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Die Fahrradambulanz von ­Hermann Lenert ist mit allem aus­gestattet, was eine Fahrradwerkstatt benötigt. Für knifflige Fälle, die ­trotzdem nicht vor Ort gelöst werden ­können, gibt es eine Abschlepp­vorrichtung.
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Report - Mobile Werkstätten

Schrauber auf Rädern

Es geht auch anders: Überall in Deutschland findet man mobile Werkstätten, die das Angebot an ­klassischen stationären Fahrradläden erweitern – in unterschiedliche Richtungen.

Heute scheint Mobilität über alles zu gehen. Wir fahren zur weit entfernten Arbeitsstelle, kaufen selten in der Nachbarschaft, weil es da zu wenig oder kein günstiges Angebot gibt, unsere Freunde oder gar Familien sind oft in aller Welt verstreut. Mobilität ist eine Grundvoraussetzung, um gut leben zu können, ein gewisser Zwang dazu ist leider kaum wegzudiskutieren. Aber umgekehrt ist ein hoher Mobilitätsfaktor auch eine Chance fürs Geschäft: Ist der Anbieter räumlich flexibler als andere, erleichtert er dem Kunden die Kontaktaufnahme. Das wird honoriert. Warum also gibt es das nicht im Fahrrad-Service-Bereich, zum Beispiel als Notfallhilfe? Das gibt’s, wenn auch bei weitem noch nicht flächendeckend.
In und um Hamburg kommt Felix Viole zu Hilfe. Sein Peugeot Kastenwagen ist nicht engelgelb sondern blau-weiß, aber mindestens genauso professionell gestaltet wie die bekannte Auto-Pannenhilfe und als Einsatzwagen erkennbar, nur das Drehlicht auf dem Dach fehlt. Auf der Motorhaube prangt ein klassisches Fahrrad-Symbol, an der Seite »mobiler Fahrradladen« und die Handy-Nummer. »Der Gelbe Engel muss doch auch für Fahrräder möglich sein«, sagte sich der heute 24-jährige Viole vor drei Jahren. Er ist gelernter Fahrradmechaniker, hat fünf Jahre in Werkstatt und Verkauf gearbeitet. »Service ist das Wichtigste«, erkannte Viole und ging die Sache konsequent an: Führerschein gemacht, Auto gekauft, es zum Werkstattwagen ausgebaut, losgelegt. Die Notfall-Pannenhilfe kommt allerdings fast ausschließlich an Sonn- und Feier­tagen zum Einsatz.

Custom Bikes zu Besuch

Werktags besucht der Hamburger seine Kunden zuhause. Er hat für nahezu jeden Reparaturfall das passende Werkzeug dabei, es darf auch mal etwas schwieriger werden. Radsportler, Familienausflügler, Sonntags- wie Alltagsradler – zu Violes Klientel gehören alle. Aber auch für den Fahrradkauf klingelt das Handy von Viole, und da scheint er mit seinem Custom­-Made-Angebot sogar einen Kundennerv getroffen zu haben: »Die Leute schätzen es, dass ich Ihnen zuhause und in Ruhe mein Angebot und Ihre vielfältigen Möglichkeiten zeigen kann, das macht noch mehr Spaß.« Er vertritt Marken wie Winora und deren Tochtermarken sowie die E-Bikes des Unternehmens, aber auch Spezialisten wie Hase Bikes sind im Programm. Im Wohnzimmer des Kunden wird beraten, vermessen und spezifiziert. Fünf Euro verlangt Viole für die Anfahrt, in den Außenbezirken sind es gerade mal zehn bis 15. Zwar gibt es direkte Mitbewerber, als Konkurrenz will er die beiden Hamburger, die mit dem Bike zu Kundenreparaturen radeln, nicht sehen. »Wir spielen uns sogar Aufträge zu«, sagt er, »je nachdem, wie es besser ins Portfolio passt.« Und auch die Fahrradläden der Region sähen seinen Einsatz fast durchgängig positiv. »Bei den Fahrradwerkstätten geht der Trend ja weg von Fremdrad-Reparaturen, viele sind froh, dass es mich gibt. Ich bin glücklich mit meiner Situation; es ist genau das Richtige für mich, und ich kann gut davon leben.« Und die Kunden honorieren es außerdem, dass seine Arbeitsstunde etwas günstiger ist als bei den stationären Kollegen in der City. Passt.

