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Nachwuchs­probleme beim ­Fahrrad?
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Report - Kindermobilität

Nachwuchs­probleme beim ­Fahrrad?

Fahrradfahren liegt im Trend und die Branche blickt rosigen Zeiten entgegen. So könnte man zumindest meinen. Doch eine genauere Betrachtung der Fakten relativiert diese Einschätzung. Gerade an jungen Menschen geht der Trend vorbei. Branchenkenner warnen vor Problemen in den nächsten Jahrzehnten, wenn die Chance verpasst wird, dieser Entwicklung rechtzeitig gegenzusteuern.

Eigentlich sieht ja alles gut aus für die Branche: Zukunftsforscher sehen das Fahrrad an der Schnittstelle zu den Megatrends unserer Zeit, Gesundheit nimmt einen immer wichtigeren Stellenwert in der Gesellschaft ein, Innovationen rund ums Rad und nicht zuletzt der E-Bike-Boom sorgen für steigende Umsätze und Gewinne. Auch die Bundesregierung will die Deutschen zur stärkeren Nutzung des Fahrrads bewegen. Mit dem Nationalen Radverkehrsplan (NRVP) strebt Bundesverkehrsminister Ramsauer eine Steigerung des Radanteils von zehn auf bundesweit fünfzehn Prozent an. Zusammen mit den Kommunen sollen die Infrastruktur für Fahrradfahrer verbessert und die Verkehrssicherheit erhöht werden.

Schüler fahren immer ­weniger Rad

»Bei Kindern und Jugendlichen werden die wesentlichen Grundlagen für das spätere Mobilitätsverhalten als Erwachsene gelegt«, wird im NRVP festgestellt, der damit die Erkenntnisse der vielfältigen mit dem Thema beschäftigten Expertenrunden, Verbände, Initiativen und Studien teilt. Die Frage, die sich stellt, ist natürlich, was es im Umkehrschluss bedeutet, wenn immer weniger Kinder und Jugendliche mit dem Rad fahren. Denn genau das ist schon seit einigen Jahren der Fall und eine Trendwende ist hierzulande bislang nicht in Sicht.
Städte aller Größen verzeichnen nach Untersuchungen des Deutschen Mobilitäts Panel (MOP), das in regelmäßigen Abständen im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) Mobilitätsdaten erhebt, einen generellen Zuwachs im Fahrradverkehr. Und zwar bei allen Personengruppen – mit Ausnahme der Schüler. Kinder und Jugendliche nutzen das Fahrrad zwar immer noch für rund 20 Prozent ihrer Wege und damit etwa doppelt so häufig wie andere Bevölkerungsgruppen, entgegen dem allgemeinen Trend ist in dieser Gruppe in den vergangenen Jahren jedoch vor allem bei der Alltagsnutzung, also den Wegen zur Schule, zum Sportverein oder Musikunterricht ein kontinuierlicher und deutlicher Rückgang des Fahrradanteils zu verzeichnen. Nach den Erhebungen hat der Anteil an Schülern, die in einer Woche das Fahrrad benutzen, im ­Vergleichszeitraum 2006 bis 2010 gegenüber 1996 bis 2000 von 61,8 % auf 55,2 % signifikant abgenommen.
Ein Anteil an dieser Entwicklung haben die oft in der Diskussion genannten größeren Entfernungen,
die es durch differenziertere Bildungsangebote und Schulformen für Schüler zurückzulegen gilt. Unterstützt wird diese Annahme durch den Fakt, dass radfahrende Schüler statistisch immer weitere Strecken zurücklegen. Oft ins Feld geführt werden auch veränderte Freizeitgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen. Diese Faktoren jedoch als alleinige Gründe anzunehmen, greift zu kurz, denn die Fahrradnationen Niederlande und Dänemark weisen hier nahezu gleiche Rahmenfak­toren auf und verzeichnen trotzdem eher Zunahmen als Rückgänge bei der Fahrradnutzung dieser Altersgruppe.

Sicher auf dem Fahrrad?

