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Report - Fahrradverleihsysteme

Bike-Sharing boomt

Flexibilität wird immer wichtiger – und so prägen Fahrradverleih- und Sharing-Systeme mehr und mehr den Verkehr großer Städte.

Sharen ist eines der großen Themen unserer Zeit – und das nicht nur im Hinblick auf das Teilen von Bildern und Daten in sozialen Netzwerken, sondern auch ganz praktisch in der realen Welt. In immer mehr Städten etablieren sich moderne Fahrradverleihe und Carsharing-Systeme, die kaum noch etwas mit den idealistisch motivierten und technisch anspruchslosen Anfängen zu tun haben. Inzwischen vollzieht sich deutlich sichtbar ein Paradigmenwechsel: Weg von Besitz­-
stands­denken und einer Definition als Nur-Autofahrer, ÖPNV-Monatskarten-Nutzer oder überzeugtem Radfahrer, hin zur flexiblen Nutzung des jeweils nach Entfernung, Wetter und sonstigen Rahmenbedingungen praktischsten Verkehrsmittels. Damit sind erste Schritte zu mehr multimodaler Mobilität, die Verkehrsexperten schon seit langem fordern, gemacht.

Fahrradverleihsysteme boomen

Die Statistik zeigt, dass in Deutschland praktisch jeder Haushalt über mindestens ein Fahrrad verfügt. Doch in der Praxis ist es selten da, wo es gebraucht wird. Zum Beispiel fehlt das Rad oft bei der Überwindung von Kurzstrecken außerhalb des Wohnbereichs, zum Beispiel als Verbindung zwischen den beliebten Hotspots der Stadt oder auf der vielzitierten »letzten Meile«, also dem Weg von der Bahnstation zum Arbeits- oder Ausbildungsplatz, zur Schule oder Universität.
Erste Konzepte, Fahrräder frei zugänglich in den Stadtverkehr zu integrieren, reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. Allerdings war das technische Niveau in dieser Zeit ebenso unterentwickelt, wie die Bereitschaft, die Räder tatsächlich auf breiter Ebene zu nutzen. Mit der Erfahrung aus vielen europaweit installierten Systemen und vor allem durch die Verfügbarkeit neuer Technologien sind die alten Ideen heute aktueller denn je. Während das Konzept der autogerechten Stadt in eine Sackgasse geführt hat, schreiben Verleihsysteme heute eine Erfolgsgeschichte.

Spanien galt lange als Diaspora für Radfahrer. Die Zeiten haben sich mancherorts geändert: Das Leihradsystem Bicing in Barcelona wird von 120.000 Personen genutzt.

Nachdem der Markt für Fahrradverleihsysteme lange Zeit stagnierte, schreitet der Ausbau inzwischen immer schneller voran. Heute existieren europaweit mehr als 400 Systeme und ständig kommen neue hinzu oder die bestehenden Lösungen werden erweitert. Für den Durchbruch sorgen zum einen neue technische Möglichkeiten, die die Bezahlung, die Nutzung und das Flottenmanagement vereinfachen und zum anderen die Einführung von großen Systemen, wie Bicing in Barcelona, Vélib´ in Paris (beide 2007) und Barclays Cycle Hire in London (2010). Jeden Tag werden allein die Räder dieser drei größten europäischen Systeme für eine Strecke genutzt, die einer zehnmaligen Umrundung der Erde entspricht. Untersuchungen haben ergeben, dass in einigen Systemen bereits 10 bis 20 Prozent der Fahrten mit Leihrädern eine Fahrt mit dem eigenen Auto oder dem Taxi ersetzen. Damit sind sie mittlerweile ein fester Bestandteil öffentlicher Mobilität. Neue Entwicklungen führen zur inzwischen »vierten Generation« der Fahrradverleihsysteme. Die Perspektive liegt dabei in der Integration des Fahrradverleihs in den ÖPNV.

Leuchtturmprojekte mit Nachhaltigkeitseffekt

Viele der in der Vergangenheit nur mit sehr begrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Projekte haben eine schlechte Verfügbarkeit, einen niedrigen technischen Standard und bescheidene Nutzerzahlen nach sich gezogen. Anders die ausgereiften Systeme in den Metropolregionen: Sie beweisen eindrucksvoll, dass Fahrrad-Sharing sehr gut angenommen wird, wenn die Ausstattung und die Rahmenbedingungen stimmen. Dementsprechend sind sie inzwischen zu Leuchtturmprojekten und Beispielen für viele regionale Verkehrsplaner oder Mobilitätsanbieter geworden. Denn die Herausforderungen sind überall ähnlich: Die Verkehrsinfrastruktur ist ausgeschöpft; neue Kapazitäten müssen im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung geschaffen werden.
Überaus beliebt ist der öffentliche Fahrradverleih vor allem in südeuropäischen Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien, in denen das Fahrrad bislang kaum als alltägliche Mobilitätsoption für Pendler oder Kurzstrecken wahrgenommen wurde. Einen unverzichtbaren Platz im Mobilitätsangebot hat die Fahrradnutzung inzwischen auch in Ländern wie Großbritannien, in denen es bislang eine eher unterentwickelte Fahrradkultur gab. Mehr als sechs Millionen Mal wurden beispielsweise die Räder von Barclays Cycle Hire in London innerhalb eines Jahres genutzt. Damit war das System so erfolgreich, dass die Fahrradflotte diesen Winter um ein Drittel (d.h. um 2000 Räder) aufgestockt wurde. Auch in mittel- und nordeuropäischen Ländern mit guter Infrastruktur und einem vergleichsweise hohen Radverkehrsanteil, wie zum Beispiel in Deutschland, Österreich oder Schweden, ist der Fahrradverleih sehr verbreitet, allerdings sind die Ausleihzahlen hier in der Regel niedriger. Nachholbedarf gibt es derzeit allein in den osteuropäischen Ländern. Interesse an der Nutzung der Erfahrungen und dem Aufbau eigener Systeme besteht aber – zum Beispiel in der Tschechischen Republik und in Polen.

