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Amsterdam braucht einen Plan B
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Report - Radverkehr

Amsterdam braucht einen Plan B

Amsterdam gilt als Paradebeispiel für erfolgreiche Radverkehrspolitik schlechthin. Doch rasantes Wachstum und Platzprobleme fordern in dieser etablierten Fahrradstadt neue Kon­zepte, um den Autoverkehr weiter zu reduzieren.

Rushhour am Bahnhof Amsterdam. Auf dem breiten Radweg auf der Kaistraße »De Ruijterkade« sausen die Pendler auf Fahrrädern, Rollern und kleinen E-Autos, die 25 km/h fahren dürfen, zügig aneinander vorbei. Der dichte Pulk erinnert an einen riesigen Schwarm von Staren, deren Flug­manöver perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wer im Norden der Stadt arbeitet, biegt am Bahnhof mit seinem Rad direkt auf eine der Fähren ab; wer ins Zentrum will, fährt in die entgegengesetzte Richtung durch den weiten, hellen Fahrradtunnel Richtung Innenstadt und wer mit dem Zug ­weiter muss, stellt sein Rad in einem von tausenden Stellplätzen auf den schwimmenden Parkdecks ab, die hier Fietsplatform heißen.
Die rund 11.000 Stellplätze sind heiß begehrt und immer öfter reichen sie nicht aus. Obwohl die Amsterdamer Stadtverwaltung ihre Radinfrastruktur weiterhin massiv ausbaut, wird es langsam eng im Fahrrad-Paradies. Der Platz wird knapp – zum Fahren und zum Parken – und auch die Luft wird immer schlechter, wie in vielen Metropolen der Welt. Die Stadt sucht deshalb nach Alternativen, um den Autoverkehr auf den Straßen weiter zu reduzieren und noch mehr Menschen aufs Rad zu bringen. Eine wichtige Rolle spielt dabei Katelijne Boerma, die Fahrradbürgermeisterin von Amsterdam.
»Amsterdam ist natürlich eine Fahrradstadt, aber auch hier wohnen sehr viele Menschen, die noch nicht rad­fahren«, sagt Katelijne Boerma. Die Gründe sind vielfältig. 180 verschiedene Nationalitäten leben in der niederländischen Metropole. Manche der Zugezogenen haben nie Radfahren gelernt oder durften es aus kulturellen Gründen in ihrer Heimat nicht. Zudem gibt es auch in Amsterdam Stadt­bewohner, die lieber mit dem Auto unterwegs sind. Sie und alle übrigen Nichtradler will die Fahrrad­bür­ger­meisterin, die hauptberuflich Sportwissenschaften an der Hogeschool van Amsterdam unterrichtet, in den Sattel bringen. Dafür setzt sie in erster Linie auf die jüngere Generation: Junior-Fahrradbürgermeister sollen die acht- bis 13-Jährigen fürs Radfahren begeistern.
Wenn die Kinder unbedingt Radfahren wollen, machen die Eltern automatisch mit, davon ist sie überzeugt. Deshalb sucht sie Kinder und Jugendliche bis 13 Jahren, die in ihrer Schule fürs Radfahren werben. Mit dieser Idee hat sie sich vergangenes Jahr für den ehrenamtlichen Job der Fahrrad­bürgermeisterin beworben. Den Job hat die niederländische Nichtregierungs-Organisation BYCS vergeben, die unter anderem das weltweite Fahrrad-Bürgermeisterprogramm (Bicycle Mayors) initiiert hat. Eines ihrer Ziele ist: Bis 2030 sollen 50 Prozent aller Fahrten mit dem Fahrrad durchgeführt werden, in jeder Stadt der Welt.
In Amsterdam erledigen die Stadtbewohner bereits 36 Prozent all ihrer Fahrten mit dem Fahrrad – im Zentrum sogar um die 50 Prozent. »Aber auch hier bringen immer mehr Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule«, stellt die Fahrradbürgermeisterin fest. Obwohl die Grundschulen in Amsterdam maximal anderthalb Kilometer vom Wohnort entfernt sind. »Aber die Straßen sind so überfüllt, dass sie es nicht sicher finden, wenn ihre Kinder alleine ­fahren«, sagt sie.
Das hat einen Grund: Amsterdam wächst rasant. Die niederländische Metropole ist zwar im internationalen Vergleich mit ihren rund 850.000 Einwohnern vergleichsweise klein, aber sie erlebt seit Mitte der 80er Jahre einen regelrechten Boom. 1985 lebten in der Stadt an der Amstel gerade mal 680.000 Menschen. Vor sechs Jahren waren es 800.000. Allein in den vergangenen sechs Jahren sind also 50.000 neue Bewohner dazu gekommen. Jetzt sollen im Westen der Stadt 50.000 bis 70.000 neue Wohnungen gebaut werden. »Die Menschen, die dort hinziehen, können nicht alle ihr Auto mitbringen«, stellt Katelijne Boerma fest.

