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Blick von oben auf den Spezi-Stand von Icletta
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Zurück in die Zukunft

19. Spezialradmesse: Mut zur Veränderung und neues Selbstbewusstsein

Mehr Action geht kaum: Die Besucher testen auf den Parcours was das Zeug hält, die Aussteller testen, welche Grundprinzipien der technischen Konstruktion unbedingt eingehalten werden müssen, und die Teilnehmer des Cargobike-Rennen testen, wie viele Wasserkästen und Blinde Passagiere ein Lastenrad eigentlich tragen kann. Richtig, wir sind auf der 19. Germersheimer Spezialradmesse, die dieses Jahr am 26. und 27. April stattfand. Ein Motto dieser – mit 107 Ausstellern und etwa 10.000 Besuchern wieder gewohnt erfolgreichen Messe - könnte geheißen haben: neues Selbstbewusstsein.

Blick von oben auf den Spezi-Stand von IclettaVeloschmitt: Nachbau eines NachkriegsklassikersVelogical: Kleiner E-Bike-AntriebMCS TruckNeues Modell der RadkutscheDopo Bike

Wer in Halle eins am Stand von Icletta vorbeikam, konnte dort das Trike sehen, auf dem Maria Leijerstam zum Südpol rollte. Staunend, fast andächtig stehen die Messebesucher neben dem Podest, auf dem das ICE-Trike mit Zwanzigzöllern mit 4,5 Zoll Breite präsentiert wird. Diese Situation kann man auch symbolträchtig sehen: Das Spezialrad ist erwachsen geworden – und es kann Dinge, die andere Räder nicht können.

Auch Spezi-Macher Hardy Siebecke spricht von einer Selbstverständlichkeit, mit der Spezialräder heute genutzt werden – ein aktuell ganz wichtiger Punkt ist der Boom der Lastenräder. „Das hätte man sich doch vor 19 Jahren, als ich anfing, noch gar nicht vorstellen können“, meint er. Und ein gewisser Stolz, mit viel Erfolg zu dieser Entwicklung beigetragen zu haben, ist Siebecke anzumerken.

Retro – Showtime für jung und Alt

Wer wäre wohl vor zehn Jahren auf die Idee gekommen, den Nachkriegs-Klassiker Messerschmitt Kabinenroller als Trike mit Pedalantrieb nachzubauen? Auf der diesjährigen Spezi wurde der Veloschmitt vom Karosseriebauer Achim Adlfinger und dem Designer Fred Zimmermann vorgestellt: Ein Tadpole-Trike – zwei Räder vorne, eines hinten – mit zwei hintereinander liegenden Sitzen. Allerdings kein Tandem: Nur der Captain vorne tritt in die Pedale, der Hintermann sitzt und genießt. Hinter ihm unterstützt ein Nabenmotor den Vortrieb – trotzdem dürfte der Fahrer mit dem 40 Kilogramm schweren Aufbau und dem Fahrgast einiges an Energie einsetzen, um das Gefährt auf der Pedelec-Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometer zu halten. Effizient ist am Veloschmitt aber vor allem die Optik: Von Form, Retro-Lackierung und dem „Früher“-Effekt des Fahrzeugs waren die Messebesucher sofort eingenommen. Gefahren werden konnte das knuffige Ding noch nicht, doch die erste Zehner-Serie soll noch im Frühjahr 2014 gebaut werden. Kostenpunkt: 4.800 Euro. Später wird’s teurer.
Der Veloschmitt ist nur ein Beispiel dafür, wie sich der Markt entwickelt hat. „Als wir vor 20 Jahren anfingen“, erzählt Paul Hollants, Geschäftsführer von HP Velotechnik, mit Hase Bikes der größte Spezialrad-Hersteller in Deutschland, „war das Spezialrad einfach ein Liegerad. Seither hat sich enorm viel getan. Heute hat das Liegezweirad vor allem seine Nische als Fernreiserad, das Trike ist hinzugekommen und hat den Markt umgewälzt.“ Nicht nur technisch: „Der ganze Markt inklusive der Händlerstruktur hat sich professionalisiert, was wir sehr begrüßen“, so Hollants. „Und die Diversifizierung geht weiter. Mit unserer Enduro wird das Trike sogar als Mountainbike entdeckt. Außerdem gewinnt der Reha-Bereich immer mehr hinzu.“
Bei Hase Bikes, deren Klientel schon immer auch aus dem Reha-Bereich kommt, sieht man das ähnlich. Hier ist auch der Einsatz eines E-Motors schon länger gang und gäbe, auch wenn es in den letzten Jahren natürlich deutliche Zuwächse gab. „2013 wurden etwa ein Drittel der Räder mit E-Motor verkauft“, erzählt Vertriebsleiter Stefan Moldenhauer. Und das ist noch nicht die Gesamtheit der unterstützten Hase Bikes, „denn viele unserer Händler“, so Moldenhauer, „rüsten unsere Räder später nochmals nach“. Für die Zukunft rechnet er allerdings mit einem Einpendeln der Motor-Rate auf einem hohen Niveau, „bei den E-Bikes wird es bald keinen weiteren Anstieg mehr geben“.