Der Erfolg kommt, wenn das Konzept stimmt

Einmal mehr zeigt sich, dass bekannten Konzepten durch das Zusammenwachsen mit neuen Technologien zum Durchbruch verholfen werden kann. Auf technischer Seite gehören zu den Erfolgsfaktoren von Sharing-Systemen zum Beispiel die einfache zentrale Registrierung der Nutzer, die Automatisierung der Ausleihvorgänge, eine bargeldlose Bezahlung, der Zugang mithilfe eines elektronischen Schlüssels oder des Mobiltelefons und das Tracking der Räder per GPS.

Der Leipziger Systemanbieter Nextbike konnte bereits einige Städte und Regionen in Deutschland als Kooperationspartner gewinnen.

Auch hier gibt es immer wieder neue Entwicklungen, die die Systeme weiter optimieren und noch benutzerfreundlicher machen. So wird es per Smartphone-App zum Kinderspiel, die nächste Leihstation und Informationen zu vorhandenen Fahrzeugen zu finden und diese auch gleich zu buchen. Auch die Schwelle zur Registrierung wird immer niedriger. So hat die Deutsche Bahn auf der CeBIT gerade das Projekt »Call a Bike per eID« vorgestellt, mit dem Kunden sich künftig direkt durch die Online-Funktion eID des neuen Personalausweises an speziell entwickelten Terminals registrieren und dann auch gleich ein Rad leihen können.
Aber nicht nur die Technik im Hintergrund, auch die Fahrräder selbst tragen wesentlich zum Erfolg des Systems bei. Robuste Räder mit einem unverwechselbaren Erscheinungsbild und nichtkompatiblen Komponenten stärken die Identität des Systems und schützen vor (Teile-)Diebstahl. Werbeflächen sorgen bei vielen Flotten für die Refinanzierung. Dass sich eine technische Funktionsfähigkeit und eine elegante Optik dabei nicht ausschließen müssen, zeigen zum Beispiel die Designentwürfe von Philippe Starck zu einem neuen Leihrad für Bordeaux.

Wichtig: Eine hohe Verfügbarkeit

Neben der Lage und der Anzahl der Verleihstationen und Fahrräder ist vor allem die schnelle, leider allerdings auch kostenintensive und wenig umweltfreundliche Redistribution ein entscheidender Faktor für die Verfügbarkeit. Denn zu Stoßzeiten werden die Räder an einzelnen Stationen schnell knapp, während andere Stationen keine Einstellplätze mehr bieten. Hier liegt auch ein entscheidendes Argument gegen eine Nutzung durch Touristen. Denn während bei durchschnittlichen Nutzern noch eine relativ gleichmäßige Verteilung der Fahrten gewährleistet ist, konzentriert sich die touristische Nutzung auf Innenstadtbereiche und touristische Sehenswürdigkeiten. Ein System, das hier gleichermaßen Einwohner wie Touristen im Fokus hat, verursacht so schnell enorme Kosten und entwickelt sich überdies zu einer Konkurrenz zu spezialisierten Anbietern im touristischen Fahrradverleih.
Vor besonderen Herausforderungen stehen Städte mit besonderen Topographien wie Stuttgart oder auch Barcelona. Durch die Kessellage gibt es ein großes Ungleichgewicht zwischen den Fahrten in die Stadt und zurück zum Ausgangspunkt. Planer versprechen sich hier von Anreizsystemen, die durch neue Technologien möglich werden, und besonders von E-Bikes neue Impulse.

Auch Stadtausstatter JCDecaux lässt in vielen Städten Leihrädern anrollen, wie hier etwa in Sevilla.

Was bringen Sharing-Systeme für die Zukunft?

Der Erfolg in vielen Städten hat das Potenzial für Sharing-Systeme gezeigt. Viele Experten sind sich darüber einig, dass der nächste evolutionäre Schritt in Richtung Integration in den ÖPNV geht. Aber auch andere Sharing-Anbieter wie die expandierende Daimler-Tochter car2go, BMW mit DriveNow und Konzerne wie VW denken inzwischen über die Integration von Zweirädern wie Elektrorollern oder E-Bikes in Flotten nach. Wer auch immer künftig als neuer Player im Markt auftritt, eins scheint schon heute festzustehen: Die Einführung von Fahrradverleihsystemen und die damit einhergehende steigende Nutzung von Fahrrädern im öffentlichen Raum zieht Veränderungen nach sich. Radwege werden ausgebaut oder neu geplant und auch das Bewusstsein verändert sich. Radfahren wird mehr und mehr zur selbstverständlichen, praktischen und ideologiefreien Fortbewegungsart.
Mehr Informationen zum Thema bietet das EU-finanzierte OBIS-Projekt (Optimising Bike Sharing in European Cities). Von 2008 bis 2011 wurden insgesamt 51 Systeme aus 48 Städten in zehn europäischen Ländern einer qualitativen und quantitativen Analyse unterzogen: www.obisproject.com//

1. April 2012 von Reiner Kolberg
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