Schlechte Luft in ­Amsterdam

Obwohl in Amsterdam bereits so viele Radfahrer wie in kaum einer anderen Großstadt unterwegs sind, ist die Luft dort oft schlecht. Als Hauptursache wird der starke Autoverkehr ausgemacht. Die Umweltorganisation Milieudefensie hat bereits 2016 in Messungen gezeigt, dass die EU-Grenzwerte von 40,5 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter an vier Straßen überschritten wurden. An einer von ihnen wurde sogar der höchste Wert im ganzen Land erreicht. Die Stadt will jetzt einschreiten, denn das Niederländische Büro für wirtschaftspolitische Analyse (Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis) hat in einer Prognose festgestellt: Bis 2050 wird der Anteil der individuellen Mobilität in den ­Niederlanden um 23 bis 50 Prozent ansteigen. Nun will die Stadt erreichten, dass der Großteil dieser Strecken möglichst ohne Auto zurückgelegt werden wird.

Mobility as a service

Um Sharing-Angebote und den Öffentlichen Nahverkehr für Pendler attraktiver zu gestalten, testen die Verantwortlichen der Stadt zurzeit einige neue Ideen. Um beispielsweise gezielt Pendler mit großen Dienstwagen zum Umsteigen bewegen, wurde im wichtigsten Finanzbezirk der Niederlande, dem Zuidas in Amsterdam, mit prestigeträchtigen Unternehmen ein Pilotprojekt gestartet. 88 Mitarbeiter verschiedener einflussreicher Unternehmen haben dort einen Monat lang ihren Dienstwagen gegen ein Mobilitätsbudget von 1000 Euro getauscht. Statt mit dem Dienstwagen, der rund 1500 Euro im Monat kostet, sind sie multimodal unterwegs gewesen – also per Bus, Taxi, Fahrrad, Scooter oder mit anderen Angeboten. Anfangs fanden die Teilnehmer das noch ungewohnt, aber zum Projektende hin gab jeder zweite von ihnen an, er würde das Mobilitätsbudget gegen den Dienstwagen tauschen wollen.
Nun will die Stadt Amsterdam das Mobilitätsbudget in eine App für »Mobility as a Service« überführen. Diese soll dem Nutzer nicht nur das nachhaltigste Verkehrsmittel von A nach B vorschlagen, sondern bei der Auswahl auch stets die Vorlieben des Nutzers berücksichtigen. Bezahlt wird jeder Trip per App. Das ist der Stadt wichtig: Mobilität ohne Auto soll einfach sein und Spaß machen. Nach einer Einführungsphase soll die App auch in den übrigen Niederlanden erhältlich sein.
Wenn es nach den Plänen von Katelijne Boerma geht, verzichten die Kinder und Jugendlichen von heute später als Erwachsene freiwillig auf das Auto in der Stadt. Sie ist heute jeden Tag mit ihren Kindern mit dem Fahrrad unterwegs. Eines sitzt hinten im Kindersitz, das andere vorne. »Wir müssen stärker darüber nachdenken, was wir der neuen Generation vermitteln. Gewöhnen wir sie ans Auto oder wollen wir weniger Autoverkehr haben und dafür lebenswertere Städte mit viel Rad- und Fußverkehr?«
Um Kindern und Jugendlichen die Entscheidung fürs Fahrrad jetzt und später leichter zu machen, will sie sie bereits heute stärker in die Entscheidungen einbeziehen. »125 000 Kinder unter 14 Jahren leben in Amsterdam«, sagt sie.
»Sie haben einen ganz anderen Blick auf die Stadt und den Verkehr.« Für ihr Projekt »Junior Fahrradbürgermeister« hat sie die Grundschulen angeschrieben und die Kinder aufgefordert, zu überlegen, wie Radfahren in Amsterdam für Kinder besser und sicherer werden kann. 80 Vorschläge kamen zurück. Gewonnen hat die achtjährige Lotta, die sich jetzt Junior-Fahrradbürgermeisterin nennen darf. Ihr Vorschlag lautete, dass die niederlän­dische Leihrad-Flotte OV durch Kinderfahrräder und Tandems ergänzt werde. Mit Katelijne Boerma und einem Vertreter der OV-Flotte wird sie ihre Idee besprechen.
Als Beifahrer auf einem Tandem mitzufahren, das wünscht sich auch manch Erwachsener, der das erste Mal in Amsterdam mit dem Rad unterwegs ist. Denn neben den vielen Radfahrern sind hier auch weiterhin viele Autofahrer unterwegs. Allerdings kommen sie in der Stadt deutlich langsamer ans Ziel als Radfahrer. Die vielen Einbahnstraßen und Tempo-30-Zonen bremsen Pkws buchstäblich aus. Das ist gewollt. Die Stadt will den Autoverkehr reduzieren, deshalb macht sie das Autofahren unbequem und teuer. Die Parkgebühren in Amsterdam gehören zu den höchsten im europäischen Vergleich. Im Zentrum kostet eine Stunde Parken durchschnittlich fünf Euro, die neue Stadtregierung will sie weiter auf 7,50 Euro anheben. Für einen Anwohnerparkausweis zahlen die Bewohner hier 535 Euro im Jahr. Dagegen leben Autobesitzer in Berlin wie im Paradies. Dort kostet das Parken durchschnittlich drei Euro pro Stunde und ein Anwohnerparkausweis ist mit zehn Euro im Jahr unschlagbar günstig.

