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Schulung - Familie als Zielgruppe

Baby on Board

Nach der Geburt eines Babys kehren viele Eltern dem Fahrrad den Rücken. Eine Studie zu den Gründen mündete auch in Vorschläge, wie diese Abkehr vom Bike rückgängig gemacht werden könnte. Die Ergebnisse sind auch für Fahrradfachhändler interessant.

Hannah Eberhardt (links), Projektleiterin, und Anna Gering (rechts), Verkehrsplanerin

An dem Projekt »Fördern und Stärken der Fahrradnutzung nach der Geburt von Kindern«, das von Mitte 2015 bis Ende 2018 lief, nahmen etwa 650 vor allem radaffine Menschen teil. Die Studie ist zwar nicht repräsentativ, relevant sind die Ergebnisse trotzdem, denn es sind die einzigen, die bisher bundesweit zu diesem Thema gewonnen werden konnten.

Sorgen und Bedürfnisse

Ein wichtiger Teil der Untersuchung war die Frage nach den Gründen für die Abkehr vom Fahrrad. »Im Zuge unserer bundesweiten Onlinebefragung unter Schwangeren und Eltern mit Baby fanden wir heraus, dass vor allem die Angst vor einem Unfall der Hauptgrund (53 Prozent) ist«, weiß Anna Gering, Verkehrsplanerin und am Projekt maßgeblich beteiligt. Eine Angst, die bei Menschen, die weniger fahrradbegeistert sind, wohl noch höher sei. »An zweiter Stelle wurde genannt, dass das Kind noch zu klein sei, um mit dem Fahrrad mitgenommen zu werden. Dies beruht teilweise auf dem Gedanken, das Kind müsse dafür bereits selbstständig sitzen können, dem ist aber nicht so.«
Thilo Gauch, der in Heidelberg als einer der Geschäftsführer von Electric Bike Solutions das Projekt von Händlerseite aus unterstützte, indem er bei diversen Veranstaltungen Lastenfahrräder zum Testen bereitstellte, sieht noch einen weiteren Grund: »Mit dem ersten Neugeborenen müssen Eltern in der Regel noch keine weiten Strecken zurücklegen. Auch die Wegzeiten spielen nicht die große Rolle. Man muss zum Supermarkt oder zum Spielplatz um die Ecke, vielleicht mal zum Arzt. Für viele Eltern befinden sich diese Ziele in Laufreichweite, die mithilfe des Kinderwagens zurückgelegt werden können.« Als Vater von zwei Kindern erinnert er sich daran, dass er wie andere »frischgebackene Eltern in den ersten Monaten in der Regel auch andere Prioritäten hatte, als Fahrradtouren mit der ganzen Familie zu unternehmen«. Das Bedürfnis, weitere Strecken zurückzulegen, entstehe meist erst nach einem halben Jahr. Dann stünden Treffen mit der Krabbelgruppe oder Wochenendausflüge an. »Spannend wird es, wenn die Elternzeit vorbei ist, das Kind jeden Morgen pünktlich in der Kita und die Eltern am Arbeitsplatz sein müssen. Spätestens dann schaffen sich viele Familien einen Anhänger oder ein Lastenfahrrad an. Richtig spannend wird es, wenn schon ein Geschwisterkind da ist und das Neugeborene einfach mitmuss. Dann stellt sich nicht mehr die Frage nach dem Ob, sondern nur noch die nach dem Wie.«

Eltern sollten mit Baby holprige Untergründe meiden sowie mit angemessener Geschwindigkeit fahren.Hannah EberhardtProjektleiterinAnna GeringVerkehrsplanerin

Anhänger oder Lastenfahrrad?

