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Der Point-of-Sale verlagert sich
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Report - Umbruch im Vertrieb

Der Point-of-Sale verlagert sich

Der digitale Wandel hat den Fahrradhandel erreicht und stellt einiges auf den Kopf. Wobei sich für Kunden, Hersteller und Händler durchaus Win-win-Konstellationen ergeben. Wir haben uns umgeschaut, was der Kunde will und wo die Branche steht.

»Was ist eigentlich aus dem Fachhandel für Kinderspielzeug geworden?« Diese rhetorisch gemeinte Frage stellte Puky-Geschäftsführer Mathias Heller vor rund zwei Jahren auf einer Veranstaltung des Thinktanks BikeBrainpool zum Thema Digitale Transformation. Die richtige Antwort lautet: einfach verschwunden aus den Innenstädten. Auch der Fachmarktbetreiber Toys R Us ist mittlerweile insolvent und hat alle 800 Filialen in den Vereinigten Staaten geschlossen. Die Gründe liegen auf der Hand: Unverderbliche Produkte, die sich in handliche Kartons verpacken lassen, weder anprobiert, noch aufwändig zusammengebaut werden müssen und kaum Beratungsbedarf erfordern, sind geradezu prädestiniert für den reinen Online-Handel. Und die Kaufentscheidung? Die findet durch geschicktes Marketing über alle Kanäle längst auch nicht mehr primär durch die Eltern statt. Die logische Schlussfolgerung des Puky-Chefs: Die alten Handelskonzepte greifen nicht mehr und bedürfen eines Updates.
Kunden fühlen sich heute in der Online-Welt heimisch. »Früher galt der Kaufprozess Händler-Produkt-Kasse, heute hingehen steht bei allen Kaufentscheiden erst die Wahl des Produkts und dann erst des Händlers im Vordergrund«, sagt der Omni-Channel- und Local-Commerce-Experte Andreas Haderlein. »Einzelhandel nach Schema F hat definitiv ausgedient«, stellt er dazu auch in seinem Buch »Die digitale Zukunft des stationären Handels: auf allen Kanälen zum Kunden« fest.

Handel bedeutet Wandel – auch beim Fahrrad

»Wichtig ist, dass die Industrie und der Handel alle Möglichkeiten des Zugangs zum Produkt abdecken«, antwortet Dirk Kurek-Komenda auf die Frage, worauf sich Hersteller und Händler einstellen müssen. Als Schweizer Fahrradanbieter und Mitgründer des Startups Veloplace hat sich Kurek-Komenda die Stärkung des lokalen Handels durch Internettechnologien auf die Fahne geschrieben. »Es gibt dabei kein Gut und Böse, es gibt nur Verkaufskanäle.« Diese hätten sich bereits seit langem verändert. »Wer heute als stationärer Handel kein Online Business macht, schöpft sein Potential nicht mehr annähernd aus«, so der CEO der Komenda AG. Ein erfolgreicher Händler mache heute 30 Prozent seines Geschäfts online. Im Umkehrschluss hieße das aber nicht, dass es in Zukunft nur noch den Online-Handel geben würde. Ganz im Gegenteil habe der stationäre Handel durch die räumliche Nähe zum Kunden große Wettbewerbsvorteile, aber auch durch seinen Service und das Vertrauen, das ihm die Kunden entgegenbrächten.
Sprachlich etwas verschwurbelt, aber im Kern ganz ähnlich beschreibt auch das renommierte Zukunftsinstitut in seinem Retail Report 2018 die neue Rolle des Einzelhandels: »Zukunftsfähige Strategien, um im Zeitalter des Human Retail erfolgreich zu sein: den Store nicht mehr als Verkaufsort begreifen, sondern als kreativen Lebensraum, Super-Services anbieten und ein achtsames, authentisches Retail-Konzept leben.« Bei vielen Verbrauchern dürften solche Konzepte im Fahrradhandel auf große Zustimmung stoßen, denn nicht jeder lässt sich gerne sein neues Fahrrad nach Hause oder ins Büro liefern oder legt beim Zusammenbau und der korrekten Einstellung selbst Hand an.
Beispiele, wie der Elektronikriese Mediamarkt, bei dem der Anteil von Click and Collect am Online-Business, also die Zusammenstellung im Internet und die Abholung im Laden, bereits bei 40 Prozent liegt, zeigen, wie groß der Kundenbedarf hier ist. Gut für den Kunden: Er muss bei der Lieferung nicht zuhause sein, spart bei den Versandkosten und bekommt im besten Fall noch zusätzliche Services durch den Händler geboten. Vorteile, die auch und gerade Fahrradläden für sich nutzen können und das heute auch schon aktiv tun.

