Messe Kolektif Berlin
Coole Kollektionen, starke Sounds und Standards
(…) die Aussteller-Vielfalt in der historischen Halle. Wer eine typisch berlinerische, freakige Messe von kreativen Köpfen und Brands gehofft hatte, wurde sicher nicht enttäuscht, doch auf den ersten Metern nahm man im Motorenwerk vor allem bekannte, alteingesessene Hersteller wahr: Vom Eingang aus steuerte man auf einen gewaltigen Garmin-Stand zu, gleich daneben zeigte Uebler seinen „Testsieger“ in Sachen Fahrradträger, ein Stück weiter präsentierte Rose Bikes unter dem Slogan „Reclaim the Streets“ sein neues Urban E-Bike. Dieses war auch schon einziger Tagespunkt der Auftaktvorstellung für die Presse am Freitagabend.
Der dunkle Charme des Motorwerk
Es war meist viel los in der 1000 Quadratmeter großen Halle, in der vor fast genau hundert Jahren tatsächlich begonnen wurde, Elektromotoren zu bauen. Bespielt wurden das gesamte Erdgeschoß sowie die Galerie im ersten Stock. Zum Testfahren gab es im Freigelände links und rechts der Halle die Möglichkeit. Laut Veranstalter kamen an den zweieinhalb Tagen etwa 6.000 Besucher und Besucherinnen, um die Produkte von 80 Aussteller – darunter etwa die Hälfte aus Deutschland – zu sehen. Für 13 davon war es ein Berliner Heimspiel. Zum Mitmachen regten zwei Rennen an: Eines für Lastenräder und das „Last Wo/Man Standing“ für Fixiefahrer und Fahrerinnen, das auf die Kartbahn Marzahn ausgelagert war.
Wer wegen der Kreativen gekommen war, konnte sich ebenfalls direkt am Eingang schon anregen lassen, an einem Sammelstand von etwa einem Dutzend Berliner Rahmenbauern. Unter anderem auf ihre Initiative war die Kolektif-Gründung zurückgegangen, als 2019 kurzfristig die Berliner Fahrradschau abgesagt worden war. So sollten diese unterschiedlichen kleinen Hersteller einen Ehrenplatz in der Show bekommen. Allerdings wurde der Sammelstand von vielen Besuchern eher als Einstimmung in die Messe wahrgenommen. Stehen blieb man bei den Einzelständen. Etwa bei Kleinserien-Renner wie Dankward, eine von einem „Radhändler aus Zufall“ wieder ausgegrabene alte Marke, die in Kiel und Braunschweig firmiert. „Wir sind die Marke aus dem Norden, das ist unser Erkennungszeichen“ sagt Tim Hilz, der Gründer. Mit einem Straßenrenner, einem Gravelbike und einem Endurance-Renner stehen drei Modelle stehen zur Auswahl, die man sich bei einer Beratung vom Chef fein bestücken lassen kann. Unter anderem arbeitet man mit dem Laufrad-Produzenten Lilienthal zusammen. Der Einstieg liegt im Alu-Bereich (Gravelbike) bei 3.000 Euro.