Hannah Eberhardt, Geografin und Leiterin des Projekts »Fördern und Stärken der Fahrradnutzung nach der Geburt von Kindern«, bekräftigt, dass Säuglinge ab etwa drei Monaten in einem Fahrradanhänger oder Lastenrad mit speziellem Babyeinsatz mit Anschnallgurten mitgenommen werden können. Dies würden auch Hebammen bestätigen. »Dann haben sich die Muskeln bereits so weit entwickelt, dass die Babys ihr Köpfchen mehr als direkt nach der Geburt stützen können. Anhänger wie Lastenrad sollten aber eine gute Federung haben, um Stöße abzufangen.«
Spezielle Sitze, Hängematten, Babyschalen-Halterungen etc. seien zwingend, appelliert auch Thilo Gauch. »Für den Anhänger spricht, dass man ihn auch als Kinderwagen nutzen und ihn so z. B. mit in den Supermarkt nehmen kann. Das geht beim Lastenfahrrad nicht. Auch in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln, z. B. Nahverkehrszügen, hat man mit dem Anhänger keine Probleme. Beim Lastenrad kommt es auf das konkrete Modell an. Lastenräder stehen dafür sofort einsatzbereit vor der Tür, während der Anhänger vor einer Fahrt oft erst noch an das Fahrrad angekuppelt werden muss. Außerdem sprechen für das Lastenrad die längere Nutzungsdauer sowie das Erlebnis für die Kinder dank der freien Sicht, sobald die Kinder gut sitzen können.« Anna Gering gibt ihm recht, dies sei auch ein Ergebnis der Studie gewesen. Lastenräder hätten bei Eltern auch einen hohen Reiz: »Sie sehen direkt, wie dem Baby das Radeln gefällt. Es sollte auch abgewogen werden, wie der Alltag genau gestaltet ist, um zu sehen, was besser passt.« Dabei empfindet sie das Abkuppeln des Anhängers eher als Vorteil. »Ist der Anhänger abgekuppelt, kann das Rad auch allein genutzt und gegebenenfalls auch mal eine Treppe hinuntergetragen werden. Lastenräder sind schwer, brauchen ausreichend Platz zum Abstellen und sind deutlich teurer als ein Fahrradanhänger.«
Beim Faktor Sicherheit schneidet der Anhänger bei Gering und Eberhardt besser ab, obwohl er sich hinter dem Rad befindet. »Durch einen Rückspiegel bleiben die Babys im Blick. Im Gegensatz zu Lastenrädern verfügen Anhänger über einen Überrollbügel, der im Falle eines Unfalls die Kinder wie in einem geschützten Käfig umgibt.« Einen Helm tragen die Säuglinge weder im Anhänger noch im Lastenrad. »Zum einen gibt es so kleine Fahrradhelme nicht, zum anderen würde durch den Helm die Halswirbelsäule in eine unnatürliche Position gebracht.«

Hebammen spielen eine wichtige Rolle

Um Eltern für die Mitnahme ihrer Babys zu begeistern, wendeten sich Gering und Eberhardt neben Kinder- und Jugendarztpraxen, Klinken mit Geburtshilfeeinrichtungen, Praxen für Gynäkologie, städtischen Ämtern und Vereinen auch an Hebammen. »Hebammen sind eine der wichtigsten Bezugspersonen für Schwangere und junge Eltern«, begründet Gering dieses Vorgehen. Gefragt wurde, ob sie von werdenden Müttern zum Radfahren befragt werden, und falls ja, welches die häufigsten Fragen waren.
Dabei stellte sich heraus, dass Hebammen meist nur von eigenen Erfahrungen berichten können. »Es ist nicht Teil der Ausbildung und kein Schwerpunkt der Arbeit von Hebammen.« Da der Wissensdrang jedoch groß war, »haben wir Workshops, bestehend aus einem Theorie- und einem Praxisteil, für sie konzipiert und insgesamt sieben Mal durchgeführt.« Neben dem gesetzlichen Rahmen wurden Mitnahmeoptionen wie Lastenrad, Fahrradanhänger sowie die verschiedenen Babyeinsätze vorgestellt und auch getestet, um mögliche Berührungsängste abzubauen. »Die Rückmeldungen der teilnehmenden Hebammen waren sehr gut. Sie fühlten sich sehr gut informiert, waren dankbar für diese Art der Fortbildung und genossen das kostenfreie Testen von Anhängern und Lastenrädern.«

Geschmacksfragen beim Lastenfahrrad, wie z. B. Holzkiste oder nicht, klärt meist der Familienrat zu Hause.Thilo GauchGeschäftsführer von Electric Bike Solutions

Testfahrten sind wichtig

Kostenfreie Testfahrten sind ein niederschwelliges Serviceangebot auch für Eltern. Im Rahmen des Projekts »Fördern und Stärken der Fahrradnutzung nach der Geburt von Kindern« fanden diese z. B. bei einem Tag der offenen Tür, bei Stadt- und Mobilitätsfesten und weiteren Gelegenheiten in und um Heidelberg statt. Etwa 250 Personen wurden auf diesem Weg erreicht. »Die Ergebnisse der Evaluation zeigen, dass diese Aktionen Eltern sehr geholfen haben, sich darüber klar zu werden, wie sie mit ihrem Baby unterwegs sein können. Auch hat das Angebot dazu beigetragen, dass sich Eltern im Nachgang für einen Anhänger- oder Lastenradkauf entschieden haben. Es kann also einen direkten Einfluss auf das Mobilitätsverhalten von Familien haben. Da es kostenfrei war, war es auch allen sozialen Schichten zugänglich.«

