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Das wird Hamburgs Veloroutennetz. Die Karte zeigt den Ausbau von 2017. Das rote Teilstück an der Alster (Bildmitte) ist inzwischen fertig.
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Report - Hamburg

Autostadt wird Fahrradstadt

In Bamberg und Berlin sind sie bereits beschlossene Sache, in anderen Städten kämpfen Radfahrer mit ähnlichen Initiativen aktuell um deren Durchsetzung: Mobilitätsgesetze, die Radfahrer als zentrales Element in die Verkehrsentwicklung einbeziehen sollen. Das Beispiel von Hamburg zeigt, wie der Umbau von einer Auto- zur Fahrradstadt gelingen kann. Die Juristin und ehemalige ADFC-Landesvorsitzende Kirsten Pfaue koordiniert dort die Verkehrswende.

Entspannter Radfahren geht kaum in Hamburg: In der neuen Fahrradstraße, ein paar Dutzend Schritte von der Alster entfernt, rollen die Radler zur Mittagszeit entspannt nebeneinander her. Morgens und abends zur Rushhour ist das anders. Dann sind sie zügig im Pulk unterwegs und überholen einander auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause. Dabei haben sie stets das Wasser und die Silhouette der Stadt mit ihren Kirchtürmen im Blick. Dieser Abschnitt der Veloroute 4 ist eine der Lieblingsstrecken von Kirsten Pfaue. Die Juristin ist Hamburgs erste Radverkehrskoordinatorin. Sie soll die Hansestadt fahrradfreundlicher machen.
Die Aufgabe ist anspruchsvoll. Hamburg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wie viele andere Großstädte zur Autostadt umgebaut. Die Folgen spürt die Metropole heute. Abgase aus dem Auto- und Schiffsverkehr belasten die Luft, der stetig wachsende Verkehr verursacht Lärm und Staus. Die Flüsse Elbe und Alster begrenzen zudem die Zufahrtsmöglichkeiten ins und innerhalb des Zentrums. Mehr Radverkehr soll nun einen Teil der Probleme lösen.
Bis in die 2020er Jahre soll der Radverkehrsanteil auf 25 Prozent steigen. Hamburg soll Fahrradstadt werden. Das hat 2015 das rot-grüne Regierungsbündnis im Koalitionsvertrag festgelegt. Geld und Personal sind vorhanden. Für den zügigen Umbau ist nun Kirsten Pfaue zuständig. Sie koordiniert den Ausbau der Infrastruktur. Dazu hat sie das Bündnis für Radverkehr gebildet. Alle, die in Hamburg für den Bau von Radinfrastruktur wichtig sind, sind dabei.
Mit den 19 Bündnispartnern hat die Juristin einen Maßnahmenkatalog erarbeitet, um das teils seit Jahren geplante, aber nur zu Bruchteilen realisierte Veloroutennetz bis 2020 fertig zu stellen. Parallel dazu will die Radverkehrskoordinatorin den Service für Radfahrer in den Straßen massiv verbessern. An allen U-und S-Bahnstationen und in den Stadtteilen sollen moderne Abstellanlagen entstehen. Das städtische Fahrradleihsystem StadtRAD wird erweitert und zusätzlich sollen zwei Öffentlichkeitskampagnen zum Radfahren animieren und die Sicherheit der Radfahrer steigern.
»So viel Radverkehrsförderung gab es noch nie in Hamburg. Wir wollen den Radverkehr mit Wucht und Entschlossenheit ausbauen«, sagt Kirsten Pfaue. Zentral ist dabei der Ausbau des Veloroutennetzes. Seine Struktur erinnert an das stadtweite U- und S-Bahnnetz. Wenn es fertig ist, können Alltagsradler auf 14 Strecken und über eine Länge von insgesamt 280 Kilometer sternförmig ins Zentrum radeln. Mehr als 20 Mitarbeiter in den sieben Bezirksämtern, bei der Hamburg Port Authority und dem Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer planen und betreuen zurzeit den Bau der Routen.
Seit 2015 investiert die Stadt rund 13 bis 15 Millionen Euro pro Jahr in den Ausbau der Radinfrastruktur, dazu kommen noch Bundesmittel aus dem Kommunalinvestitionsförderungsgesetz. Mit Bundesmitteln wurde beispielsweise ein 1,6 Kilometer langes Teilstück der Veloroute 4 bezahlt: der Leinpfad.