Viele Eltern vertreten die Meinung, dass das Radfahren für Kinder zu gefährlich sei. Bestärkt werden sie in dieser Auffassung von anderen Eltern, der Schulleitung, Lehrern, Versicherern und Verbandsvertretern, die sicher nicht zu Unrecht wohlmeinend auf die vielfältigen Gefahren hinweisen. Nicht zuletzt ist dieses Urteil auch durch mangelnde eigene Erfahrung bei Nichtradfahrern und das eigene subjektive Gefühl der Unsicherheit bei vielen Radfahrern geprägt. So lautete die Antwort auf die im ADFC Fahrradmonitor 2011 gestellte Frage: »Fühlen Sie sich im Straßenverkehr sicher, wenn Sie Rad fahren?« bei acht Prozent »überhaupt nicht«. Weitere 40 Prozent fühlten sich »eher nicht sicher«. Insgesamt ist das subjektive Sicherheitsgefühl damit weiter gesunken.
Tatsächlich sind sowohl die Unfallzahlen als auch die Schwere der Verletzungen und die Anzahl der bei Verkehrsunfällen getöteten Kinder seit Jahren rückläufig. Laut statistischem Bundesamt, das die Unfallzahlen seit 1978 exakt nach Alter, Verkehrsmittel und Ursache erfasst, ist das Risiko für Kinder, im Straßenverkehr zu sterben, in den letzten zehn Jahren von 18 auf 8 Kinder je eine Million Einwohner ihrer Altersgruppe – also um mehr als die Hälfte – gesunken. 1978 war die Zahl der getöteten Kinder im Straßenverkehr mit 1.449 fast siebzehn Mal so hoch wie im Jahr 2011 mit 86 Kindern, von denen 24 mit dem Fahrrad unterwegs waren.
Einen Einfluss auf die Einstellung und das Verhalten der Eltern haben auch die persönlichen Ängste, die mit einer tatsächlichen Gefährdungslage erst einmal wenig zu tun haben. Nach einer aktuellen Befragung der Zeitschrift Eltern und der Allianz-Versicherung sehen deutsche Eltern zwar optimistisch in die eigene Zukunft – sie sind jedoch gleichzeitig auch ängstlich gestimmt und protektiv. In der Praxis führt die stark ausgeprägte Angst vor dem Tod des eigenen Kindes oder einem schweren Unfall dazu, dass Eltern versuchen, potenzielle Gefahren weitgehend im Vorfeld auszuschalten. Zum Beispiel durch einen Helm, der von 93 Prozent der Eltern zur Gefahrenabwehr auf dem Lauf- bzw. Fahrrad genutzt wird. Aber nicht nur dort: Auch auf Spielplätzen sollten die Kleinen nach Auffassung vieler Eltern lieber behelmt klettern. Nach einigen tragischen Unfällen durch Strangulieren gibt es inzwischen sogar Schilder, die hier ausdrücklich vor dem Tragen eines Helms warnen.

Problem Begleitmobilität

Die Wahrnehmung und Bewertung potenzieller Gefahren, der Wille Kinder zu schützen und die Überbehütung als gesellschaftliches Phänomen führen zu einer unglücklichen Verkettung von Maßnahmen und Verhaltensweisen, die inzwischen eine ganze Generation nachhaltig prägen. Wurden vor einigen Jahren die überwiegenden Wege von Kindern noch selbständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, so werden diese heute immer mehr durch das Mütter-Taxi ersetzt. Nach empirischen Erhebungen wird für den überwiegenden Anteil (75 %) aller Begleitwege der Pkw als Hauptverkehrsmittel verwendet und dabei – ganz nach der klassischen Rollenverteilung – von Müttern gelenkt. Etwa jede vierte Fahrt des familiären Individualverkehrs dient inzwischen dazu, Kinder und Jugendliche zum Kindergarten, zur Schule o. Ä. zu bringen oder von dort wieder abzuholen. Im Alter von 6 bis 9 Jahren legen Kinder in Deutschland insgesamt nur ca. 35 % ihrer Wege ohne Begleitung zurück. Die Auswirkungen:

