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Bergamont-Räder finden sich nicht nur im Flagship-Store, sondern natürlich auch in der darüber gelegenen Unternehmenszentrale.
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Portrait - Bergamont

Die Kiezradler

Reeperbahn, die Beatles, Millerntor – der Hamburger Stadtteil St. Pauli ist auch weit über die Grenzen der Hansestadt bekannt. Aus diesem vielfältigen Viertel kommt auch der Fahrradhersteller Bergamont, der inzwischen das Potenzial seiner Herkunft erkannt hat – obwohl er schon länger in Schweizer Hand ist.

Die Unternehmenszentrale von Bergamont mit gut 60 Mitarbeitern liegt mitten in St. Pauli. Im selben Gebäude ist auch der von einem Fahrradhändler betriebene Flagship Store der Marke untergebracht. Die Reeperbahn und das Millerntorstadion des FC St. Pauli befinden sich in fußläufiger Entfernung. Ein Streifzug durch den Stadtteil macht deutlich, wie verwurzelt der Fahrradhersteller dort ist: Das Servicecenter von Bergamont liegt rund zehn Gehminuten von der Zentrale entfernt mitten im Fleisch-Großmarkt von Hamburg. Dort werden Test-, Muster- und Teamräder gepflegt und ausgeliefert. Wiederum nur fünf Gehminuten entfernt liegt das Gründungsgebäude von Bergamont.
Der Fahrradhersteller ist also mittendrin in diesem Viertel, das so viele verschiedene Facetten zu bieten hat. Nicht nur die stark in St. Pauli verwurzelte linke Szene fühlt sich hier wohl, genauso sind Anzugträger und Cappuccino-Mütter im Kiez anzutreffen. Bergamont fühlt sich hier gut aufgehoben und hofft vom kreativen Umfeld profitieren zu können. Die inzwischen über 25-jährige Geschichte der Fahrradmarke ist jedenfalls untrennbar mit der Hansestadt Hamburg und seinem berühmten Stadtteil verbunden.
Anfang der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts wagte die hanseatische Kaufmannsfamilie Berkes den Einstieg in die Fahrradbranche und begann, Mountainbikes zu importieren. Ein genaues Gründungsdatum lässt sich nur schwer fest-legen. Die Bergamont Fahrradvertrieb GmbH existiert seit 1995, Fahrräder der Marke gab es jedoch schon ab 1991. Mountainbikes zählen auch heute noch zu den Schwerpunkten im Bergamont-Programm. Seit 2004 auch Rennräder hinzukamen, sieht man sich als Vollsortimenter. E-Bikes gehören natürlich – seit 2010 – ebenfalls dazu.

Mütter aus der Schweiz

Bereits seit 2008 ist Bergamont in Schweizer Hand. Zunächst beteiligte sich BMC an den Hamburgern, 2015 übernahm Scott. Gründer Stefan Berkes führte das Hamburger Unternehmen bis kurz nach der Übernahme durch Scott. Inzwischen fungiert Scott-CEO Beat Zaugg zusätzlich als Geschäftsführer des Tochterunternehmens. Die Vertriebsleitung übernahm Ralf Stapela, der 2015 zu Bergamont stieß.
Besonders der zweite Besitzerwechsel brachte also viele Veränderungen mit sich. So half die internationale Beteiligung dabei, das lokale Profil hervorzuheben. »Bergamont war schon immer eine sympathische Marke, aber die Positionierung musste noch geschärft werden«, beschreibt Kommunikationsmanager Christian Thill, der 2016 nach St. Pauli wechselte, die Wahrnehmung der Marke. Seit vergangenem Jahr arbeitet Bergamont mit einer entsprechenden Marketingkampagne am Image, indem die Herkunft in den Vordergrund gerückt wird. Die Werte, die in der Kampagne kommuniziert werden, seien bereits da gewesen, ist Thill überzeugt. Die intensive Konzeptionsphase habe jedoch dazu beigetragen, dies den Mitarbeitern auch bewusst zu machen. Schließlich waren im Projektteam quasi alle Abteilungen von Bergamont vertreten. Das half dabei, die Bindung zum Unternehmen zu stärken.

