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Wertarbeit im Hochlohnland
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Portrait - Ridley

Wertarbeit im Hochlohnland

Mit den Marken Ridley und Eddy Merckx hat die Belgian Cycling Factory einen klaren Fokus auf den Sport gesetzt. Die Produkte überzeugen – und Gründer Jochim Aerts glaubt, dass er gerade als Nischenanbieter im dynamischen Markt gute Chancen hat.

Als der regennasse, kalte Tag in den Ardennen den Körper schon ordentlich beansprucht hat, lässt sich die Kunst der Ingenieure erfahren. Ein schnelles, aerodynamisches Rad – davon schwärmt das Marketing in der Branche gerne. Doch dieses Gefährt, das der Autor auf der Klassikerstrecke von Lüttich-Bastogne-Lüttich erstmalig testet, passt gut zur Story, die die Ingenieure am Tag zuvor über die aufwendige, langjährige Entwicklungsarbeit vorgetragen hatten. Dieses Rennrad von Ridley, das Noah Fast Disc in der Top-Ausstattung, wirkt eine Stufe schneller als die meisten Konkurrenzprodukte. Man merkt ihm an, dass es ein Top-Produkt ist – nicht zuletzt auch von TOUR im Januar zum besten Aero-Renner gekürt.
Das Testrad gehört zu den aufsehenerregenden Produkten, mit denen die Belgian Cycling Factory derzeit bei anspruchsvollen Rennradfans für Furore sorgt. Mit einem Preis von knapp 9.000 Euro in der Topausstattung ist das Noah Fast Disc eines der elitärsten Produkte aus der Fertigung im belgischen Paal-Beringen. Seit vielen Jahren gilt das 1997 von Jochim Aerts gegründete Unternehmen als qualitätsorientierter, eigenständiger und entwicklungsstarker Anbieter im Sportsegment. Seit das Unternehmen 2017 die renommierte, aber herabgewirtschaftete Marke Eddy Merckx übernahm, firmiert es unter dem Titel Belgian Cycling Factory – und Ridley ist weiterhin das seit mehr als zwei Jahrzehnten etablierte Aushängeschild mit gutem Ruf in vielen Märkten. »Wir sind ein kleines, schnelles Unternehmen in einem sich dynamisch entwickelnden globalen Markt«, sagt Jochim Aerts – er sieht diese Agilität des Spezialisten aus der Nische durchaus als Vorteil. Die Welt schaut im Juli, zum Start der Tour de France, nach Belgien – und damit auch auf dieses Unternehmen, das im belgischen Radsportmarkt eine besondere Rolle hat.

Fast ausschließlich Sportfahrräder

Wer den Sitz der Belgian Cycling Factory in einem flämischen Städtchen besucht, trifft auf ein außen schmuckloses, aber Solidität ausstrahlendes Gewerbegebäude. Das hier ist Mittelstand, das Geschäft läuft, die Dinge sind geordnet und auf Vordermann – das kann man sehen. Aber man sieht auch, dass das Haus organisch gewachsen ist, dass sich der Erfolg des Unternehmens auf dem Gelände immer neue Wege sucht. Der Showroom im ersten Stock bietet einen Überblick über die Produktpalette und lässt keinen Zweifel aufkommen: Hier geht es fast ausschließlich um Sportfahrräder – und am meisten um Rennräder. Natürlich bietet auch Ridley motorisierte Modelle – allerdings allesamt hochwertige Mountainbikes und Straßenrennräder. Eine Ausweitung dieses Sortiments steht nicht bevor, auch wenn der Markt gerade von den Wundern der E-Bikes schwärmt.
Die Geschichte dieses Unternehmens begann vor knapp 30 Jahren – und sie begann tatsächlich in der Garage der Familie Aerts. Dort schweißte Jochim Custom-Stahl-Rahmen für die Marke Bioracer zusammen, die damals noch Fahrräder auf Maß fertigte. So begann seine berufliche Laufbahn zunächst als Subunternehmen für die Firma, in der sein älterer Bruder für das Kleidungsgeschäft zuständig war. Dabei hatte Aerts eigentlich den Beruf des Elektroingenieurs erlernt, aber die Verankerung in der Rennradszene und das Netzwerk in dieser radverrückten Region befeuerten einen anderen Werdegang. Nachdem Bioracer sich dazu entschlossen hatte, die Rahmen im eigenen Haus herzustellen, wechselte Aerts zunächst in die Rolle des Lackierers für verschiedene Kunden aus der Radindustrie. 1997 entschied sich der Unternehmer dann, Kompletthersteller von Rädern zu werden – sein größter Kunde hatte da gerade die Lackierung in eine eigene Anlage verlegt. So wagte Aerts den Schritt in den Markt – auf solidem Fundament und mit viel Wissen über Rahmenbau und Lackierung. Statt Massenware setzte Aerts auf »Made to order«, also gesonderte Produktion auf Bestellung, und Individualisierung des Produkts. »Auch zwei Jahrzehnte später ist das immer noch ein wichtiges Thema«, sagt der Unternehmer, »denn die heutigen Kunden sind sehr gut informiert und wissen genau, was sie von einem Sportfahrrad erwarten.«
Es ist nicht mal ein Jahrzehnt her, da schweißte und lackierte der Chef noch selbst. Diese Zeiten sind in dem international aufgestellten Multi-Brand-Unternehmen zwar vorbei, aber man merkt der Belgian Cycling Factory an, dass hier viele schon einmal Hand angelegt haben und sich mit der Produktion auskennen. Und man kann auch leicht erkennen, dass sie hier stolz sind auf gute Handarbeit. Hier im Werk in Paal-Beringen lackieren sie noch immer und montieren auch all jene Räder, bei denen die Kunden die Möglichkeiten zur Customization nutzen. Die Rahmen aus Asien werden also tatsächlich im zweitteuersten Land der EU zu fertigen Rädern, sofern es individuelle Anpassungen gibt. Die günstigere Stangenware kommt übrigens aus einem Werk in Moldawien.

