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Klassiker für den Handel. Ein Shop-Display im Büro zeigt die lang laufenden Produkte aus Leder. Hinter den fertigen Sätteln steckt eine Menge Handarbeit in England.
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Portrait - Brooks

Aus einer ­anderen Zeit

Die Marke Brooks gehört zu den Produkten, für die Kunden gern etwas mehr ausgeben. Denn die Sättel stehen im Ruf, hochwertig und traditionsreich hergestellt zu werden. Wir haben uns die Fertigung in England angeschaut.

Es ist eine klangvolle Landschaft aus sich drehenden Maschinen, aus Hämmern, Zischen, Rappeln und einer Ahnung von Popmusik irgendwo dazwischen. Ein Donnerstagmorgen im März, kurz nach 10 Uhr, im Neonlicht unter den Metallträgern an der Decke einer langgezogenen schmucklosen Fabrikhalle arbeiten Männer und Frauen einzeln an Maschinen und Werkbänken. Ein Mann im grünen Poloshirt betrachtet durch die Brille über seiner Atemmaske die Stahlfedern, die eine grüne Maschine abschneidet und in einen Metallkasten ausspuckt. Hin und wieder nimmt er eine Feder in die Hand und prüft ihre Maße mit einer Schablone. Abertausend Male hat er das schon gemacht. Wenn etwas nicht so ist, wie es aus der Maschine ­kommen sollte, wird er es sehen.
Ein Besuch bei Brooks in Smethwick, einem Vorort von Birmingham in Mittelengland. Für velobiz.de öffnet das Traditionsunternehmen seine versteckt in der linken Ecke einer Backsteinfassade gelegene Firmentür und führt durch die Fertigung der Produkte, die in der Welt des Fahrradfahrens einen Ruf genießen wie kaum andere. Die Ledersättel von Brooks, von denen viele schon im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, gelten als eines der begehrtesten und qualitativ hochwertigstem Ausstattungsstücke mit langer Lebensdauer. Da ist es natürlich spannend zu sehen, wo diese sagenumwo­benen Waren herkommen – und ob hier ­weiter der Geist der englischen Industriearbeit weht, obwohl Brooks längst in der Strategie des italienischen Besitzers Selle Royal aufgegangen ist.
Ein klares Zeichen dafür, dass bei Brooks alles noch ziemlich genauso läuft wie vor vielen Jahren, ist die Tatsache, dass uns in England Steven Green, 57, durch die Fabrik leitet. Green feiert dieses Jahr 40 Jahre Zugehörigkeit zum Unternehmen. Der kleine Mann mit den weißen Haaren und dem herzlichen Lachen gehört zum Inventar von Brooks England. Er ist offiziell »UK Sales & Event Manager« – in der Vergangenheit trug er auch schon den Titel des Geschäftsführers. Die unternehmerisch-strategische Leitung des Unternehmens mag sich nach dem Kauf der 1866 gegründeten Firma durch Marktführer Selle Royal nach Vicenza in Italien verlegt haben. Hier aber, im hügeligen Herzland der Industriellen Revolution, ist Green weiter das Gesicht und Sprachrohr des Unternehmens.
Für ihn gehören Führungen durch die Fabrik immer wieder zum Geschäft – ob nun für Journalisten, Händler oder auch Kunden. Es geht darum, den Kern der Marke selbst zu vermarkten, Glaubwürdigkeit zu produzieren. Denn: Hier in Smethwick können die Besucher erleben, wie Brooks Produkte schafft, die zum Ruf der Marke passen. Green kennt den Anspruch: »Es soll wahr bleiben, dass unsere Produkte mit einer Menge Handarbeit entstehen.« Die Tradition einer Firma, die altbewährte Produkte auf überlieferte Art herstellt, macht das Besondere an Brooks aus. Es unterscheidet die Firma von den meisten Produzenten im Fahrradgeschäft, die trendgetrieben unter Innovationsdruck arbeiten oder unter Rationalisierungszwang die Kostenschraube anziehen.