Die Rolle der Fahrradhändler

Für Thilo Gauch zählen Testfahrten ebenfalls zu einem der wichtigsten Punkte der Beratung: »Wir bieten am Ende des Entscheidungsprozesses auch eine Wochenendausleihe für den Praxistest an, denn letzte Fragen müssen geklärt werden: Schaffe ich es auch den steilen Hügel, der auf dem Weg liegt, hoch? Passt das Lastenfahrrad durchs Gartentürchen und neben das Auto in die Garage? Werden alle noch offenen Fragen positiv beantwortet, entscheiden sich gefühlt mehr als 90 Prozent der Testfahrer dafür, das Lastenfahrrad zu kaufen.« Vor der Testfahrt liegen aber schon einige Stunden Kundenkontakt, vor allem bei der Frage »Lastenfahrrad – ja oder nein?«. »Das Lastenfahrrad ist für Händler beratungsintensiv. Eine Beratung kann schnell drei Stunden oder länger dauern und sich oft über drei Wochenenden ziehen.«
Es gebe nämlich ein paar Knackpunkte, deren hierarchische Reihenfolge in der Beratung aber kundenabhängig sei. Einer sei z. B. der Preis. »Sollen alle Anforderungen erfüllt sein, ist man schnell im Bereich von 4.000 bis 6.000 Euro. Beim Thema Sicherheit liegt der Fokus auf der Frage: Kann ich das Rad überhaupt steuern? In der Regel möchten auch beide Eltern das Lastenfahrrad fahren. Sind sie deutlich unterschiedlich groß, ist die Suche nach einem passenden Modell zwar schwieriger, aber trotzdem zu lösen«, erzählt Gauch aus seiner Beratungspraxis. Das perfekte Lastenrad gebe es nicht, deshalb müsse man sich gut überlegen, was einem wichtig ist und was weniger. »Insgesamt sind die Familien mit ihren Lastenrädern aber sehr zufrieden und möchten das damit einhergehende Lebensgefühl nicht mehr missen.«

Bessere Infrastruktur notwendig

Eine bessere Infrastruktur, die auch mehr Sicherheit bietet, könnte den Weg zum Fahrradfahren weiter ebnen, ergab die Evaluation des Projekts zur Stärkung des Radfahrens mit Baby. »Ausreichend Platz für den Radverkehr einplanen oder wohnortnahe Fahrrad-Abstellmöglichkeiten einrichten«, empfehlen Gering und Eberhardt gleichermaßen. Darüber hinaus seien Informationen und Serviceangebote zum Thema Mobilität schon während der Schwangerschaft hilfreich, da sich Eltern bereits in dieser Phase Gedanken um ihre Mobilität mit Kind machen. »Ein schönes Serviceangebot ist etwa ein Gutschein, um z. B. Carsharing, ein Lastenrad, Bus und Bahn einen Monat kostenlos zu testen.«
München geht diesen Weg seit Juni 2014 mit dem Projekt »Go!Family«. »Hierzu gehört das kostenlose Ausleihen von Kindertransporträdern oder einem Kinderfahrradanhänger mit Elektrofahrrad, das ›Münchner Kindl‹-Ticket, ein kostenreduziertes Monats-ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel, sowie das Carsharing-Familienpaket, das eine kostenlose Mitgliedschaft für ein Jahr beinhaltet – ohne Kaution, Anmeldegebühr und monatliche Grundgebühr«, berichtet Bianca Kaczor von den unterschiedlichen Angeboten. Im Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt München ist sie für Mobilität und Stadtentwicklung zuständig. Bis zu zwölf Monate nach der Geburt eines Kindes können Eltern sechs Tage lang Kindertransporträder oder Kinderfahrradanhänger kostenlos testen. Fällt eine Kaufentscheidung, erhalten sie zudem sechs Prozent Rabatt auf den Kaufpreis. Basis des Projekts ist ein Stadtratsbeschluss, der laut Kaczor auch den finanziellen Rahmen festlegte. »Uns steht, zunächst bis 2021 befristet, ein jährliches Budget von 80.000 Euro zur Verfügung.« Dieses würde auch genutzt. »Seit Projektstart sind etwa 2500 Bestellungen für den Gutschein zur Nutzung des Rads bzw. des Anhängers eingegangen«, sagt Bianca Kaczor. Derzeit werde auch deshalb über eine Projektausweitung beim Modul »Fahrrad« nachgedacht.

6. Juli 2020 von Dorothea Weniger
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