Das Unternehmen setzt auf Menschen mit Behinderungen

Viel manuelle Arbeit, viel menschliche Kompetenz, wenig Digitales. Die erfahrenen Mitarbeiter schleifen unter Lärm den Schutzlack auf den Rahmen ab und kontrollieren, ob es Verformungen an den Carbonschichten gibt. Nebenan inspiziert ein Mitarbeiter jeden einzelnen Rahmen, der das Haus verlassen soll, mit geschultem Blick. Eine Tür weiter liegt die Lackiererei, wo die Wünsche der Kunden nach eigenen Mustern auf den Rahmen umgesetzt werden. Was klingt wie eine Routinearbeit, ist hoher Aufwand. Für jede zusätzliche Farbschicht muss der Rahmen neu verpackt werden, ehe der Lack aufgebracht und dann getrocknet wird. Es kann auch mal zwei Tage dauern, bis das fertige Rad die Lackiererei verlassen hat. Etwa 100 Rahmensets schaffen die Mitarbeiterinnen hier aber an einem normalen Arbeitstag – darunter sind auch Produkte anderer Kunden. Nebenan kontrollieren wiederum Mitarbeiterinnen die Qualität der Rahmen, ehe die Produkte entweder zum Kunden gehen oder als Kompletträder im Erdgeschoss der belgischen Fabrik zusammengebaut werden. Bei der Kommissionierung, aber auch bei der Montage setzt Ridley auch auf Menschen mit Benachteiligungen, etwa Behinderungen und Lernschwierigkeiten, die über ein soziales Programm in den Arbeitsmarkt kommen. Das Auffällige an der Produktion: Jeder Monteur ist vollständig für das jeweilige Rad zuständig – und etliche der Mitarbeiter haben Erfahrung als Zweiradmechaniker oder gar im Einsatz für Profiteams gesammelt.
Die Firma betont diese gewachsene Nähe zum Sport – und sieht darin ein Argument für sich als treibende Kraft für Innovationen im Markt. »Wir haben so viel Wissen über Geometrie aufgebaut, das zahlt sich aus, und wir haben seit 2005 mit Top-Profis zusammengearbeitet, das schlägt sich auf die Entwicklung nieder«, betont Jochim Aerts. Bei der Inhouse-Entwicklung und dem Testen der eigenen Produkte im Windkanal hat die Belgian Cycling Factory heute einen sehr guten Ruf. Der Stundenweltrekord, aufgestellt im April in Mexiko auf einem bei Ridley entwickelten Rad, passt bestens in diese Story. Unweit der Firmenzentrale steht auch das »Bike Valley«, ein Inkubator mit Firmen unterschiedlicher Disziplinen, die Innovationen in die Radentwicklung bringen sollen. Aerts und seine Firma gehören zu den Gründern – und profitieren auch von dem Windkanal, der dort für wissenschaftliche bewährte Tests eingerichtet ist. Doch neben all dem eigenen Ideenreichtum nennt Aerts noch einen weiteren, kritischen Aspekt für die Qualität der fertigen Gefährte: »Man sollte nicht unterschätzen, dass wir einer der besten OEM-Kunden in Asien sind, wenn es um den Bau von Rädern geht.« Man hat gewachsene Beziehungen, hat den eigenen Qualitätsanspruch zementiert und arbeitet nach eigenem Bekunden mit drei der Top-6-Zulieferer in Fernost zusammen.