Technik aus einer anderen Ära

Schaut man sich in der Fabrikhalle um, dann wirkt es ein bisschen wie in einem Industriemuseum. Hier stehen viele in grün eingefärbte Maschinen, die seit mehr als 50 Jahren immer und immer wieder den selben Arbeitsschritt im Produktionsablauf übernehmen – stets unter der direkten Kontrolle von Mitarbeitern, die meist ebenfalls schon seit Jahrzehnten an diesem Ort arbeiten. Fünf Tage die Woche, von 7.30 Uhr bis 12.30 Uhr und 13 Uhr bis 16.30 Uhr, legen die Arbeiter hier Hand an, zwischendrin gibt es eine zehnminütige Frühstückspause und eine Runde Süßigkeiten vom Arbeitgeber. Die Stimmung ist ausgelassen, die Leute hier kennen einander seit Ewigkeiten, oft gehen sie auch gemeinsam in den Pub.
Künstliche Intelligenz und High-tech-Fabriksteuerung sucht man hier vergebens. An den Maschinen sind handgeschriebene Anleitungen angebracht, die die meisten Mitarbeiter aber schon seit vielen Jahren nicht mehr lesen müssen – zu erfahren sind sie in ihrem Betrieb. Die lautesten Maschinen in der Halle verarbeiten Stahlleisten und Stahldraht zu all den Teilen, die für das Unterleben der Sättel bedeutsam sind. Hier stanzen die Mitarbeiter an einer Station aus langen Stahlschienen Bügel, die eine Kollegin ein paar Meter weiter von Hand in eine weitere Maschine füttert, um sie in Form zu biegen. Nebenan spuckt die fast 80 Jahre alte Maschine aus deutscher Fertigung wiederum Feder nach Feder aus. Überall stehen große Kisten herum, gefüllt mit all den Metallteilen, die später für das Zusammensetzen der verschiedenen Satteltypen her müssen.
Dass es die Firma Brooks überhaupt noch gibt, ist bemerkenswert. Die Gründungsgeschichte des Unternehmens ist ebenso legendär wie seine Produkte. Urvater John Boultbee Brooks aus Birmingham startete 1866 seine Firma für Pferdegeschirr und Lederwaren. Als eines Tages sein Pferd kollabiert und gestorben war, lieh er sich das Fahrrad eines Nachbarn – und war schockiert, wie unbequem der Holzsattel des Velos sich anfühlte. Also beschloss Brooks, seine Kenntnisse für die Revolutionierung des Fahrradsitzes anzuwenden und schuf 1878 den ersten Prototypen für einen Ledersattel. Der Gründer war ein Tüftler, der etliche Patente anmeldete. In den 1890er Jahren entwarf Brooks auch den Klassiker B17, jenen Standardsattel, der bis heute das erfolgreichste und weitgehend unveränderte Produkt der Engländer ist.