  • Eltern und Schulen stehen inzwischen vor dem paradoxen Problem, dass der eigentlich problemlos selbständig zu bewältigende Schulweg durch das bringdienstbedingte hohe Verkehrsaufkommen im Verbund mit Last-Minute-Hektik, wild parkenden Pkws und sichtfeldversperrenden Familienvans und SUVs erst zu einer ernsthaften Gefahr wird.
  • Das passive Erlebnis im Auto verhindert eine lernende Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten im Verkehr, verstärkt die Bewegungsarmut und behindert eine gesunde motorische Entwicklung.
  • Die wichtigste, weil langfristig wirksame, Folge ist nach der Einschätzung vieler Experten die Mobilitätssozialisation der Kinder und Jugendlichen. Sie hat Auswirkungen auf das eigene Verhalten und prägt ihre Einstellung zu den Verkehrsmitteln und ihre Fähigkeit, sich auch in nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen, auch im Erwachsenenalter. Hier nehmen sie wiederum eine wichtige Vorbildfunktion für die nachfolgende Generation ein.

Sollen Kinder mit dem ­Fahrrad in die Schule?

Immer wieder warnen Schulen und Versicherer und Verkehrsexperten vor der Nutzung des Fahrrads im Grundschulalter. Gängige Argumente sind dabei, dass die Kinder noch nicht reif für den Straßenverkehr seien und das Fahrrad noch nicht beherrschen würden. Teilweise werden auch versicherungsrechtliche Gründe oder Anweisungen von Schulbehörden ins Feld geführt. Besonders perfide ist das Verbot, das Abstellen von Kinderrädern auf dem Schulgelände zu untersagen, bevor die Fahrradprüfung abgelegt wurde oder die Fahrradprüfung auf das Ende des vierten Schuljahres hinauszuschieben, womit in der Regel Fakten geschaffen werden.
»Tatsächlich gibt es keinen Erlass in den Bundesländern, aus dem sich ein Nutzungsverbot von Fahrrädern für den Schulweg ableiten lassen würde und auch versicherungsrechtlich drohen keine Probleme«, hält der Radexperte Dr. Achim Schmidt, Geschäftsführer des »Centrum für nachhaltige Sportentwicklung« am Institut für Natursport und Ökologie der Sporthochschule Köln entgegen. »Unabhängig vom Sinn oder Unsinn der vorgetragenen Argumente greift die Schulleitung damit natürlich massiv in Elternrechte ein. Denn letztlich liegt es in der Verantwortung der Erziehungsberechtigten, ob und ab wann sie ihr Kind alleine oder in der Gruppe, zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Schule schicken.«
Vor allem in Bezug auf die Frage, ab welchem Alter es für Kinder sicher ist, allein mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, gehen die Meinungen unter Fachleuten in der öffentlichen Diskussion weit auseinander. Vielfach wird allerdings die Auffassung vertreten, dass es keinen Sinn macht, eine feste Altersgrenze zu ziehen oder auf den Erwerb eines Fahrradführerscheins zu bauen. Denn Radfahrkompetenz hängt ab von den Möglichkeiten, diese auch in der Praxis auszubilden. »Findet im ersten und zweiten Schuljahr ein regelmäßiges psychomotorisches Radfahrtraining statt, wie es die NRW-Kultusministerkonferenz in ihrer Empfehlung von 1994 vorschlägt und wie es in einigen Schulen schon lange praktiziert wird, dann sind die Kinder im dritten Schuljahr auf ihren Rädern fit«, so Prof. Dr. Volker Briese von der Universität Paderborn, der sich eingehend mit Forschungsergebnissen auseinandergesetzt hat und der Schlüsselstellung der Radfahrprüfung kritisch gegenübersteht. »Wer die Praxis der Radfahrausbildung kennt, die fast in allen Grundschulen in der Bundesrepublik durchgeführt wird, muss sich wundern, dass dadurch die Kinder plötzlich, innerhalb von vier Wochen aus der extrem gefährlichen Inkompetenz zur sicheren Verkehrsteilnahme gefördert werden können.«