Auf dem Weg zur Love Brand

»Entwickelt auf St. Pauli. Gemacht für die Welt« heißt das Motto – ergänzt um den Claim »Straight from St. Pauli«. Als Ziel der Kampagne gibt Marketingleiterin Pamela Busch aus: »Wir wollen eine Love Brand werden.« Dabei setzt Bergamont auf eine eigene schwarz-weiße Bildsprache mit Motiven aus St. Pauli. Herkunft, Haltung und Herzblut soll Bergamont nun transportieren. Dazu gehört, dass die Marke durchaus auch polarisieren darf. »Wir machen Fahrräder für alle, aber nicht für jeden«, beschreibt Busch diese Haltung. Zum Thema Herkunft gehört, dass Bergamont– durchaus naheliegend – ein Sponsor des FC St. Pauli ist. Die Kiezradler unterstützen also die Kiezkicker. Dass dadurch HSV-Fans abgeschreckt werden könnten, wird billigend in Kauf genommen.
Das Herzblut soll sich in der Verbundenheit der Mitarbeiter mit Bergamont und St. Pauli ausdrücken: Die Mitarbeiter können die spezielle St.-Pauli-Atmosphäre täglich in sich aufnehmen, wenn sie zur Arbeit radeln oder in die Mittagspause gehen. Diesen Faktor hat Bergamont selbst lange unterschätzt. Inzwischen leben auch Mitarbeiter, die erst kürzlich dazugestoßen sind, diesen Kiez-Spirit. Von der Kreativität, die das Viertel versprüht, sollen so auch die hier entwickelten Räder etwas abbekommen.
Von dem in der Werbung transportierten Anspruch, eine Weltmarke zu sein, ist Bergamont noch ein Stück weit entfernt. Bis zur Übernahme durch Scott war die Marke außerhalb Deutschlands nur in einigen europäischen Märkten vertreten. Der neue Eigentümer soll dazu beitragen, die Internationalisierung der Hamburger voranzutreiben. Die Marketingstrategie, die auf die Herkunft aus St. Pauli setzt, komme dabei auch im Ausland gut an. Bergamont-Vertriebsleiter Stapela zeichnet für den deutschen Markt verantwortlich und sieht hier durchaus noch Potenzial. Nicht zuletzt deshalb wurde der Außendienst kürzlich von fünf auf sechs festangestellte Reisende erweitert.
Stapela hat sich gemeinsam mit Busch für 2017 zudem das Ziel gesetzt, die Werbekampagne, die in den Medien bereits für Aufmerksamkeit sorgte, auch stärker in den Fachhandel zu transportieren. »Das geht aber nicht von heute auf morgen«, sagt Stapela. Die erste Präsentation der Kampagne im Rahmen der Bergamont-Hausmesse, den Kick-off Days 2016, die im Millerntorstadion stattfand, sei schon positiv aufgenommen worden. Busch räumt jedoch ein: »Die Durchdringung der Marke bis hin zum Endverbraucher steht noch am Anfang.« Für den Juli 2017 plant Bergamont die diesjährigen Kick-off Days an der Elbe in Hamburg. Explizit sind hier auch ausländische Händler eingeladen, die einen Eindruck von der lokalen Verwurzelung der Marke in St. Pauli gewinnen sollen.

Synergien im Hintergrund

Die Integration in den Scott-Konzern sieht man bei Bergamont durchweg positiv. »Viele Prozesse laufen im Hintergrund ab«, erklärt Stapela. Das beinhalte etwa die gemeinsame Nutzung von Produktionsstandorten. Die Auslieferung an den Handel erfolgt vom belgischen Zentrallager Aubange aus. Zuvor waren die Bergamont-Lager noch wie das Servicecenter zwischen den Großmarkthallen in St. Pauli eingebettet gewesen. Synergien können die Hamburger auch in der Produktplanung nutzen.
Die Zugehörigkeit zu einem größeren Fahrradhersteller habe zudem bereits das Denken bei Bergamont verändert. »Früher haben wir deutsche Räder mit internationaler Prägung entwickelt, heute sind es internationale Räder mit lokaler Bergamont-Prägung«, beschreibt Kommunikationsmanager Thill den Wechsel. »Das Denken ist internationaler geworden.«
Den Service für den Fachhandel plant Bergamont mithilfe des neuen Eigentümers weiter auszubauen. Scott mache nun etwa Investitionen in digitale Dienstleistungen möglich, die vorher nicht denkbar gewesen seien. So kann Bergamont bereits über ein Online-Marketing-Portal den Händlern Zugang zu Foto- und Videomaterial bieten. »Das neue B2B-Händlerportal setzt auf dem bestehenden Scott-System auf«, berichtet Vertriebsleiter Stapela. Es werde bereits gut angenommen: »Die Online-Bestellungen entwickeln sich positiv«, so Stapela. »Das war so nicht zu erwarten.«