Britische Fahrradfamilie

Das Unternehmen blieb bis in die späten 1950er im Familienbesitz, ehe der damalige Branchengigant Raleigh Brooks übernahm. Es war eine Zeit, als die Fahrradindustrie hier in den West Midlands noch florierte, wie sich Steven Green erinnert. Sein Vater hatte bereits bei Brooks gearbeitet. Er selbst kam für eine Büroausbildung ins Unternehmen. »Es war damals wie eine große Familie«, erinnert sich Green, jeder hatte Freunde in den Fabriken des TI-Raleigh-Konzerns. Dazu gehörte auch das Werk des legendären Herstellers von Dreigang-Naben, Sturmey-Archer, gleich in der Nachbarschaft sowie eine große Fahrradfabrik nur wenige Kilometer den Hügel hinauf. Doch heute ist vom Erbe der Radindustrie in dieser Gegend bis auf Brooks nichts übriggeblieben.
Immerhin kann Brooks weiterhin auf eine Zulieferlandschaft in der Nähe zurückgreifen und bei britischen Handwerksbetrieben viele der nötigen Veredelungsschritte einkaufen: der Stahl kommt aus der Region Sheffield-Doncaster, die Stahlteile lässt man in Walsall färben oder in Birmingham verchromen. Und auch das meiste Leder, das die Besonderheit des Produkts ausmacht, stammt laut Green aus England und Irland. »Wir brauchen die Haut von älteren Kühen, die härterem Wetter ausgesetzt sind. Wir brauchen ein festeres Leder für unsere Sättel«, erklärt Green.
Wir stehen vor einem Stapel braun eingefärbter Kuhrücken. Gute 11 Quadratfuß – man misst hier in Fuß, was man in Deutschland als einen Quadratmeter bezeichnen würde - mäßen diese Matten im Schnitt, sagt Green, daraus könne der geübte Kollege nebenan die Sattelflächen für 14 Sättel stanzen. Das Leder ist der eigentliche Markenkern, entsprechend hoch seien die Qualitätsansprüche an Bauern und Gerber, erklärt Green, das sei so etwas wie »Hexenkunst«. Auf dem Tisch im Verwaltungsbüro des Unternehmens liegen Sättel, die mit Lederproben verschiedener Zulieferer bezogen sind – man möchte beim Leder immer das beste Produkt einkaufen, erklärt Green. Und so kommt es auch, dass man derzeit vor allem mit einer Gerberei in Belgien zusammenarbeitet, die qualitativ überzeugende Arbeit leiste. Auch mit schwedischen Bio-Betrieben hat Brooks schon kooperiert, um die Vorteile von in der Natur mit viel Zeit gezogenen Nutztierhäuten zu prüfen. So weit, dass man die Sättel speziell als Bioprodukte vermarkte, sei man allerdings noch nicht.
Das Unternehmen Brooks hat heute etwa 50 Mitarbeiter, 40 davon arbeiten in der Fabrik in Smethwick, die übrigen kümmern sich um Strategie, Marketing und Entwicklung und sitzen bei Selle Royal in Italien. Den Jahresumsatz beziffert Andrea Meneghelli, Brand Director, auf 14 Millionen Euro. Ein gewaltiger Anteil des Umsatzes, schätzungsweise 50 Prozent, stammt aus dem Geschäft mit Ledersatteltypen, die vor weit über 100 Jahren erstmals an Kunden verkauft wurden. Etwa 3500 Sättel stellt Brooks pro Woche her, wobei die Zahlen saisonal durchaus schwanken. Man kann sagen: Es handelt sich um einen echten Nischenhersteller.

Guter Sattel braucht Zeit

Schaut man sich die Betriebsabläufe in Smethwick an, dann wird klar, dass sich dieses Geschäft auch nicht ohne weiteres skalieren ließe. Denn der Umgang mit dem Naturprodukt Leder erfordert Geduld. Die zurechtgeschnittenen Sattelflächen kommen erst in ein Wasserbad, um dann von Maschinen mit Kupfervorlagen in die passende Sattelform und Musterung gepresst zu werden. Danach ist ein Beschnitt der Kanten nötig, sie werden glatt gefräst, Mitarbeiter pressen den jeweiligen Typen und das Logo in die Haut, das Leder kommt 60 Minuten bei 40 Grad und dann noch 30 Minuten bei 50 Grad in einen Ofen – und erst danach erreicht es die Werkbänke, wo die geschickten Mitarbeiter die Metallteile und Federn unter den Lederflächen vernieten. Für die edelsten Sättel gibt es zusätzliche Schritte der Handarbeit, etwa ein händisches Schnitzen der unteren Ränder, um den Sattel angenehm dünn am Bein der Kunden zu gestalten.
All diese Arbeitsschritte erfordern hohe Konzentration, sind aber auch ziemlich monoton. Deshalb rotieren die Arbeitskräfte in der Firma, jeder kann an vier oder fünf Positionen die Arbeit übernehmen, es soll nicht zu eintönig werden. Ein grundsätzliches Problem hat Brooks mit dem Finden von Mitarbeitern. Immer wieder braucht man für heiße Phasen neue Mitarbeiter, die über Zeitarbeitsagenturen kommen – doch es dauere sehr lange, bis die neuen Kräfte die Arbeit beherrschen. Oft sehe man schon nach wenigen Wochen, sagt Green, dass es nichts werde. Und das ist auch ein dauerhaftes Problem, denn Brooks hat jede Menge ältere Mitarbeiter, die in den nächsten Jahren irgendwann ersetzt werden müssen.
Green sagt, es falle immer schwerer, Mitarbeiter zu finden. »Das war mal ganz anders. Vor allem junge Briten möchten in Banken, in der IT oder mit Computern arbeiten. Wir haben zuletzt auch häufiger polnische Mitarbeiter eingestellt, für die es in Ordnung ist, Dinge herzustellen. Ein Fabrikjob ist für viele junge Menschen hierzulande nicht cool.« Die einst stolze Arbeiterklasse, die man in den Straßen um die Fabrik herum noch zu spüren scheint, auch sie hat heute kaum mehr Lust auf Schichten in einem lauten, analogen Fabrikgebäude.
Doch der Standort soll auf jeden Fall erhalten bleiben, das ist für die Menschen hier wichtig, das sagt Steven Green und das sieht man auch bei Selle Royal so. Es gab schließlich mal eine große Angst, als Brooks vor 16 Jahren von den Italienern übernommen wurde. Das Unternehmen hatte eine stürmische Zeit hinter sich, war 1999 aus dem kollabierenden Raleigh-Konstrukt vom Management herausgekauft worden und nur unter einer Bedingung nach Vicenza veräußert worden: Die Jobs in England sollten garantiert werden. Dieses Versprechen, so glauben sie hier, gilt weiter. Stefano Zorzi, der italienische Produktionsplaner, der vom Stammsitz in Italien nach England wechselte, hält eine Abwanderung auch für unwahrscheinlich: »Man müsste auch eine ganz neue Fabrik bauen. Wir haben eigene Maße beim Draht und speziell für uns hergestellte Maschinen«, das könne man nicht so einfach woanders nachbauen. Und – noch wichtiger: »Es wäre zwar möglich, mehr zu automatisieren. Aber wir möchten die Umgebung so bewahren, wie sie ist.«