Familienfreundlicher Service

Was es für das Geschäftskonzept »mobiler Fahrradservice« unbedingt braucht: eine Region mit vielen Radlern. Das kann eine große Stadt sein, aber auch eine Kleinstadt mit außergewöhnlich hohem Radanteil, wie die mobile Zweiradwerkstatt von Tanja Knöfel in der Öko-Vorzeigestadt Deutschlands beweist. Sie ist mit ihrem Mercedes-508-Transporter älteren Baujahrs seit sechs Jahren in Freiburg und Umgebung unterwegs und bedient eine etwas enger eingegrenzte Klientel als der Hamburger Servicedienstleister: Vor allem Familien, die im Sommer gern mal zusammen radfahren, ältere Menschen und die typischen Arbeitspendler per Rad sind es, die bei ihr anrufen.
»Ich habe mitbekommen, wie frus­trierend es vor allem für Familien ist, wenn man im Frühjahr feststellt, dass das eine oder andere Fahrrad nicht einsatzfähig ist; dann muss es oft per Auto zum Händler gefahren werden, und womöglich müssen die Leute dann auch noch wochenlang darauf warten.« Stattdessen kann Papi auch den orangefarbenen Transporter mit dem großen Emblem der Mobilen Werkstatt rufen – ein Fahrrad mit einem Maulschlüssel, der beide Achsen verbindet. Knöfel arbeitet sehr
flexibel – das kommt ihren Kunden entgegen und auch ihr selbst als alleinerziehende Mutter. Kunden von der Straße hat sie dagegen kaum – »ab und zu bittet mich ein Stammkunde, der liegen bleibt und meine Telefonnummer im Handy hat, um Hilfe«, erklärt sie.

Reparieren, wo andere ­forschen

Die Hausbesuche sind aber nicht alleinige Einkommensquelle; in der Hochsaison hat Knöfels mobile Mon­tagewerkstatt zusätzlich feste Standplätze: Vor der Uni-Mensa oder vor Schwimmbädern gibt es immer Räder zu reparieren. Wo Knöfel wann anzutreffen ist, findet der Kunde auf ihrer Homepage www.mobile-zweirad-werkstatt.de . Die Zweiradmechanikermeisterin mit langjähriger Erfahrung wird aber auch gern zu Schulen oder Institutionen gerufen, wo man sich nachhaltig Gedanken um die ökologisch verträgliche Mobilität der Mitarbeiter macht – wie etwa zum Freiburger Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE.
Auch mit dem E-Bike kommt die Kundschaft allmählich zu ihr –Dank Laptop im Auto ist das kein Problem für sie, sondern eine weitere Chance. Und sie berät natürlich auch Kunden mit Wehwehchen in puncto Technik und Ergonomie.
In der geschäftlich ruhigen Zeit von Mitte Dezember bis Mitte Januar macht sie mit ihrem Kind Urlaub – »da sitzen wir gemütlich vorm Kamin. Das muss drin sein«, sagt sie. Obwohl sie ansonsten weitgehend ausgelastet ist und 48 Euro die Stunde abrechnet, ist sie froh, auch als Zweiradmechaniker-Ausbilder in der Akademie zu lehren. »Das Unternehmen ist, auch was den Arbeitsumfang betrifft, genau auf mich und meine Situation als alleinerziehende Mutter zurechtgeschustert«, erklärt die 39-Jährige. »Um mehr abzuwerfen, müsste man es größer aufziehen – mit Angestellten und mehreren Lkws.« Aber das fände Knöfel für Ihren Anspruch dann doch überkandidelt.
Heavy Tools on Bike
Nicht überkandidelt ist auch das Unternehmen des Kölner Hermann Lenert. Seine Fahrradambulanz rollt tatsächlich auf zwei Rädern zum Einsatzort – auf einem umgebauten Lastenrad, ähnlich dem klassischen Long John. Darauf: zwei feuerrote Kisten mit allem, was zur Reparatur auch an­­spruchsvoller Arbeiten gebraucht wird. Rund um die Kisten Reifen, Räder und ein robuster Profi-Montageständer. Lenerts Konzept: Kunden rufen ihn an, er kommt per Bike zu ihnen – unschlagbar günstige Werkstatt-Mobilität. Allerdings muss man schon richtig Bums in den Beinen haben, »die Fahrradambulanz kann schon mal 90 Kilogramm wiegen«, erklärt der gelernte Schlosser lächelnd. Von einem E-Motor lässt sich Lenert bislang nicht helfen. Aber Köln ist ja platt wie ein Pfannkuchen.
Ende der 80er-Jahre hatte Lenert nebenher im Rahmenbau gearbeitet, vor allem für den Reha-Bereich. Über die Zwischenstation als Schrauber im Zweiradladen kam er dann vor vier Jahren zum Reparaturservice. »Die Idee dazu erhielt er eigentlich von einem Freund. In Berlin gab es schon eine Fahrradambulanz, und was in Berlin geht, geht in Köln auch«, dachte sich Lenert. Und es geht.