Kleinster und leichtester E-Bike-Antrieb

Munter wird im E-Bereich weiterentwickelt – auch in ganz neue Richtungen: Velogical stellt einen neuen Antrieb mit Reibrollen vor. Zwei Rollendynamo-kleine Motörchen sitzen links und rechts vor der Sitzstrebe und klappen bei Bedarf an die Bremsflanke der Felge. Eingeschaltet und geklappt wird derzeit per linkem Drehgriff am Lenker. Laut Ogando, Geschäftsführer von Velogical, regelt die elektronische Steuerung des Velospeeders den richtigen Anpressdruck der Motoren an die Felge. So soll er weder bei Regen den Kraftschluss verlieren noch Leistung durch zu hohen Druck verlieren. In Zukunft soll die Software, deren Steuerung im Akkupack-Täschchen im Rahmendreieck sitzt, den Pedelec-Betrieb zulassen, also bis etwa 25 Stundenkilometer unterstützen und dann abschalten. Dazu müsste auch die Dauerleistung von ca. 300 auf 250 Watt heruntergeregelt werden. Bei der ersten Probefahrt zeigte sich der Velospeeder flott, aber etwas laut – auch diese Eigenschaft soll mit der richtigen Ansteuerung noch behoben werden. Das Drehmoment ist gefühlt etwas geringer als heute gängige Pedelec-Motoren, was aber zu dem Nutzerprofil passt: Vor allem sportlich orientierte Fahrer, die Wert darauf legen, dass ihr Rad nicht sofort als E-Bike erkannt wird und der Motor nur bei Bedarf zugeschaltet wird. Mit einem 92-Wattstunden-Akku (bis zu drei im Set sind möglich) soll das System nur 1,6 Kilogramm wiegen.

Truck-Stop in Germersheim

Auch die Hersteller von Lastenräder scheinen sich gerade in eine neue Kreativitätsschleife geschwungen zu haben: Thomas Bernds zeichnet vor allem die Linie seines einspurigen Lastenrads weiter. Der Hinterbau hat die Gene des Faltrads, das Steuerrohr taucht aber aufrecht nach unten und davor, aber noch hinter dem Vorderrad befinden sich je nach Wunsch verschieden große und verschieden bestückte Ladeflächen. Von der einfachen, 50 Zentimeter großen Spanplatte über den riesigen Weidenkorb bis hin zur XXL-Platte oder der entsprechenden Kiste reicht das Angebot.
XXL gibt’s auch beim Österreicher MCS. Entwickler Paris Maderna baut seinen „Truck“ genanntes Cargobike so auf, dass keine indirekte Lenkung fällig wird, übernimmt also den Vorderteil vom „normalen“ Fahrrad mit 20- oder 26-Zoll-Bereifung und setzt die Ladefläche hinter dem Schnittpunkt von Sattelstrebe und Rahmenunterzug an. Die neue XL-Version hat eine „nur“ 60 Zentimeter lange Ladefläche, XXL klotzt mit 80 mal 60 Zentimetern bei 205 Zentimetern Radstand. 120 Kilogramm Nutzlast (zusätzlich zum Fahrer) sind drin. Hinten ist eine Elastomer-Federung Standard. Dank eines Auflagepunkts am Steuerrohr können auch mehrere Meter lange Teile transportiert werden. Der Einstiegspreis liegt bei 2650 Euro.

Auch sehr fleißig war die Macher der Radkutsche ( www.radkutsche.de ). Sie fuhren mit dem Modell Rapid schon wieder ein neues Lastenrad an den Start. Das Rapid ist wie manch anderes Lastenrad an das erfolgreiche Bullit angelehnt. Allerdings will man sich mit einigen Sicherheits-und Stabilitäts-Features vom Vorbild abheben; so hat das Rapid einen besonders groß dimensionierten Steuerkopf, um die Belastung des Materials vor allem beim Bremsen mit hoher Last besser zu verteilen. Die Ladefläche ist mit 82 Zentimetern EU-Paletten konform. Anders als das Bullit ist das Rapid speziell für den Pedelec-Einsatz entwickelt, und soll 200 Kilo Zuladung aufnehmen. Der Prototyp ließ sich bei kurzer Testfahrt flott bewegen, das Handling wird aber für langsames Fahren mit Gewicht noch feiner austariert werden. Der süddeutsche Hersteller gewann übrigens zum zweiten mal das samstägliche Cargobike-Rennen mit dem Modell Rikscha.