Hersteller setzen auf Schulterschluss mit dem Handel

Aktuell arbeiten bereits einige Markenhersteller und Technologieanbieter wie Veloplace oder Bidex BikeLocal an Tools zur Verbesserung der digitalen Zusammenarbeit von Händlern und Herstellern und somit des Kauferlebnisses. Ihr gemeinsames Ziel: Den Kunden da abzuholen, wo er sich befindet – im Internet - und ihm dort ein Rad zu verkaufen oder ihn zumindest zu überzeugen und direkt zu einem Händler in der Nähe zu führen, der das gewünschte Rad oder Zubehörteil vorrätig hat. Schaut man beispielsweise auf die Automobilbranche, so sieht man, dass solche Strategien keineswegs ein Luxus, sondern längst (über-)lebenswichtig geworden sind: 80 Prozent der Neuwagenkäufer nutzen laut DAT-Report 2018 das Internet zur Informationsbeschaffung, über die Hälfte die angebotenen Konfiguratoren zur Zusammenstellung ihres Wunschautos, wobei die Daten heute praktischerweise direkt an den Händler in der Nähe zwecks Beratung und Kaufabschluss übergeben werden können.
»Zur Customer Journey stellen wir fest, dass die Entscheidungen gerade im Performance-Bereich zunehmend online verlaufen«, erklärt Michael Sommer, Verkaufsdirektor bei Pon-Bike im Gespräch. Für die Zukunft käme es entsprechend darauf an, ein positives digitales Erlebnis zu schaffen. »Wir sehen, dass sich das Beratungsverhalten verändert hat. Kunden informieren sich immer mehr online. Deshalb bauen wir hier auch unser Angebot weiter aus. Zum Beispiel mit Videos, Ratgebern zur richtigen Größe, Bikefitting-Konzepten etc.. Darüber hinaus wollen die Kunden aber auch noch persönlich beraten werden und kommen gerne weiterhin in den Laden.«
Bei Pon-Bike stehe man dem neuen Vertriebsweg »Kaufabschluss online und Übergabe und Service durch den Fachhandel« sehr positiv gegenüber, wie Michael Sommer betont. »In diesem Jahr haben wir bei unserer sportiven Marke Focus einen neuen Vertriebsweg gestartet und waren von der Resonanz im Handel sehr positiv überrascht. Vom Start weg haben wir in Deutschland ein flächendeckendes Händlernetz von über 100 Fachhändlern, die im Bereich Online-Sales mit uns zusammenarbeiten.«
Auch bei einem weiteren Branchenriesen, der niederländischen Accell-Gruppe, beschäftigt man sich intensiv mit dem Internet und neuen Omni-Channel-Strategien – und auch hier hat man die enge Zusammenarbeit mit dem Fachhandel als erfolgskritischen Faktor erkannt: »Im Laufe dieses Jahres beginnen wir mit dem Rollout in den ersten Ländern«, so der neue Accell-CEO Ton Anbeek im März diesen Jahres gegenüber dem Fachmagazin Bike Europe. »Wir wollen dem Verbraucher die bestmögliche Erfahrung bieten und dies gemeinsam mit den Händlern tun.«

Das Internet kann nicht mehr ignoriert werden

Nach den Erfahrungen von Veloplace ist es erfolgskritisch, das bevorzugte Kaufverhalten des Endkunden in den Vordergrund zu stellen, nicht den Vertriebsweg. »Der Kunde unterscheidet nicht zwischen On- oder Offline. Er entscheidet nach Kriterien wie Preis, Verfügbarkeit, Convenience und Service«, erklärt Dirk Kurek-Komenda. Um erfolgreich zu sein, müssten diese Dimension nach individuellem Kundenbedarf abgedeckt werden. »Erfolgskritisch« kann man in diesem Zusammenhang in heutigen Zeiten sicher auch durch »überlebenswichtig« ersetzen. Denn ein Internetauftritt, der gegenüber der Konkurrenz abfällt, wirft ein schlechtes Bild auf die Marke und treibt den Kunden Online-Versendern wie Canyon, Rose Bikes, Radon und vielen anderen, die hier die Nase vorn haben und immer erfolgreicher werden, direkt in die Arme. Und auch die bleiben nicht auf ewig in der virtuellen Welt, wie Rose Bikes mit seinen Flagship-Stores oder das Beispiel Fahrrad.de (Internetstores) zeigen. Zwei lokale »Fahrrad.de Stores« gibt es bereits in Stuttgart und Berlin-Steglitz, zwei weitere sollen in Kürze in Berlin und Düsseldorf eröffnet werden.