Vorsichtige Modernisierung

60 Prozent des Umsatzes von Brooks kommen heute aus dem Geschäft mit Sätteln. Dazu gehören inzwischen auch die Sättel der Cambium-Serie, gefertigt nicht mit Leder, sondern Kautschuk. Es ist der Versuch, auch in sportlich orientierten Radgeschäften Fuß zu fassen. Daneben vermarktet Brooks seit einiger Zeit auch Taschen und andere Accessoires. Manches davon wird hier in Smethwick gefertigt, andere Teile kommen von anderswo in Europa. Viele der Produkte finden aber nicht dort zu den Kunden, wo die klassischen Sitzflächen für den Drahtesel verkauft werden – sondern eher in mode- und stilfixierten Kreisen. Es ist die Weiterentwicklung einer Marke, die ein starkes Image hat. Aber getragen werde Brooks eben noch immer von seiner Stammklientel, jenen Fahrradfahrern, die mehrere Räder mit mehreren Sätteln haben, erläutert Steven Green. Er kennt das Geschäft, und er sagt: »Wir stehen nicht so sehr unter dem Druck, jederzeit alles verändern zu müssen.« Wobei man raushören kann, dass es manchmal Auseinandersetzungen mit den Leuten in Italien gibt – dass man hier in England so manche Idee nicht so gut findet wie die Kollegen im Süden.
Mit der Traditionsfabrik in Smethwick hat Selle Royal ein Unternehmen im Portfolio, das sich hervorragend kommunizieren lässt. Und gerade in dieser Hinsicht, findet Routinier Steven Green, habe sein Haus in den vergangenen Jahren stark profitiert. Die Italiener brächten gute Ideen, Marketing, Werbung und auch hochwertige Verpackungen. All das habe Brooks noch einmal aufgewertet. Für Händler spannend sein dürfte die Tatsache, dass man in der Konzernzentrale gerade einen Relaunch des Programms »Dealers of Excellence« ankündigt, um die traditionsreiche Marke auch dort noch einmal zu fördern.
Auch in Deutschland, dem stärksten Markt von Brooks, wird Marketing immer mehr zum Erzählen von Geschichten. Die Sättel aus England, die jeder kennt, haben eine spannende Story zu bieten. Sie sind hochpreisig – und stehen im Ruf, auf besondere Weise entstanden zu sein. Wer einmal in der Brooks-Fabrik in Smethwick den gekonnten Handgriffen der Mitarbeiter an ihren alten Maschinen zugeschaut hat, den Lärm der Maschinen gehört, den Geruch des Leders in der Luft gerochen hat, kann zumindest nicht daran zweifeln, dass dieser Ruf einen wahren Kern hat. Dieses unscheinbare Werk schafft Produkte, in denen viel Handarbeit steckt, Geschichte, Geduld - Produkte wie aus einer anderen Zeit.

16. April 2018 von Tim Farin

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