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Viele Fahrradtouristiker fordern bundesweit einheitliche Vorgaben für die Beschilderung von Radfernwegen.
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Report - Fahrradtourismus

Boom mit Packtasche

Der Fahrradtourismus in Deutschland boomt. Daran zweifelt kaum jemand, der sich mit der Materie beschäftigt. Trotzdem gibt es noch Luft nach oben.

Es soll immer noch Menschen geben, denen beim Thema Fahrradtourismus zunächst das Bild eines spartanischen Urlaubers mit zusammengerollter Iso-Matte auf dem Gepäckträger in den Sinn kommt. Und wer sich an eine der vielen Radwanderrouten in Deutschland stellt, wird tatsächlich auch noch manche Vertreter dieser Abenteurer im Fahrradsattel zu sehen bekommen. Deutlich häufiger wird man jedoch einen ganz anderen Typus von Rad­urlauber registrieren: Menschen mit meist etwas höherem Alter, durchaus aber auch die eine oder andere Familie, die mit komfortablen Reiserädern oder E-Bikes und eher leichterem Gepäck unterwegs sind. Abends schlagen diese Radurlauber nicht etwa ihr Zelt auf, sondern steigen in Hotels ab, an deren Türen durchaus gerne auch ein paar mehr Sterne kleben dürfen.
Und noch etwas fällt auf: Die Zahl der Menschen, die auf den populären Radwanderwegen in Deutschland unterwegs ist, ist groß. Das ist nicht nur eine gefühlte Wahrnehmung: 4,5 Millionen Menschen haben in Deutschland im vergangenen Jahr eine Radreise mit mindestens drei Übernachtungen unternommen, stellte der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) bei seiner jüngsten Radreiseanalyse fest. Das ist ein Zuwachs gegenüber dem ohnehin schon starken Vorjahr um stattliche 11 %. Dazu kommen noch laut ADFC rund 150 Millionen Tagesausflüge mit dem Fahrrad.
Urlaub mit dem Fahrrad ist somit ein Schwergewicht in der Tourismusbranche in Deutschland. Diese Einschätzung steht bei kaum einem touristischen Akteur in Frage. »Der Fahrradtourismus ist nicht mehr nur eine Nische in der Branche, sondern wird als Wirtschaftsfaktor ernst genommen«, sagt Ulrike Saade, die mit ihrer Agentur Velokonzept unter anderem den Fachkongress Travel Talk im Rahmen der Eurobike organisiert.
Auch der Bundestagsabgeordnete Stefan Zierke teilt diese Auffassung: »Der Fahrrad-Tourismus in Deutschland boomt. Die Zahl der Radfahrer auf den touristischen Radwegen steigt stetig. Immer mehr Menschen entdecken das Radfahren wieder für sich.« Der SPD-Politiker weiß, wovon er spricht: Bevor Zierke 2013 in den Bundestag gewählt wurde, war der Tourismus-Experte bereits seit einigen Jahren beruflich als Geschäftsführer der Tourismus Marketing Uckermark GmbH tätig. Als Bundespolitiker engagiert er sich insbesondere in den Bundestagsausschüssen für Tourismus und Verkehr, gilt dort vor allem auch als Fürsprecher für den Radverkehr. Zierke kennt also den Fahrradtourismus sowohl aus der Praxis als auch aus politischer Sicht und weiß um dessen Bedeutung für viele Regionen in Deutschland: »Vor 20 Jahren war der Fahrradtourismus für die meisten Regionen noch ein neues Phänomen. Heute gilt, dass eine Region, die sich nicht dem Fahrradtourismus stellt, auf dem Markt keine Chance hat. Der Fahrradtourismus ist inzwischen ein Standard-Produkt jeder Urlaubsregion«, sagt der Brandenburger im Gespräch mit velobiz.de.

Nicht nur Zeitgeist

Als Auslöser für den seit Jahren schon anhaltenden Zuwachs bei den Fahrradurlaubern werden in Fachkreisen oft zunächst generelle Trends in der Bevölkerung genannt, wie etwa das gestiegene Bewusstsein für Gesundheit und Nachhaltigkeit. Der Fahrradtourismus bietet den Menschen eine Auszeit von einer zunehmend hektischen und komplexen Welt.
Doch die Popularität des Urlaubs im Fahrradsattel lässt sich nicht alleine auf den Zeitgeist zurückführen. Auch die verbesserten Rahmenbedingungen haben an dem Erfolg einen wesentlichen Anteil, wie SPD-Mann Zierke weiß: »Dabei spielt sicherlich einerseits die technische Entwicklung im Fahrradmarkt eine nicht unwesentliche Rolle, aber auch die Entwicklung der Infrastruktur für den Fahrradtourismus. Die Radwege sind gut ausgebaut, die Beschilderung ist vielerorts top. Die Komfortzone der Gäste im Bereich Fahrrad hat sich in den letzten Jahren durch die Industrie, durch die Tourismuswirtschaft und die Politik enorm gesteigert, sodass viele Menschen das Fahrrad auch im Urlaub ausgesprochen gerne nutzen.«
Einen anderen Grund für die zunehmende Zahl der Radurlauber nennt Iris Hegemann, die beim Deutschen Tourismusverband (DTV) unter anderem für das Thema Fahrradtourismus zuständig ist: »Die Spontanität beim Urlaub wird größer, gleichzeitig werden die Reisen immer kürzer.« Beide Entwicklungen spielen dem Fahrradtourismus die Trümpfe in die Hand.