Willkommen auf der digitalen Kundenrutsche

Fahrradhändler müssen sich fit machen für den digitalen Wandel und dazu gibt es inzwischen eine ganze Reihe von sinnvollen Tools. So kann mit der E-Commerce-Cloudlösung BikeLocal des Online-Solution-Experten Bidex die Warenverfügbarkeit eines stationären Fachhändlers in digitalen Umgebungen, wie zum Beispiel der Website einer Fahrradmarke, dargestellt werden. Für Thomas Schwerdtner, Projektleiter bei Bidex, eine »digitale Kundenrutsche«, die Online-Kunden direkt in den lokalen Handel bringe. »Das übliche Händlerverzeichnis auf der Markenhomepage hilft den Kunden ja nicht wirklich weiter. Damit weiß er immer noch nicht, ob der gefundene Händler das gewünschte Produkt im Programm und gerade auf Lager hat. Mit Bidex BikeLocal haben die Endverbraucher endlich die Möglichkeit, direkt auf der Homepage des Herstellers zu sehen, wo sie das gewünschte Produkt ansehen, probieren und sofort kaufen können.« Viele Hersteller und Händler hätten das Potential sehr schnell erkannt. »Obwohl BikeLocal erstmals im Juli des letzten Jahres auf den Winora ­DealerDays vorgestellt wurde, ist es bereits zum Branchenstandard geworden«, so Schwerdtner. Zu den Marken, die aktuell entsprechende Lösungen mit BikeLocal umsetzen, gehören zum Beispiel Batavus, eBike-Manufaktur, Falter, Green´s, Haibike, Kreidler, ­Morrison, KTM, Rabeneik, VSF-Fahrradmanufaktur und Winora.
Die Vorteile für den Händler: Er könne sich direkt auf der sehr stark frequentierten Markenhomepage nochmal sichtbar und Kunden auf sich aufmerksam machen. Zudem könne der Online-Shop des Fachhandels­partners (falls vorhanden) durch das System unterstützt werden.

Der Fachhandel bleibt ­unverzichtbar

»Service-Themen online abzuwickeln, ist kaum möglich«, sagt Michael Sommer zu den Erfahrungen von Pon-Bike, die den Bereich Online-Sales in diesem Jahr als Lernphase in Deutschland sehen. Dazu käme, dass die ­Produkte immer komplexer würden. »Deshalb wird der stationäre Fach­handel unserer Meinung nach auch in Zukunft immer eine wichtige Rolle spielen.« Im Fachhandel würden damit aktuell offene Türen eingerannt. Der Händler freue sich über einen neuen Vertriebskanal und müsse umgekehrt keine Ware für den Verkauf vorrätig halten. »Im Hinblick auf den Platz und das Sortiment im Laden sowie die Finanzierung ein ­großer Vorteil.«
Die Daseinsberechtigung des Fachhandels ist auch laut Dirk Kurek-Komenda von Veloplace »stärker denn je, was Nähe, Vertrauen und Service betrifft«. Aber das müsse der Handel in seiner Positionierung auch deutlich herausheben. Von der Resonanz im Schweizer Markt auf Veloplace zeigt man sich hier positiv überrascht. Alle wichtigen Großhändler in der Schweiz seien sofort begeistert gewesen. Zurzeit habe man 60 Händler, die mitmachen, sowie zahlreiche Anmeldungen.
Übrigens: Auch Puky macht inzwischen mit beim Thema Online-Business und bezieht den Fachhandel als Partner aktiv mit ein. Den digitalen Wandel auszusitzen oder einfach zu verweigern ist, das zeigen die aktuellen Entwicklungen auch in der Fahrrad­branche, wohl keine gute Lösung. Auch wenn einige Hersteller und Händler die intensivere Beschäftigung mit dem Thema und den dahinterliegenden Arbeitsaufwand noch scheuen.

2. Juli 2018 von Reiner Kolberg
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