Termine, Termine

Bis zu zwei Tage muss der Kunde in den Hochzeiten warten, bis das rote Reparatur-Rad vorfährt. Die Saison liegt bei Lenert ganz klar in der Zeit von März bis in den August: »Nach den großen Ferien sackt das Geschäft ab und bleibt auf einem gleichmäßig mittleren Niveau bis zum nächsten Frühjahr«, erklärt er. Über Umsatzmangel kann er sich trotzdem nicht beklagen: Lenert hat noch einen kleinen Laden in der Südstadt, einem sehr lebendigen, jungen Viertel Kölns. »Ich habe im Winter immer viel zu tun, und es wird eher mehr – bei den Spritpreisen heutzutage kein Wunder.« Dabei war der Laden ursprünglich nur als Lager gedacht, doch die Kunden kamen, und jetzt ist die Werkstatt an zwei Tagen die Woche offiziell geöffnet.
Dem Stadtteil entsprechend ist auch das Publikum sehr bunt, eine genau definierte Klientel findet sich eigentlich nur bei den Notfällen. Die Radler, die von unterwegs mit einem Schaden anrufen, sind meist ältere. Hier hat sich der Ambulanz-Einsatz bestens bewährt. Die allermeisten Schäden – vom Schaltungsdefekt bis zum losen Pedal – können gleich unterwegs behoben werden. Manches muss aber auch in der Werkstatt repariert werden. Auch für diesen Fall ist Lenert gerüstet: Auf dem Gepäckträger seines Rads ist eine Nabe einschließlich Schnellspanner montiert; am kaputten Velo wird das Vorderrad ausgebaut, die Achsaufnahme per Schnellspanner festgezurrt, und huckepack geht’s ab zur Stationärbehandlung.
Auf der Internetseite www.fahrrad­ambulanz.com findet man neben dem Angebot die Preise für alle gängigen Reparaturen, sauber gestaffelt nach Bereichen, wie Laufrad, Bremsen, Rahmen etc., und auch die wichtigsten Materialkosten sind hier veröffentlicht. Die günstigen Anfahrtskosten sind gestaffelt nach den Zonen der Kölner U-Bahn. »Trotzdem ist es nicht so selten, dass Leute 20 Euro für die weiteste Anfahrt zahlen, nur um dann ein Rücklichtbirnchen auswechseln zu lassen.« Lenert schüttelt den Kopf. »Aber das muss man einfach in Kauf nehmen.« Der Fitness-Faktor ist eben inklusive.