Fahrradtourismus geht überall

»Es gibt in Deutschland kaum Gegenden, in denen nicht ein attraktives fahrradtouristisches Angebot gestaltet werden kann«, sagt Raimund Jennert, Tourismus-Vorstand des ADFC. In der Broschüre »Deutschland per Rad entdecken« listet der Club 165 Radfernwege in Deutschland auf. Viele davon sind von ADFC-Routeninspektoren mit einem Sterne-System als Qualitäts­radrouten ausgezeichnet worden.
Als von Urlaubern meist befahrener Radfernweg hat in der jüngsten Radreiseanalyse der Rheinradweg den Elberadweg vom ersten Platz verdrängt. Spannend finden Tourismusexperten vor allem aber auch den Aufstieg des Ruhrtal-Radwegs, der 2015 einen Sprung um fünf Plätze nach vorne in die Top-3 gemacht hat.
Nicht zuletzt diese Entwicklung gilt in der Urlaubsbranche als weiterer Beleg dafür, dass mit den Radurlaubern auch solche Regionen touristisch wach geküsst werden können, in die sich sonst nicht so leicht ein Urlaubsgast verirren würde.
Und das sind aus wirtschaftlicher Sicht durchaus keine Urlauber zweiter Klasse, wie der SPD-Tourismusexperte Zierke weiß: »Wer einen Radweg baut oder vermarktet, generiert dadurch Wirtschaftskraft entlang dieses Radwegs. Das haben wir beispielsweise für den Berlin-Usedom-Radweg untersuchen lassen. Dabei wurde festgestellt, dass für jeden von der öffentlichen Hand investierten Euro ungefähr fünf bis sieben Euro in die Region zurückfließen. Wir haben auch gesehen, dass sich touristische Leistungsträger gezielt entlang von Radwegen ansiedeln.«
Gleichzeitig spielt der Fahrradtourismus seine Stärken auch in eher strukturschwachen Regionen aus: »Dünn besiedelte Regionen, etwa am Oder-Neiße-Radweg oder am Elbe-Radweg, profitieren besonders vom Fahrrad-Tourismus. Mit dem Fahrrad können längere Strecken zurückgelegt werden als beispielsweise beim Wandern. Dadurch muss für den Fahrradtourismus die Dichte der Leistungsträger nicht ganz so hoch sein, wie in anderen touristischen Segmenten«, sagt Zierke.
Beim DTV geht man sogar so weit, zu behaupten, dass durch die Fahrradurlauber manche Regionen touristisch überhaupt erst in Gang kommen: »Fahrradtouristen sind sehr anspruchsvoll und besitzen ein ausgeprägtes Qualitätsbewusstsein«, sagt die DTV-Expertin Hegemann. Demnach müssen touristische Angebote für die Radurlauber gut gemacht sein, sonst werden sie links liegen gelassen. Durch den Fahrradtourismus entstehen deshalb hochwertige Leistungen und Infrastrukturen, von denen auch andere Urlaubsformen profitieren. »Der Fahrradtourismus stärkt andere Segmente«, so Hegemann.

