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Porträt - Thun

Bereit für das zweite Jahrhundert

Der Komponentenhersteller Alfred Thun GmbH hat sich mit einem aufwendigen Rebranding-Prozess fit gemacht für die Zukunft. Dabei beweist die Firma einen differenzierten Blick auf die eigene Unternehmenskultur und zeigt, dass sie kein Hidden Champion mehr sein will, sondern große Pläne hat.

Alex Thun steht in einem weitläufigen Raum zwischen einem großen Tisch und der Arbeitsfläche einer industriell anmutenden Küche. Früher sei hier die Betriebskantine gewesen, erzählt der Co-CEO der Alfred Thun GmbH. Inzwischen können sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst mit Getränken bedienen, die Küchengeräte und Arbeitsflächen nutzen und sich mit ihrer Zeitung, dem Smartphone oder einem Gesprächspartner an der Tafel niederlassen. Aus dem Fenster fallen die Blicke auf waldbedeckte Hänge.
Die ehemalige Kantine ist nicht der einzige Raum am Firmenstandort in Ennepetal im südlichen Ruhrgebiet, der an vergangene Zeiten erinnert. Es wurde und wird viel in den Standort investiert, erzählt Thun. Dennoch ist an vielen Stellen der teils etwas eingestaubte Retro-Charme anderer Jahrzehnte zu spüren.
Dass die Firma die Investments nicht scheut, hat mehrere Gründe. Zum einen geht es dem Unternehmen derzeit finanziell sehr gut. In den Jahren 2020 bis 2022 konnte Thun hohe zweistellige Wachstumszahlen erwirtschaften. Auch die Jahre nach dem Fahrrad-Boom überstand der Hersteller zumindest ohne Verluste.


Seit 1935 produziert Thun am gleichen Standort in Ennepetal Fahrradteile. Co-CEO Alex Thun führt das Familienunternehmen in vierter Generation.

In den Produktionshallen, umgeben von Wald und direkt am Fluss Ennepe gelegen, produziert Thun bis zu zehn Millionen Vierkantinnenlager pro Jahr und ist damit Marktführer in diesem Segment. Alles beginnt mit Walzdraht, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wellen stauchen und mit Gewinden versehen. Viele weitere Schritte, etwa die Endmontage, laufen automatisiert ab. Auch die Produktionshallen modernisiert Thun aktuell teilweise. Schon zu Gründungszeiten hat der Hersteller nur wenige Kilometer vom aktuellen Standort entfernt produziert. Vor mehr als 90 Jahren wurde das jetzige Areal bezogen und das Gebäude über die Jahrzehnte sukzessive erweitert.
Zwischen 30 und 40 Wellenlängen kombiniert Thun in einem Baukastensystem mit verschiedenen rechten und linken Adaptern sowie unterschiedlichen Kugellagern und gegebenenfalls Hülsen. Wer ein Vierkantinnenlager erwerben möchte, müsste bei dem Hersteller also fündig werden. Insbesondere im Einstiegssegment sind die Thun-Innenlager verbreitet. Es gibt zwar auch Thun-Tretlager, die die Firma für den After-Market verpackt, die Umsätze in diesem Segment sind jedoch verschwindend gering. Den Großteil der Innenlager verbauen OE-Kunden. Thun beliefert viele große und sehr große Hersteller.

Die vierte Familiengeneration

Dass Thun sich mit den gebildeten Rücklagen nun investitionsfreudig zeigt, liegt auch darin begründet, dass der Hersteller ein Familienunternehmen ist. Als Kind ist Alex Thun, anders als sein Vater oder Großvater, nicht im Umfeld des Unternehmens aufgewachsen. Als er als Teenager erste Kontakte mit der Firma hatte, erinnert Thun sich, dass er mit den Innenlagern nicht viel anfangen konnte. Die Fahrradindustrie hingegen habe es ihm dann doch angetan. Maßgeblich dafür seien inspirierende Gespräche mit Ulrike Saade von Velokonzept oder Ex-VSF-Chef Albert Herresthal gewesen.

2020 und damit bekanntlich in einer spannenden Phase der Fahrradindustrie übernahm Alex Thun dann als Co-CEO die Geschäftsführung. Die Rolle teilt er sich mit seinem Vater, Enkel des gleichnamigen Gründers Alfred Thun, der gemeinsam mit Alexs Tante das Unternehmen als Gesellschafter besitzt. Auch Alex Thuns Mutter arbeitet als Prokuristin im Betrieb. Zusätzlich zu zwei bis drei Meetings pro Woche mit der gesamten Geschäftsleitung trifft Alex Thun sich jede Woche zum Austausch mit seinen Eltern. »Das läuft gut mit meinen Eltern«, beschreibt er die enge Zusammenarbeit. Er schätzt die kurzen Entscheidungswege und auch, dass seine Eltern sich wirklich verantwortlich fühlen für den Betrieb: »Mein Vater bedankt sich bei jeder Weihnachtsfeier und Belegschaftsversammlung bei den Mitarbeitenden. Dabei kommen ihm immer die Tränen – ein Ausdruck echter Dankbarkeit und Nähe.«

Thun hat in den letzten Jahren viel in die Produktionshallen und Büroräume in Ennepetal investiert. Viel Charme vergangener Dekaden ist trotzdem noch übrig.