Auf dem Markt der ­Möglichkeiten

Statt seine Kunden zuhause zu besuchen, geht Ingo Witte mit seinem Team von der Schaltzentrale dorthin, wo er sie sowieso trifft – zum Beispiel auf den Wochenmarkt in Osnabrück. »Angefangen hat es als Job, um das Studium zu finanzieren«, erzählt der 37-Jährige. Damals studierte er Kulturwissenschaften in Hildesheim, in der Freizeit stand sein alter, umgerüsteter Bulli zu fixen Zeiten vor der Mensa. »Die Studenten waren froh, wenn sich jemand um die kaputte Bremse oder den platten Reifen gekümmert hat«, erinnert sich Witte, der vor dem Studium schon bei der Telekom eine Lehre absolviert hatte. Doch die Standgebühren waren ziemlich hoch, der Motor des alten VW-Bus flog ihm irgendwann um die Ohren, und das Studium der Kulturwissenschaften machte ohnehin nicht mehr allzu viel Spaß. Ergo: Der Selfmade-Servicedienstler stellte den Job gleich auf komplett andere Räder. Ein ausgedienter großer Marktanhänger für den Blumenverkauf wurde restauriert und als Werkstatt und Teilelager umgemodelt. Und seit sieben Jahren steht Witte nun mit bis zu vier Mitarbeitern auf drei Märkten in Osnabrück, dazu einen Tag im benachbarten Georgsmarienhütte.

Nachsaison ist Hochsaison

Das Konzept ist einfach: Marktbesucher bringen Ihr Rad zur Schaltzentrale und gehen einkaufen oder Kaffee trinken, bis die Reparatur oder Inspektion fertig ist. Auch größere Reparaturen können oft schnell gemacht werden. »Meine Stammkunden rufen manchmal auch vorher an, ob es heute klappt, oder ob sie lieber an einem anderen Tag kommen sollen«, sagt Witte. Und von wegen im Winter dicht machen: »Letzten Winter waren wir fast durchgängig zu dritt in Osnabrück, da war richtig was los.« Dabei mussten seine 400-Euro-Kräfte nicht frieren: Im Anhänger gibt es eine Gasheizung; die Werkstatt setzt sich aus dem Hänger selbst und den beiden ausklappbaren Planenwänden zusammen – inklusive Dach; selbstverständlich gibt es eine Werkbank und Montageständer, einen Rechner mit hochwertigem Kassenprogramm, das Komponenten-Lager ist perfekt bestückt. Sogar auf Zahlungskomfort müssen die Kunden nicht verzichten: Bei der Schaltzentrale kann man auch mit EC-Karte zahlen. Mittlerweile fragen Stammkunden auch immer öfter nach hochwertigen Rädern. »Wir machen sehr gute Arbeit, das bringt Vertrauen bei den Kunden, und sie kommen dann eben auch mit solchen Wünschen«, so Witte. Deshalb stellt er nun auf Wunsch auch hochwertige Custom-Make-Bikes auf Basis von Stahlrahmen eines bekannten Reiserad-Spezialisten zusammen – individuell von der Schaltung bis zum Lenkergriff.
»Als ich mobil anfing«, erzählt er mit einem Lächeln, »meinten die Händler in der Region noch, ich spinne«. Heute denkt das wohl keiner mehr.« Der Markt ist groß. Interessant bei diesem Konzept: Kunde und Dienstleister kommen sich ein Stück des Wegs entgegen; trotzdem ist es für den Kunden eine Erleichterung, weil er diesen Weg – wegen des Wochenmarkts ohnehin geht beziehungsweise fährt. Eigentlich nichts Neues: »In Bewegung bleiben« heißt das Zauberwort.

19. Oktober 2012 von Georg Bleicher
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