Widerstand bei Wegfall von Parkplätzen

Winterhude gehört zu den feinen Adressen in Hamburg: Große Villen mit schönen Gärten grenzen hier an den Alsterlauf, einem 56 Kilometer langen Nebenfluss der Elbe. An sie schließt der Leinpfad an. Die Straße wurde erst im vergangenen Jahr zur anliegerfreien Fahrradstraße umgebaut. Das heißt, sie wurde neu asphaltiert, die veralteten Radwege wurden zurückgebaut und sämtliche Einmündungen in den Leinpfad wurden aufgepflastert. Denn der Radverkehr in der Fahrradstraße hat Vorfahrt. Die Autofahrer sollen neben den Schildern auch haptisch die Einfahrt in die Fahrradstraße erkennen.
Radfahrer dürfen im Leinpfad nebeneinander fahren. Es gilt Tempo 30 und Autofahrer sind nur zu Gast. Im Zuge des Umbaus wurden zwar auch Parkbuchten angelegt, aber einige Parkmöglichkeiten sind weggefallen. »Der Aufschrei war groß«, erinnert sich Kirsten Pfaue. Von den 385 Parkmöglichkeiten vor Ort wurden nach Erhebung der Planer nur 260 gebraucht. Die übrigen sollten mit dem Umbau entfallen. Eigentlich. Denn die Stadtbewohner wehrten sich gegen das Vorhaben. »Ich war erstaunt, mit welcher Vehemenz um jeden Parkplatz und die Nichtveränderung gekämpft wurde«, erinnert sich die Juristin. »Schließlich wollen wir alle in einer Stadt leben, wo die Lebensqualität hoch ist, die Straßenräume quirlig sind und in der die Menschen gerne unterwegs sind«, sagt sie.
Aber für Kirsten Pfaue stand auch von Anbeginn fest: Die Weiterentwicklung der Stadt funktioniert nur im engen Austausch mit den Bürgern. Die Juristin kennt sich aus mit Streitschlichtung und weiß, wie Veränderungsprozesse in Gruppen umgesetzt werden können. Deshalb hörte sie sich die Sorgen und Beschwerden der Fußgänger, Autofahrer und Radfahrer an und nahm sie alle gleichermaßen ernst. Der Kompromiss war: 325 Parkplätze blieben erhalten.

Radfahren wird Stadtgespräch

Das war vor zwei Jahren. »Jetzt bekommen wir Rückmeldungen aus der Bevölkerung, wir hätten mehr Parkplätze wegnehmen können. Sie werden nicht gebraucht und der freie Blick auf die Alster sei so schön«, sagt sie. Für sie ist das ein Erfolg. Radverkehr wird zum Stadtgespräch. Die Bürger berichten Nachbarn, Freunden und Bekannten von ihren guten Erfahrungen mit den neuen Fahrradstraßen. Die Auswirkungen spürt die Juristin bereits heute auf öffentlichen Veranstaltungen. Sie sagt: »In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Diskussionskultur verändert.« Der Ton sei freundlicher geworden. »Die Konflikte sind zwar die gleichen, aber die Bereitschaft ist größer, den Perspektivwechsel zu wagen«, sagt sie. Das macht die Umsetzung neuer Bauvorhaben leichter.
Das ist wichtig. Denn ein schneller Wandel drängt. Die Hansestadt hat in den vergangenen Jahren beim ADFC-Fahrradklima-Test wiederholt schlecht abgeschnitten. Bei Kernthemen wie »Stellenwert des Radverkehrs« und »Sicherheit des Radfahrens« haben die Radfahrer ihre Stadt mit einer 4,7, einem Mangelhaft, regelrecht abgewatscht.