Eher Ergänzung als Wettbewerb

Die beiden Fahrradmarken unter einem Dach würden kaum konkurrieren. Bergamont sieht sein Sortiment noch breiter aufgestellt und eher auf der Preis-Leistungs-Schiene angesiedelt als Scott, wo in der Kommunikation viel Wert auf Superlative gelegt wird. Vielmehr würden sich die Marken gut ergänzen. Die jeweiligen Außendienstler sprechen sich sogar teilweise untereinander ab, berichtet Stapela, um herauszufinden, welche Marke zu welchem Händler am besten passt. »Bisher habe ich noch von keinem Händler gehört, der die eine Marke wegen der anderen aufgibt«, sagt Stapela. Eher komme es vor, dass die zweite Marke noch dazu genommen werde.
Entwicklung, Produktmanagement und Vertrieb der beiden Marken seien weiterhin strikt voneinander getrennt. »Das ist bewusst so gewählt, um die Eigenständigkeit von Bergamont zu bewahren«, erklärt Stapela. Zur Identität von Bergamont gehört auch die Aufstellung als Vollsortimenter. Wie andere Fahrradhersteller sehen die Hamburger bei E-Bikes großes Potenzial, wollen aber gleichzeitig ihre Herkunft nicht vernachlässigen. »Wir sollten unser Brot-und-Butter-Geschäft nicht außer Acht lassen«, betont Stapela. »Bei Trekkingrädern waren wir schon immer stark, das wollen wir beibehalten.« Der Vertriebsleiter verweist ebenso auf das breite Angebot an Mountainbikes (auch ohne E). »Wir haben für jeden etwas dabei, ob Freeride, Dowhnhill oder Cross Country, bis zum Kinder-Mountainbike.« Um als norddeutsche Marke im MTB-Segment glaubwürdig zu sein, ist Bergamont auch mit einem eigenen Werksteam im Downhill-Weltcup unterwegs.
Mittel- und langfristig sei sogar eine Ausweitung des Sortiments denkbar. Das Fahrrad werde weltweit weiterhin an Bedeutung gewinnen, ist PR-Manager Thill überzeugt. »Da wollen wir mit dabei sein.« Das gelte für alle Trends, von denen das Fahrrad profitiert, wie etwa urbane Mobilität oder Fahrradtourismus.

Mit Lokalkolorit in die Welt

Selbst in einem wachsenden Markt ist es angesichts der großen Anzahl an Fahrradherstellern, nicht einfach, sich einen Platz zu sichern. Die lokale Prägung der Marke, die durch die aktuelle Marketing-Kampagne offensiv nach außen getragen wird, sieht man bei Bergamont in diesem Wettbewerb als ein Alleinstellungsmerkmal. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Fahrradhersteller schon seit vielen Jahren nicht mehr wirtschaftlich selbständig agiert. Doch scheint die jüngste Übernahme durch Scott die neue Tochter tatsächlich dazu ermutigt zu haben, das lokale Profil zu schärfen – zumal nun offenbar auch das notwendige Kapital für die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit verfügbar ist.
Auch an anderen Stellen profitiert Bergamont finanziell von der neuen Mutter – etwa wenn es um den (digitalen) Service für den Fachhandel geht. Das soll jedoch keine Einbahnstraße sein. Natürlich erhofft sich Scott ebenfalls Vorteile von der zweiten Fahrradmarke im Unternehmen. So könnte Bergamont dem Mutterkonzern dabei helfen, Marktanteile in Preissegmenten zu gewinnen, in denen sich Scott bislang kaum bewegte.
Der Integrationsprozess ist noch in vollem Gange. Wie bei jeder Übernahme dürften auch nach fast zwei Jahren immer wieder Hindernisse auftauchen. Für Scott ist es eine nicht alltägliche Situation, andere Marken ins Unternehmen einzugliedern. Ebenso ist für Bergamont die Imagebildung einer Marke mit Lokalkolorit, die sich weltweit etablieren soll, noch lange nicht abgeschlossen.

10. April 2017 von Oliver Bönig

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