diskutieren. Wenn sie dann abends zur Überzeugung gelangt, doch dieses letzte verfügbare Rad in dieser Größe und Ausstattung kaufen zu wollen, kann sie idealerweise direkt, sofort und außerhalb der Öffnungszeiten auf die Händlerwebseite gehen und das Rad reservieren oder gleich kaufen. Gerade bei knappen Verfügbarkeiten, die sich auch abseits von aktuellen Lieferengpässen ergeben können, ist dies eine wertgeschätzte Möglichkeit. So lässt sich die Absprungrate potenzieller Kundschaft auf verschiedenen Ebenen zu verschiedenen Zeitpunkten verringern und der Kauf abschließen.
Durch den erfolgten Datenaustausch verfügen bei entsprechenden Vereinbarungen Händler und Hersteller nach dem Verkauf über die Kontaktdaten der Kundin. Sie kann so informiert werden über weitere Shop-Aktionen, Service-Notwendigkeiten, mit etwas Pech über Rückrufe, mit Glück auch über verfügbare Produkt-Updates.
Ein ähnlicher Ablauf ergibt sich auch bei späteren Zusatzverkäufen. Im Unterschied zu Kompletträdern sind Accessoires und Zubehör weniger komplex im Verkauf. Hier gilt es für den stationären Handel, zum Online-Wettbewerb aufzuschließen. Wenn etwa eine Tasche gesucht würde, sorgt die Kundensuche in Verbindung mit einem regionalen Bezug dafür, dass auch der stationäre Fachhandel zum Zug kommen kann, ohne die Marketingpower der großen Online-Händler und Plattformen zu besitzen. Dies erfolgt eventuell über eigene Plattformen des Handels, wie sie etwa Bikeshops.de oder das e-Vendo-eigene Velocollect bereitstellen oder die verschiedenen anderen Angebote, die es bereits gibt.


Stationärer Handel im Internet – das ist oft eine wenig fruchtbare Beziehung. Mit den heute vorhandenen Möglichkeiten, könnte sich das allerdings in absehbarer Zeit noch ändern.

Digitalisierung hilft auch bei Produkten, die eine Domäne des stationären Handels sind, wie etwa Helme. So könnte sich besagte Kundin dafür entscheiden, einen Helm zu kaufen, aber diesen lieber anprobieren will, statt ihn blind online zu bestellen. Sie findet einen Händler in der Nähe, der das gewünschte Produkt verfügbar hat und will ihn dort anprobieren. Wenn der Helm beispielsweise gut passt, aber doch lieber eine andere Farbe gewünscht wird, die aber nicht verfügbar ist, könnte der Verkäufer oder die Verkäuferin dennoch zum Abschluss kommen: Durch einen kurzen Check könnte er oder sie prüfen, ob das gewünschte Produkt beim Lieferanten verfügbar ist, und wenn dies der Fall ist, der Kundin sogleich anbieten, den Helm jetzt in der Wunschkonfiguration im Laden zu kaufen. Über klassisches Dropshipping lässt sich sodann die Zusage treffen, dass der Helm direkt vom Lieferanten nach Hause zur Kundin geliefert wird, sie also nicht noch einmal den Laden betreten muss, wenn sie nicht will.
Die Voraussetzungen, um solche komplexen Customer Journeys, wie sie bereits alltäglich sind, abbilden zu können, sind heute über verschiedene Schnittstellen bereits gegeben. Die Fähigkeit, sowohl Produktdaten also auch Kundendaten auszutauschen (mit den entsprechenden Datenschutz- und Datenaustauschvereinbarungen), gehört dazu, um die beschriebenen Effekte herzustellen.
Sexauer legt Wert darauf, dass durch gelungene Digitalisierung stets höhere Verbindlichkeit entsteht. »Jetzt den Deal machen«, könnte man das nennen, unter Verkäufern nennt man das auch Abschlussstärke, nun eben in digitaler Form.

Aufschließen zu den Online-Wettbewerbern

Die denkbaren Ergebnisse einer solchen Kunden- und Kundinnenreise sind recht spektakulär. Einmal mehr erweist sich die Fahrradbranche als einzigartig.

»Eigentlich geht es um die Touchpoints und die Reise, die der Kunde vollzieht, die bruchlos stattfinden soll.«

Dirk Sexauer, e-Vendo

Durch ihre Strukturen hat sie die besten Voraussetzungen, die neuen Möglichkeiten, die sich durch Digitalisierung ergeben, im Zusammenspiel von Handel, Herstellern und Dienstleistern optimal zu nutzen. Sie mag spät dran sein mit der Umsetzung, kann nun aber, im Unterschied zu vielen anderen Branchen, die von Onlineplayern überrollt wurden, auf Werkzeuge zurückgreifen, die so noch nicht verfügbar waren, und genaugenommen erst seit Neuestem verfügbar sind. Digitalisierung in dem dargestellten Sinne wäre eine Chance, die Symbiose von Herstellern, Handel und allen anderen beteiligten Parteien zu stärken und auszubauen und dabei gleichzeitig auch eine Antwort auf den wachsenden Online-Handel zu finden, der letztlich genau diese Prozesse ebenfalls optimiert, nur eben unter anderen Vorzeichen. Auch andere »Gefahren« würden damit abgewendet: Die Sorge der Hersteller, einmal von wenigen großen Kunden abhängig zu sein, wäre damit genauso gebannt wie die Gefahr, dass stationäre Läden zu reinen Werkbänken oder Showrooms degradiert werden. Es ist ein dickes Brett, das da gebohrt werden muss, und es wird voraussichtlich Jahre dauern, aber wenn es gelingt, den stationären Fahrradfachhandel wie dargestellt zu digitalisieren, dürfte er sich auf lange Sicht behaupten können. Denn dann ist er mindestens genauso gut, wie alle anderen Vertriebswege, die ihm gerne Marktanteile abnehmen möchten.

7. Oktober 2021 von Daniel Hrkac

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