Vorbild Amsterdam

Anregungen für den Ausbau holt sich Kirsten Pfaue im Ausland. Ihr Vorbild ist Amsterdam. »Die Größe und die Komplexität der Stadt mit ihren vielen engen Straßenräumen entspricht Hamburg im Nebennetz«, sagt sie. In dem Fahrradmekka teilen sich Autos und Fahrräder seit Jahrzehnten den Platz in Fahrradstraßen. So soll es auch in Hamburg werden. »70 Prozent unseres Veloroutennetzes befindet sich im Nebenstraßennetz«, sagt sie. In den Niederlanden funktioniert das Miteinander gut, weil alle die Regeln kennen. In Hamburg soll eine gezielte Öffentlichkeitskampagne ab Ende des Jahres die Regeln aufzeigen.
Außerdem soll sie das Verkehrsklima in den Straßen verbessern. Das ist nötig. Eine ADAC-Studie im vergangenem Jahr hat gezeigt: Der Ton ist rau in der Hansestadt. »Auf Hamburgs Straßen wird gehupt und gepöbelt«, sagte damals der Vorstandsvorsitzende des ADAC Hansa, Ingo Meyer.
Immer wieder parken Autofahrer auf den Radfahrstreifen, Schutzstreifen und Radwegen. Unter dem Nutzerkonto »Radweg Hindernis(se)« twittert ein Hamburger fast täglich Fotos, die das illustrieren. Sind ihre Wege zugeparkt, müssen Radler in den fließenden Verkehr ausweichen. Senioren, Familien mit Kindern und defensive Radfahrer fühlen sich dann unsicher. Auch hier soll die PR-Kampagne Abhilfe schaffen und für mehr Verständnis und eine wachsende Akzeptanz aller Verkehrsteilnehmer sorgen. »Schließlich sind wir fast alle manchmal Autofahrer, dann wieder Radfahrer oder Fußgänger«, sagt Kirsten Pfaue. Sie ist sicher, dass die Sensibilität wachsen werde – auch bei Autofahrern, die gelegentlich auf Radfahrstreifen parkten. »Notfalls muss da aber auch die Polizei mal durchgreifen«, sagt sie.