Edles Titan individualisieren
Ähnlich edel sieht sich Chirpchirp Cycles, die ihr erstes Titan-Gravelbike vorstellten. Ein typischer Fall für die Gravel-Rennen, die in USA schon stark im Trend liegen und auch hierzulande anrollen. Das Besondere: Beim Berliner Gründer Felix Leyssner kann man sein ganz eigenes Titanrad bestellen. Der Rahmen in China hergestellt. „Über die Verbindung zu einem deutschen Rahmenbau-Partner, der langjährig Erfahrung mit Titanbau in China hat.“ Per Bahn wird er dann nach Berlin transportiert. „Und hier wird dann daraus ein Rad nach genauen Ansprüchen des Kunden aufgebaut“, so Leyssner. Die Sattelstütze ist wahlweise aus Titan oder 3D-gedrucktem Edelstahl erhältlich, die Gabel wird mit verstellbarer Achsaufnahme angeboten. Auf jedem Rahmen steht beim Gravelbike der Modellname Lerche in einer anderen Sprache. Der Kunde kann sich aussuchen, in welcher – solange sie noch nicht vergeben ist. Englisch und Koreanisch sind übrigens schon vergeben …
Neues aus der Prager City
Urbaner geht’s beim Prager Kleinserienhersteller Braasi zu. Simon Brabec will mit seinem frech auftretenden Zwanzigzöller die Mobilitätsszene aufmischen. Ein Zehus-Hinterradmotor mit integriertem Akku sorgt für Vortrieb, das Rad selbst hat eine knackige Geometrie und lässt viel City-Fahrspaß vermuten. Mit vielen Ösen für Träger und Körbe lässt sich aus dem quirligen E-Bike auch ein Kompakt-Lastenrad nach aktuellem Trend aufbauen. Am besten natürlich mit Taschen aus der eigenen Braasi-Produktion. Rahmenbau und Velo-Produktion finden in Prag statt. Mit Pinion-Getriebe soll das Bike günstige 4.800 Euro kosten.
Minimalismus für den Urbanen Dschungel
Urban ist das Stichwort für das neue Rose E-Bike. „Wir können diese Sparte nicht den Sushis und Cowboys überlassen“, sagt Anatol Sostmann vom Marketing bei Rose Bikes. Das neue Sneak+ gehört hier zur Kategorie „Urban Statement Bike“ und wird von einem X35-Hinterradmotor von Mahle angetrieben. Der 250-Wattstunden-Akku steckt im Rahmen, die Pedalkraft wird per Riemen übertragen. Minimalismus gilt auch für die Übersetzung: Ein einziger, relativ großer Gang muss für die City reichen. So kommt man für die Naked-Version mit in Lenker und Sattestütze integrierter Beleuchtung auf 14 Kilogramm Gewicht. 2.349 Euro kostet dieses Sneak+. Für die Straßen-Vollausstattung legt man noch 250 Euro drauf. Konnektivität über eine Smartphone-App ist selbstverständlich.
Kopenhagen als Symbol fürs Lastenrad
Fast selbstverständlich scheint heute auch, dass man Lastenräder baut, wenn man als Radhersteller aus Dänemark kommt. Für Hagen ist es zumindest so. Der Gründer Kaspar Peek kommt aus diesem Land, hat sein Unternehmen aber mittlerweile nach Estland verlegt. Eine Reminiszenz ist der Namen, er soll an Kopenhagen erinnern. Seit März vertreibt Peek seine Räder im Stil des Bullit-Cargobikes auch in Deutschland. Dazu wurde das E-Bike rundum upgedated. Der in Estland geschweißte Rahmen ist aus runden und Vierkant-CroMo-Rohren, angetrieben wird per Riemen oder Kette, unterstützt auf Wunsch von einem Brose-Mittelmotor. Die Ausstattung ist laut Hagen sehr stark individualisierbar. Auch eigene Einzel- und Doppel-Kindersitze gibt es für die verschiedenen Transportboxen. Mit 2.500 Euro steigt man in ein Business-Typ Hagen auf, für 2.000 Euro mehr gibt’s den Brose-Antrieb dazu.
Velo-Schneider haben Konjunktur
Auch in Sachen Bekleidung konnte die Kolektif einiges bieten. Das österreichische Label Kama Cycling von Katharina Stelzer und Donata Schörkmaier zum Beispiel. Wie auch beim ebenfalls auf der Kolektif vertretenen, bekannteren Marke Veloine gibt’s hier nur Frauen-Ausstattung – und nur fürs Rennrad. Gerade dieses Segment scheint stark im Aufwind. Die beiden entwickeln alle Designs selbst, arbeiten viel mit Recyclingmaterial und schätzen die gedämpften Töne. Bibs mit drei verschiedenen Polstern werden angeboten. Den Unterschied macht dabei die Zeit auf dem Bike: von bis zu vier Stunden und bis über acht Stunden sollen die verschiedenen Polster die stark beanspruchten Regionen in Po und Schritt entlasten. Für Kama ist es die erste größere Messe, und die Macherinnen sind Samstagnachmittag sehr zufrieden mit dem Zuspruch.