Elektrisch unterwegs an der Gracht

Während die Stadt versucht, das Autofahren im Zentrum möglichst unattraktiv zu gestalten, fördert sie den Umstieg auf E-Mobilität. Denn Amsterdam will »Green City« werden und Vorreiter bei der E-Mobilität. Während sich Deutschland noch immer schwertut, die E-Mobilität voranzubringen und auch der Ausbau der Ladeinfrastruktur eher schleppend vorangeht, stoßen Besucher beim Bummeln entlang der Grachten heute bereits regelmäßig auf Ladesäulen in Parkbuchten.
Inzwischen befinden sich mehr als 2400 Ladesäulen im Stadtgebiet und täglich werden weitere aufgestellt. Wer ein Elektroauto kauft, kann den Aufbau einer Ladesäule in seiner Nachbarschaft beantragen. Bis Ende 2019 soll es 4000 Ladesäulen in Amsterdam geben. Ein weiterer Anreiz für die Bewohner der Innenstadt ist: Wer ein Elektrofahrzeug kauft, kommt nicht nur schneller an einen Anwohner-Parkausweis, in den kommenden Jahren will die neue Grün-Links-Regierung im Rathaus zudem bis zu zehntausend Parkplätze für herkömmliche PKW entlang der Kanäle entfernen.

Radschnellwege ins Zentrum

Aber nicht nur E-Autos sind im Trend, auch E-Bikes boomen und spielen eine wichtige Rolle im Mobilitätsplan der Stadt. Ein Netz von breiten und schnellen Radwegen rund um Amsterdam soll in den kommenden Jahren mehr Pendler aus dem Auto locken. Die Aussichten, dass das klappt, sind gut. Denn rund um Amsterdam staut sich zur Rushhour regelmäßig der Verkehr über Dutzende von Kilometern. Der geplante Bau von 250.000 Wohnungen im Einzugsgebiet von Amsterdam wird dieses Problem noch verschärfen. Bis 2020 will die Region Amsterdam City deshalb 30 Millionen Euro investieren, um die bestehenden Radwege zu verbessern und fehlende Verbindungen rund um die Stadt aufzubauen. Bis zu 20 Kilometer weite Strecken sollen die Pendler dann per E-Bikes zurücklegen.
Für Katelijne Boerma ist das der richtige Weg. »Diese Strecken fahren die Leute nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit, aber mit dem E-Bike«, sagt sie. Sie hofft, dass die großen Unternehmen ihren Mitarbeitern dann ein E-Bike zur Verfügung stellen und eine Dusche. Im besten Fall auch noch einen Service, um Hemden zu bügeln. Dann gebe es keine Ausreden mehr, nicht Rad zu fahren.

10. Dezember 2018 von Andrea Reidl
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