Gesonderte Fahrradspuren

Um das Zuparken ihrer Wege zu vermeiden, fordern Fahrradaktivisten und der ADFC sogenannte Protected Bike Lanes. Das sind vom Autoverkehr mit Pollern oder Kanten klar getrennte Fahrspuren. Außerdem wollen sie mit Hilfe der Begrenzungen sichere Wege für Acht- bis Achtzigjährige schaffen. Denn baulich nicht getrennte Radspuren gelten zwar objektiv als sicher, subjektiv fühlen sich dort aber viele Radfahrer unwohl.
Für Kirsten Pfaue bergen die Protected Bike Lanes aber auch einige planerische Schwierigkeiten: Durch die Barriere entfallen Parkplätze am Straßenrand, oftmals müssten Bäume gefällt werden, Überholen werde schwerer, die Reinigung aufwändiger und das Abbiegen erschwert. Deshalb setzt sie auf den Gewöhnungseffekt und Platz bei Radfahrstreifen. »Neue Radinfrastruktur muss ausprobiert werden«, sagt sie. Außerdem werde Infrastruktur stetig weiterentwickelt. »Das Regelmaß für unsere Radfahrstreifen ist 2,25 m - sofern die Örtlichkeiten es zulassen«, erklärt sie. Hinzu kommt die Dooring-Zone. Der sogenannte Sicherheitstrennstreifen soll verhindern, dass Radfahrer mit Autotüren kollidieren.
Allerdings gibt es auch in Hamburg Ausnahmen. Etwa an dem einstigen Unfallschwerpunkt Klosterstern. »Dort haben wir den Radverkehr in den Kreisverkehr verlegt«, sagt Kirsten Pfaue. Fahrradfahrer sind jetzt auf einer eigenen, mit einer kleinen Kante abgesetzten Fahrspur unterwegs. Der Vorteil ist: Die Autofahrer haben die Radfahrer permanent im Blickfeld. Das soll verhindern, dass sie beim Abbiegen übersehen werden, was zuvor leicht passierte. Die Kante soll die subjektive Sicherheit steigern. Für Autofahrer ist mit dem Umbau eine Fahrspur weggefallen.
Bis 2020 soll das Veloroutennetz eigentlich fertig sein. Das werden die Radkoordinatorin, ihr Team und die Bündnispartner jedoch nicht schaffen. Etwa 130 Kilometer sind derzeit fertig, 150 Kilometer müssen noch gebaut werden. Für den Lückenschluss sind bereits 245 Maßnahmen in Planung. »30 Planungsbüros unterstützten uns bei den Baummaßnahmen«, sagt Kirsten Pfaue. »Das Besondere ist, das wir das Netz im Griff haben und zu 100 Prozent im Blick.« Sämtliche geplanten Bauvorhaben werden mit allen Beteiligten von der Polizei über den Denkmalsschutz bis hin zum Umweltschutz abgestimmt. Jetzt müssen sie auf die Straße gebracht werden.
Allerdings geht es Kirsten Pfaue um mehr als den Bau von guter Radinfrastruktur. Sie setzt in Hamburg auf eine moderne, umweltfreundliche Mobilität und eine kluge Verzahnung aller Verkehrsmittel.

Gute Abstellanlagen

Dazu gehören für sie unter anderem gute Abstellanlagen für Fahrräder an den Start- und Zielorten, sowie moderne Bike&Ride-Anlagen an den U- und S-Bahnhaltestellen. Wie die zukünftig aussehen könnten, zeigt die neue Bike&Ride-Anlage, die im Mai im hippen Stadtteil Eimsbüttel an der U-Bahnhaltestelle Hoheluftbrücke eröffnet wurde. Hier haben Pendler die Wahl: Sie können ihre Bikes an Bügeln anschließen, in überdachte Doppelstockparker oder für 90 Euro im Jahr in der Sammelschließanlage abstellen.Aktuell gibt es etwa 20.000 Bike- und Ride-Stellplätze in der Hafenstadt. Bis 2025 soll ihre Zahl auf mindestens 28.000 anwachsen. Pendler, die mit der Schnellbahn und ohne Fahrrad ankommen, können sich dort auch an der integrierten Leihstation ein StadtRAD ausleihen.
Neben den Velorouten sollen langfristig auch Radschnellwege entstehen. Die Hansestadt hat bereits acht Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben. Dabei sind durchaus Pendlerdistanzen mit einer Länge von bis zu 50 Kilometer aus der Metropolregion eingeplant. Dazu gehört etwa die Strecke Lüneburg - Hamburg.
Die Hansestadt hat mit dem Umbau ihres Verkehrsnetzes begonnen. »Es wird keinen Umsturz geben, sondern viele, viele strategische Schritte«, beschreibt Kirsten Pfaue das Vorgehen. Sie bezeichnet sich selbst als ungeduldigen Menschen mit großer Ausdauer: »Bei diesem Projekt ist Langmut gefordert.« Entscheidend für sie ist: »Schlussendlich steigert mehr Radverkehr die Lebensqualität aller Stadtbewohner.« Eine Idee davon bekommen die Pendler morgens, wenn sie auf der neuen Fahrradstraße an der Alster zur Arbeit fahren.

2. Juli 2018 von Andrea Reidl
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