Aufklärung und Praxis­erfahrung ist das A und O

Das sieht auch Dr. Achim Schmidt so, der zusammen mit dem ACE und dem VCD das Projekt RADschlag, eine Informationsplattform für Pädagogen, Eltern und Trainer ins Leben gerufen hat. »Mit Laufrädern erlernen Kinder das Radfahren heutzutage deutlich früher. Kaum können sie es, bekommen sie allerdings in der Grundschule von Lehrern und Eltern wieder einen Dämpfer verpasst. Denn mit dem Wechsel von der KiTa auf die Grundschule wird die Radsozialisation meist nicht weitergeführt, obwohl die koordinative Schulung die Grundlage für die sichere Beherrschung des Fahrrads auch in Gefahrensituationen bildet.« Das Erlernen von Regeln wie es die Fahrradprüfung vorsieht, sei zwar wichtig, trotzdem könne sie zusammen mit den wenigen vorgesehenen Übungen Erfahrungen aus der Praxis nie ersetzen. »Kinder müssen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln und Handlungsreserven ausbilden können.« Was sich in der Praxis selbstverständlich anhört, wird seiner Erfahrung nach in der Regel weder in der Grundschule noch in weiterführenden Schulen praktiziert. »Oft fehlen einfach fahrradaffine Lehrer und vor allem Lehrerinnen, die den Schülern altersgemäß auch etwas zutrauen«, beschreibt er die Problematik. »Da übertragen sich oft eigene Unsicherheiten auf die Kinder.«
Um Lehrer an das Thema heranzuführen, empfiehlt er die Thematisierung durch interessierte Eltern, Vereine oder auch den örtlichen Fahrradhändler. »Lehrkräfte werden heutzutage mit einer Vielzahl von Informationen konfrontiert, die alle wichtig sind für die Entwicklung der Kinder. Da geht das Thema Fahrrad oft einfach unter.« Um das zu verhindern, hat RADSchlag zum Beispiel einen Fahrradparcours entwickelt, der flexibel auf die Bedürfnisse von Kindern bis zur siebten Klasse angepasst und entweder ausgeliehen oder in Eigenregie von Schulen oder Förderkreisen nachgebaut werden kann. Einen Bauplan gibt es im Internet zum Download. Viele Schüler trauen sich beim Parcours zum ersten Mal über Hindernisse zu fahren und sind danach über die eigenen Erfolgserlebnisse überrascht und entsprechend stolz. »Zwei Doppelstunden können hier sowohl bei den Schülern, wie auch bei den Lehrern für echte Aha-Erlebnisse sorgen und die Einstellung gegenüber dem Fahrrad nachhaltig verändern«, schildert Achim Schmidt die Erfahrungen auf dem Schulhof.

Muss die Fahrradbranche aktiver sein?

Auch für die Fahrradbranche sieht der Radexperte noch große Potenziale. Für Fahrradhändler bietet die Kooperation mit örtlichen Schulen zum Beispiel nicht nur Chancen in der Kundengewinnung und Kundenbindung, sondern auch bei der Nachwuchssuche. So gibt es an einigen Schulen inzwischen interessierte ältere Schüler, die gezielt von Fahrradhändlern darauf vorbereitet werden, jüngeren bei kleinen Reparaturen zu helfen.
Radsportvereine können ihre Hilfe anbieten und gezielt Mitglieder werben. »Gerade für kleinere Vereine geht es in den nächsten Jahren angesichts Mitgliederschwund, Überalterung und dem schlechten Image des Radsports ums Überleben. Das ist vielen noch nicht klar.«
Auch für Hersteller sieht er noch große Potenziale, das Radfahren mehr als bislang als selbstverständliche und beliebte Alltags- und Freizeitaktivität zu verankern. »Eines der Projekte in dem wir uns zusammen mit dem RadClub Deutschland und einem Förderkreis engagierter Branchenvertreter engagieren, ist die Initiative Schoolbike. Hier stellen wir dieses Jahr zehn Schulen 15 speziell für diesen Zweck entworfene hochwertige Fahrräder zur Verfügung. Zum Beispiel für Erkundungen, Fahrradausflüge, den Weg zum Sportunterricht und natürlich Übungen auf dem Schulgelände.« Angesichts des enormen Bedarfs ist diese Summe natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist auch Achim Schmidt klar. »Bis zu 10.000 Räder könnten wir bei dem Projekt sicherlich jährlich sinnvoll an die Schulen bringen.« Weitere Unterstützer sind also gerne willkommen.

15. Februar 2013 von Reiner Kolberg
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