Das Unternehmen, welches bereits seit seiner Gründung Fahrradteile mit im Programm führt, konnte 2019 sein 100-jähriges Jubiläum feiern und blickt somit auf eine lange Geschichte zurück. Einen Namen machte die Firma sich im 20. Jahrhundert zunächst mit Kurbeln. Thun erzählt: »Mein Großvater hat das Ganze auf ein ganz anderes Level gehoben, weil er in den 1960er-Jahren den Prozess zum Kaltschmieden von Kurbeln erfunden hat. Das war der große Durchbruch. Später kamen dann Alukurbeln hinzu und wir hatten hier fast 500 Mitarbeitende am Standort in Ennepetal.« Auch Pedale, Kettenblätter und Steuersätze hatte das Unternehmen früher im Sortiment. Nach hochkonjunkturellen Phasen in den 50er- bis 70er-Jahren geriet Thun Ende des 20. Jahrhunderts durch Preise, die aufgrund von Offshoring sanken, unter Druck. »Gegenüber diesem Wettbewerb aus Asien konnten wir nicht standhalten und haben uns schlussendlich verkleinert«, so Thun. Sein Vater richtete die Firma auf Vierkant-Tretlager aus, insbesondere mit Kunststoff-Adaptern. In diesem Segment ist Thun Weltmarktführer. Andere Produktgruppen gab das Unternehmen damals auf.

Ein weiteres Jahrhundert

Doch das soll sich wieder ändern. Im Nachgang des 100-jährigen Firmenjubiläums wurde dem Thun-Team klar, dass es Antworten auf große gesellschaftliche Fragen und eine langfristigere Unternehmensstrategie braucht, wenn das Unternehmen sein 200-jähriges Jubiläum auch noch erleben soll. Die Thuns beschlossen schon damals, den Herausforderungen der Firma mit einem umfangreichen Rebranding zu begegnen, das während der pandemiebedingten Hochkonjunktur, dem Krieg in der Ukraine sowie der Energiekrise und später wegen Kurzarbeit zunächst verschoben werden musste.
2023 war es dann trotz einer anhaltenden Marktkrise endlich so weit und der Prozess aus Befragungen, Workshops und Agenturleistungen wurde angestoßen.

»Vor dem Rebranding hatten wir einen ganz anderen Vibe hier.«

Alex Thun, Co-CEO Alfred Thun GmbH

An einem zweitägigen Workshop zur Markenstrategie Anfang 2024, den Thun als wohl essenziellsten Schritt des Rebrandings ansieht, nahm unter anderem Drais-Geschäftsführer Gunnar Fehlau als Branchen-Experte teil. Er war es, der die Rolle Thuns in der Fahrradindustrie mit einer Analogie auf den Punkt brachte, erinnert sich der Geschäftsführer. Die Branche ließe sich demnach wie ein Rosinenbrötchen betrachten. Die wenigen sehr hochwertigen und hoch entwickelten Fahrräder und Komponenten entsprechen den Rosinen. Der Großteil des Brötchens und übersetzt auf die Branche auch ein Großteil der verkauften Produkte bestehe allerdings aus Teig. »Gunnar hat sich hier hingestellt und gesagt: Leute, ihr habt nur Teig.« Diese Erkenntnis traf einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schmerzlich. Sie erwies sich rückblickend jedoch als guter Ausgangspunkt für den weiteren Rebranding-Prozess.

Mehr als ein neues Logo

In vielen Schritten erarbeitete das Team Hand in Hand mit externen Profis Ziele, Unternehmenswerte und weitere Inhalte. Auch ein neues Logo mit auffälligen Farben ersetzte das alte, in Schwarz gehaltene Emblem. Die ersten Reaktionen enthielten viele kritische Stimmen. »Wir sind ja kein spanischer Mobilfunkanbieter. Das ist uns zu bunt«, erinnert sich Thun exemplarisch an eine von ihnen. Dennoch entschied sich die Geschäftsführung für den gewagtesten der Entwürfe. Das neue Image, so die Idee, dürfe der Realität ruhig ein paar Jahre voraus sein.
Neben dem neuen Logo zeigten die mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herausgearbeiteten Unternehmenswerte, dass Thun ein ehrliches, nahbares, wegweisendes, verantwortungsvolles und qualitätsbewusstes Unternehmen ist beziehungsweise es werden soll. Das Interesse, die Zukunft der Firma zu prägen, war groß, sagt Thun: »Es waren viele bei den Workshops dabei.« Der partizipative Ansatz hat sich auf mehreren Ebenen gelohnt. Die Mitarbeitenden identifizieren sich mit der Marke. Merchandise, das es zum Launch als Geschenk für alle gab, haben viele zusätzlich von ihrem eigenen Geld gekauft. Inzwischen gibt es die Produkte für alle umsonst. Viele tragen die Kleidungsstücke mit dem runden, rot-orangenen Logo nun bei der Arbeit.
Mit dem Rebranding habe sich eine entspanntere, persönlichere Grundstimmung im Unternehmen verbreitet, erklärt Thun: »Vor dem Rebranding hatten wir einen ganz anderen Vibe hier«. Inzwischen kommuniziere ein Großteil der Belegschaft per du. Auch Thun handhabt seine Begegnungen mit einer persönlichen Note und verteilt High-Fives und lässige Handschläge, als er durch den Betrieb läuft. Er erinnert sich noch, als er vor 15 Jahren das erste Mal bei einer Sitzung des Zweirad-Industrie-Verbands teilnahm. Damals trugen fast alle Teilnehmenden Anzug und siezten sich in ihren Gesprächen.