Förderale Herausforderungen

Auch wenn die positiven Effekte durch die Fahrradurlauber allgemein bekannt sind, ist es oft nicht einfach, neue Angebote und Infrastrukturen für diese Zielgruppe umzusetzen.
»Wenn die Radrouten nicht an Bundesstraßen liegen, dann sind der Baulastträger die Kommunen und Kreise«, sagt ADFC-Vorstand Raimund Jennert. »Und das ist leider oft ein Problem.«
Wer im Fahrradtourismus etwas bewegen will, muss meistens eine Vielzahl von Akteuren an einen Tisch bringen, weiß auch Iris Hegemann vom Tourismus-Dachverband DTV: »Die föderalen Strukturen in Deutschland machen es nicht einfach. Und die Kette ist nur so gut wie das schwächste Glied.« Soll heißen: Manches Vorhaben für Fahrradtouristen scheitert mitunter an einer einzelnen Kommune, die entweder nicht die ­notwendigen finanziellen Mittel besitzt oder den Nutzen eines fahrradtouristischen Angebots nicht erkennt.
Letzterer Fall ist jedoch eher die Ausnahme. Viel häufiger ist, dass möglichst viele Akteure in einer Region partizipieren wollen. Und auch das kann zum Problem werden, wie SPD-Mann Zierke erklärt, der vor seiner bundespolitischen Karriere viele Jahre auch in der Kommunalpolitik tätig war: »Die Wegeführung bei der Umsetzung neuer touristischer Radwege ist oft ein schwieriger Akt. Jeder Bürgermeister will natürlich, dass der Radweg durch sein Dorf oder seine Stadt führt. Aber das macht die Radwege für die Radfahrer nicht unbedingt attraktiver.«
Doch auch in der Bundespolitik könnte in Sachen Fahrradtourismus einiges besser laufen, meint der Abgeordnete: »Ich finde, es ist in Deutschland nach wie vor ein Irrsinn, dass man den Alltagsverkehr mit dem Fahrrad über das Verkehrsministerium fördert, den Freizeitverkehr über das Wirtschaftsministerium und wenn es um den ländlichen Wegebau geht, ist das Landwirtschaftsministerium zuständig. Mitunter behindern sich die verschiedenen Fördertöpfe dann auch noch gegenseitig. Da könnte die Politik ihre Fördermöglichkeiten noch deutlich effizienter einsetzen.«
Und auch bei den rechtlichen Vorgaben der StVO könnte noch einiges im Sinne der Radurlauber verbessert werden. So wünscht sich zum Beispiel der ADFC, dass die Beschilderung von Radfernwegen bundesweit vereinheitlicht wird. Und was den Radwegebau an Bundesstraßen angeht, hoffen viele Akteure auf eine Lockerung der Regelungen. So dürfen zwar Radwege an Bundesstraßen inzwischen auch in etwas größerer räumlicher Entfernung von der Bundestraße gebaut werden, aber nur, wenn dadurch keine Gebäude an der Straße umgangen werden. Wenn ein Haus an einer Bundesstraße liegt, muss dieses auch an den Radweg angeschlossen sein.
Aber auch einfach umzusetzende Maßnahmen, wie ein auf die Straße gemalter Radfahrstreifen, lässt der Gesetzgeber an Bundesstraßen bislang nicht zu. Wobei ADFC-Experte Jennert zu bedenken gibt: »Im Gegensatz zu der in dieser Frage durchaus kontroversen Diskussion bei innerstädtischen Radwegen, will der touristische Radverkehr eigentlich immer vom Autoverkehr separiert werden.«

Neue Impulse

Der Fahrradtourismus ist in Deutschland schon seit einigen Jahren ein wachsendes Segment. Da stellt sich den touristischen Akteuren durchaus die Frage, wie das hohe Niveau nicht nur gehalten, sondern vielleicht auch noch ausgebaut werden kann.
Mit dem Pedelec kommt ein neuer Impuls in den Fahrradtourismus, der laut Experten durchaus das Potenzial besitzt, noch mehr Menschen auch im Urlaub in den Fahrradsattel zu heben. »Das Pedelec hat die fahrradtouristische Welt bereits verändert«, sagt etwa Iris Hegemann vom DTV. Durch die Fahrräder mit elektrischem Hilfsantrieb werden auch Regionen für Radurlauber interessant, die bisher eher keine typischen Ziele für den Durchschnittsradfahrer waren. »Das sind zum Beispiel viele Mittelgebirgsregionen, aber auch einige dünn besiedelte Regionen, in denen das nächste schöne Hotel auch mal 60 Kilometer entfernt sein kann«, erklärt die ­Tourismusexpertin.
Ein weiteres Potenzial, das gerade auch für touristische Angebote noch nicht ausgeschöpft ist, sieht der Bundestagsabgeordnete Stefan Zierke bei den Radsportlern. »Wir sehen hier in der Uckermark zwar bereits zunehmend Radsportler mit dem Rennrad. Ich finde aber, dass es in Deutschland noch zu wenig Angebote für diese Zielgruppe gibt. Da sind andere Länder vielleicht schon weiter«, sagt der SPD-Mann.
Und Ulrike Saade erhofft sich insbesondere von Lastenrädern noch große Impulse für den Fahrradtourismus. Lastenräder und Fahrradtourismus klingen vielleicht zunächst nicht nach Segmenten, die sich gegenseitig befruchten. Die Travel-Talk-Macherin hat dabei jedoch Familien mit kleinen Kindern im Sinn, die an Urlaubsorten künftig vermehrt Verleihangebote für Lastenräder vorfinden sollen und diese dadurch als Mobilitätsalter­native mit Kind und Kegel im Urlaub entdecken.
Das Thema Familien mit Kindern will auch der ADFC beim Fahrrad­tourismus künftig noch mehr in den Vordergrund schieben. Im Radfahrerverband diskutiert man unterdessen sehr lebhaft zudem auch über ein neues Konzept für sogenannte Trekking-Routen. Gemeint sind damit Radfernwege auf überwiegend naturbelassenen Strecken, die aber dennoch gewisse Qualitätsstandards erfüllen sollen.
Auch wenn der Fahrradtourismus in Deutschland bereits auf hohem Niveau kurbelt, ist mit neuen Ideen also durchaus noch Luft nach oben.

23. August 2016 von Markus Fritsch
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