Aerts möchte die Kapazität mindestens verdoppeln

So schick und qualitativ hochwertig die Räder von Ridley heute daherkommen, so sehr muss sich das Unternehmen aber doch im globalen Wettbewerb behaupten. Etwa 30.000 Rahmen lässt die Belgian Cycling Factory im Jahr herstellen, im weltweiten Maßstab ist sie damit klein. Zum Vergleich: Canyon, der deutsche Aufmischer der Branche, verkaufte zuletzt 100.000 Räder – Tendenz steigend. Natürlich muss auch Ridley deshalb hart an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeiten. Firmenchef Aerts möchte die Kapazität seiner belgischen Fabrik von derzeit 120 bis 130 Custom-Rädern auf 400 bis 500 am Tag steigern, mindestens aber verdoppeln. Das Individualisieren der hochklassigen Produkte gilt in der Belgian Cycling Factory als Alleinstellungsmerkmal, an dem man weiter arbeitet. Bereits heute können Kunden die Lackierung gegen Aufpreis persönlich anpassen. »Und wir arbeiten an einem Konfigurator für ganze Fahrräder«, sagt Aerts – was in Anbetracht der Vielzahl an Teilen und Spezifikationen keine triviale Sache ist, wenn es wirtschaftlich zugehen soll.

Carbon wieder aus Belgien?

Mit der Erweiterung um die Marke Eddy Merckx hat Aerts einen Schritt unternommen, um in zahlungskräftigen Märkten weitere Kundenschichten zu erreichen. Der Name des Superstars des belgischen Radsports ist auch auf den Rahmen – gerade außerhalb Europas – weiterhin bekannt. »Wir haben das Sortiment an unseres angepasst und bieten hier eine kleine, feine Auswahl für eine besondere Nische. Dabei verfolgen wir so etwas wie einen Boutique-Ansatz«, erklärt Aerts. Für das kommende Jahr sind zudem zwei Rahmenplattformen aus Stahl geplant, von »Super-High-End« spricht Aerts, wenn er an diese Geometrien denkt. Diese Rahmen werden dann in Belgien gefertigt, von einem alten Mitarbeiter Eddy Merckx‘, der im Stahlrahmenbau einen besonders guten Ruf hat.
In der Belgian Cycling Factory ist also einiges in Bewegung – und statt sich von einem Großen der Branche schlucken zu lassen, möchte man lieber weiter sein eigenes Ding machen. Man studiert sogar die Möglichkeit, den Carbonrahmenbau wieder ins Hochlohnland Belgien zu holen. »Aber das wird nicht in den nächsten zwei Jahren passieren«, sagt Aerts, »es geht dabei immer um Custom und wir müssten mit Anbietern aus anderen Branchen zusammenarbeiten, um das darstellen zu können.« Auf der anderen Seite weiß er auch um wichtige Preispunkte, an denen er mit Ridley ebenfalls am Markt präsent sein muss, um zu wachsen. Man wird also nicht nur im Hochpreis-Segment neue Produkte von Ridley sehen, sondern auch Produkte mit Preisleistungsansatz, die in der moldawischen Fabrik gefertigt werden.
Doch wie sollen die Kunden künftig an die Produkte der Belgian Cycling Factory kommen? Wie geht man mit den Herausforderungen des Online-Handels um? Jochim Aerts vermittelt den Eindruck, dass in seinem Haus viel Konzeptarbeit passiert, um diese Fragen zu beantworten. »Wir bereiten uns darauf vor, eine hochpräzise Lieferkette zu schaffen, die eine echte 1:1-Customization für größere Stückzahlen ermöglicht – und das wollen wir mit starken örtlichen Servicepunkten kombinieren«, sagt er in eher visionärem Ductus. Das heißt: Die Produktion gewinnt dank digitaler Methoden an Effizienz und Individualität, der Handel verändert ein Stückweit seine Rolle. »Unser Produkt wird es online geben, aber wir wollen dabei in einer starken Beziehung zu unseren Händlern bleiben«, sagt Aerts. So arbeite man an Möglichkeiten, die Verkaufspreise im stationären Handel zu senken. Das Preisniveau werde dann zwar immer noch über dem Preis konkurrierender Onliner liegen. Aber im Paket mit der besonderen Serviceleistung des Partnerhändlers und seiner Werkstatt könne man ein Angebot für Kunden schaffen, das die Kunden für den Kauf der Nischenmarke beim Fachmann vor Ort überzeuge. Den elitären Ruf untermalt man mit teurem Marketing: Inzwischen ist die Belgian Cycling Factory gleich in zwei World-Tour-Teams der offizielle Ausstatter. Bei der Tour de France im Juli wird man daher besonders auf dieses Unternehmen schauen.

5. August 2019 von Tim Farin
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