Seltener noch als die Frau ist das Kind Bike-Bekleidungskunde. „Angefangen hat es bei uns mit Kappen für meine Tochter“, erklärt Frederic Aue, der Gründer von Freh, einer Kinder-Bekleidungslinie für Bike und „alles, was mit Bewegung zu tun hat.“ Alle Designs für die kleinen Radler werden bislang von ihm selbst entwickelt, die Stoffe bedruckt und genäht. Verkauft werden die teils verspielten Kappen und Sweatshirts online und im eigenen Berliner Laden.
Schmierstoffe für mehr Öko- und soziale Verantwortung
Das Fahrrad ist wohl das nachhaltigste Fortbewegungsmittel, das wir zur Verfügung haben. Doch Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und soziale Verträglichkeit schreiben sich noch die wenigsten Hersteller – vor allem im Wartungszubehör-Bereich – auf ihre Fahnen. Amin Attia sieht die Lücke im Angebot und versucht, mit seinem social Start-up Mesh gegenzuhalten. Er will damit eine Wartungs- und Pflegeserie ins Leben rufen, die standardmäßig nachhaltig orientiert ist. „Mehr als das jetzt einige Schmiermittelhersteller machen, die allmählich dazu übergegangen sind, auch biologisch abbaubare Produkte anzubieten. Mesh kämpft für eine grüne Fahrradindustrie. Fahrradpflege- und -Wartungsprodukte dürften nicht auf Basis von fossilen, umweltschädlichen Grundstoffen hergestellt werden.“ Der gelernte Kommunikationswissenschaftler fordert zum Beispiel Kettenöle auf Basis nachwachsender Rohstoffe, die nach der Norm OECD 301B abbaubar sein sollen. Die Behälter seine Smesh-Produkte sind aus recyceltem Plastik, ein Teil des Umsatzes damit soll an die Plasticbank gehen, einem Unternehmen, das unter anderem in Entwicklungsländer Plastikmüll von Bedürftigen aufkauft. Der Bio-Schmierstoff im kleinsten Gebinde (30 Milliliter, mit Pinpette) kostet im Online-Handel knapp neun Euro.
Wenn Münsteraner Berliner Messen machen
Das alles passt sicher bestens zu einer kreativen, bunten Fahrradmesse, in der Szene und Traditionelle nebeneinander ausstellen. Sicher gut zu Berlin passt auch, dass die 6.000 Besucherinnen und Besucher den Eintrittspreis selbst festlegen durften. Mäkeln könnte man auch: Die Messe-DJs auf der Galerie sorgten manchmal mit enormer Lautstärke dafür, dass Gespräche anstrengend wurden. Und auch die Beleuchtung im komplett tageslichtfreien Motorwerk war eher Club-mäßig – feine Details in Sachen Fahrradtechnik könnten da dem einen oder anderen bisweilen entgangen sein. Doch dafür hatte das Ganze tatsächlich einen echten Party-Charakter.
Die Münsteraner Rad Race GmbH ist, zusammen mit einem umfassenden Netzwerk und einigen Sponsoren, Veranstalter der Messe. Pressesprecherin Christiane Borgmann und Geschäftsführer Ingo Engelhardt waren sehr zufrieden mit der dritten Ausgabe. Wächst die Messe, hätte der Osten ein Frühjahrsmessen-Pendant zur Cyclingworld im Westen mit Eventcharakter.
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