Auch mal mit den Händen kurbeln

Auch an Selbstverständlichem wird auf der Spezi fast schon traditionell gezweifelt: Wer sagt, dass Fahrräder nur per Bein angetrieben werden dürfen? Sechs Aussteller präsentierten kombinierte Arm- und Beinantriebe – so zum Beispiel Klaus Schorn mit Ruder Rad, der sein neues, jetzt serienreifes Ruder Flow präsentierte – ein einspuriger Lieger mit 28-Zöllern und zusätzlichem Ruderantrieb, der für bis zu 30 Prozent mehr Leistungsumsatz und entsprechend höherer Geschwindigkeit führen soll.

Neue Nische in der Nische

Ganz neu auch das Dopo Bike von Joachim Berger: Hier wird nicht gerudert, sondern gekippt, und zwar der Lenker: Ein Vorbau mit Drehachse sorgt dafür, dass der Lenker während der Fahrt abwechselnd links und rechts nach unten gedrückt wird und so über eine Kardanwelle und eine zweite Kette Kraft zum Tretlager übertragen werden kann. Siebecke sieht auf seiner Messe bereits eine ganz neue Nische in der Spezialrad-Nische entstehen, die HF-Antriebe. „Im Sportbereich können diese Konzepte, einmal ausgereift, durchaus erfolgreich sein.“ Die Hersteller werben schließlich vor allem damit, dass ihre Räder sowohl die Bein- als auch die Arm- bzw. Rückenmuskulatur trainieren.
Letzteres will der Trike-Fahrer dagegen nicht – zumindest nicht durch Schleppen seines Fahrzeugs. Auch wenn es einige faltbare Trikes gibt: Verglichen mit dem Falt-Zweirad sind Trikes nicht nur schwerer, sondern bislang auch wesentlich unpraktischer zu tragen. Der Prototyp von Eric und Alan Ball soll damit Schluss machen. Er wurde – sozusagen off the Record – auf der Spezi vor kleinem Publikum gezeigt. Beim Evolvetrike F16 geht falten in etwa sieben Sekunden: Liegesitz anheben, mit einem Seilzug die beiden Vorderräder – schwupp – an den Hauptrahmen heranziehen, den Vorderbau einklappen und wie einen Deckel den Sitz wieder nach unten klappen und feststecken. Das dann nur 35 x 53 x 123 Zentimeter große F16 lässt sich so wunderbar schieben und aufrecht hinstellen. Eine zweite Version mit 20-Zoll-Rädern nimmt nur etwas mehr Platz ein. In der ersten Fahrprobe erwies sich der Winzling als flink und erstaunlich verwindungssteif. Nächstes Jahr will das australisch-amerikanische Team von Evolvetrikes mit eigenem Stand nach Germersheim kommen.

Der Markt der jungen Alten

Doch wie sieht man ab von den Boomthemen Trike und Lastenrad Markt und Messe? Ein Dauergast auf der Messe ist das Brompton, für viele das Pendler-Faltrad überhaupt. „Die Messe ist für uns ein Must“, sagt Brompton-Importeur Henning Voss, auch wenn die eine oder andere Publikumsmesse in einer Großstadt vielleicht genauso wichtig ist. Hier kommen Interessierte und auch viele Spezialrad- und auch Brompton-Fans und Kenner – die würde man enttäuschen, wenn man der Spezi fern bliebe“, erklärt er. Denn für ständige Neuheiten ist die Traditionsmarke Brompton nicht unbedingt bekannt.
Mittlerweile etwa zwanzig Jahre im Business ist Arved Klütz mit seiner Marke Toxy und – seit vier Jahren – mit Trimobil, einem Dreirad mit drei Sitzplätzen bzw. der Möglichkeit zum Lastentransport. Auch er sieht die aktuelle Konzentration des Sektors auf das Dreirad in allen Bereichen. „Im sportlichen Bereich haben wir das nicht umgesetzt, weil andere besser dafür aufgestellt sind“, sagt er. „Aber auch der Markt an Liegezweirädern stagniert unserer Erfahrung nach nicht, der Kundenkreis erweitert sich langsam, aber ständig. Nicht zuletzt steckt auch eine demographische Entwicklung dahinter.“

Die viel zitierten „jungen Alten“ steigen wieder aufs Fahrrad – ein Kundenkreis, der das besondere schätzt und sich gute Qualität leisten kann. Das dritte Fahrrad ersteht man also mit den dritten Zähnen? Momentan sieht es jedenfalls so aus, als würde das Spezialrad in Zukunft einen noch höheren Stellenwert einnehmen.

30. April 2014 von Georg Bleicher

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