Aus Walzdraht entstehen die Wellen, das Herzstück der Vierkanttretlager. In Zukunft sollen Kurbeln dem Weltmarktführer endlich wieder neue Märkte eröffnen.


Vielleicht ist das Unternehmen Thun durch den Rebranding-Prozess kulturell auch einfach etwas mehr an die Fahrradbranche herangerückt. Das ist zumindest eins der erklärten Ziele: »Wir wollen das Mindset eines metallverarbeitenden Betriebs hinter uns lassen und uns als selbstbewusste Marke für Fahrradkomponenten und Teil der Fahrradkultur verstehen.«
Für Thun fühlte sich das Unternehmen trotz der langen Geschichte in den vergangenen Jahren manchmal wie ein Start-up an. Das Rebranding lässt sich auch symbolisch werten, als Zeichen des Übergabeprozesses zwischen den verschiedenen Generationen. Zwischen ihm und seinen Eltern habe es dabei stellenweise auch geknirscht, sagt Thun. Und auch ihm selbst verlangte der Prozess ab, flexibel zu sein. »Ich bin in das Rebranding reingegangen und bin davon ausgegangen, dass das Kernthema Nachhaltigkeit wird.« Wichtig findet er das Thema weiterhin. Doch ihm und seinem Team wurde nach Beratungen durch externe Experten und Expertinnen klar, dass nachhaltig sein heute eher selbstverständlich sein sollte: »Die Nachhaltigkeitsexpertinnen und -experten haben uns gesagt: ›Darum baut man doch keine Marke mehr. Das macht man halt. Ihr würdet ja auch nicht sagen: Marke Thun – wir sind super, weil wir exorbitant gute Buchhaltung machen‹.«

Ein Hidden Champion wird sichtbar

Mitte 2024 war Thun dann bereit, die neue Marke auf der Eurobike zu launchen, in internen Schulungen zu vermitteln und auf einer Rebranding-Party mit dem gesamten Team zu feiern. Das Feedback von außen wie innen sei sehr positiv, freut sich Thun. Auf der letztjährigen Eurobike zeigte sich das neue Design als Showstopper. Am Stand von Thun hielten viele Menschen an und führten lebhafte Gespräche.
Als Ausstellungsstück präsentierte der Hersteller damals zudem auch wieder eine Neuheit, den Prototyp einer Kurbel. In den 90ern stellte die Firma noch die sogenannte Revolution-Kurbel her, laut Thun damals die erste Kurbel mit einem ausgesparten Fenster. Das neue Produkt, an welchem seit 2022 getüftelt wurde, soll ein neues Standbein aufbauen. Nicht zufällig soll zunächst eine E-Bike-Kurbel im nächsten oder übernächsten Jahr auf den Markt kommen: »Wir sind eine der wenigen Firmen, die bis vor Kurzem kaum von dem E-Bike-Trend profitieren konnten.«
Bei Thun freut man sich darauf, mit der neuen Kurbel als Marke wieder sichtbar zu sein. Auch das ist ein ausgemachtes Ziel des Rebrandings. Früher verstand man sich als Hidden Champion mit einem unsichtbaren Produkt: »Damals hatten wir mal mit der Idee gespielt, ›Obviously Invisible‹ als Marken-Claim zu nehmen.« Als Marke mit einem unsichtbaren Produkt bekannter zu werden, ist eine Herausforderung. Zur Natur des Tretlagers sagt Thun: »Ohne Innenlager funktioniert es nicht. Das muss auch ganz offensichtlich eine sehr gute Qualität haben. Aber du siehst es nicht.«
Mit den E-Bike-Kurbeln soll die neue Produktpalette nicht aufhören. Auch für unmotorisierte Räder wolle Thun Kurbeln anbieten und arbeite zudem bereits an den nächsten Produkten. Die geschmiedeten Kurbeln werden in der Produktion in Ennepetal bearbeitet. Für den B2C-Markt soll künftig ein CNC-gefrästes Produkt hinzukommen, mit einer eigenen Marke für die neue Zielgruppe.
All diese Schritte sollen dazu beitragen, dem Vermächtnis des geschichtsreichen Unternehmens gerecht zu werden und die nächsten 100 Jahre Unternehmensgeschichte zu sichern. //

29. September 2025 von Sebastian Gengenbach

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