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Handel - Filialisierunge

Das große Schlucken

»Was wird aus meiner Branche?«, lautete eine besorgte Frage im velobiz.de-Forum, als wieder einmal ein selbstständiger Händler von einer großen Kette übernommen wurde. Solche Meldungen haben sich in den letzten Jahren gehäuft. Doch der Weg zur »McDonaldisierung« ist noch weit und ein Verkauf an Ketten kein Selbstläufer.

Schon im Frühjahr 2018 widmete sich die »Rheinische Post« dem Umbruch bei den großen Radgeschäften in Mönchengladbach. Für die führende Tageszeitung am Niederrhein war der Wandel der Handelslandschaft eine große Story. Zwei wichtige Händler, etabliert und angesehen in der nordrhein-westfälischen Großstadt, wurden binnen kurzer Zeit von Handelsketten geschluckt. Außerdem öffnete ein neuer Fahrradgroßmarkt. »Die großen Fahrradhändler kommen«, titelte die Zeitung damals.

Was sich in Mönchengladbach zugetragen hat, spielt sich im deutschen Fahrradhandel kontinuierlich ab. Wer die Schlagzeilen bei velobiz.de verfolgt, für den sind Einstiege der nationalen Ketten bei vormals selbstständigen Unternehmen nichts Außergewöhnliches mehr. Da übernehmen Little John Bikes, Lucky Bike bzw. Radlbauer, Stadler und inzwischen auch BOC gestandene Betriebe. Zug um Zug verändert sich die Handelslandschaft. Nicht wenige fürchten schon eine »McDonaldisierung« des Geschäfts.

Fachmarktkonzepte im Blick

Wie also ist die Lage? Das Institut für Handelsforschung untersucht regelmäßig die Begebenheiten in der Branche. Das Fazit fällt für Liebhaber der bekannten Strukturen noch nicht alarmierend aus. »Eine spürbare Marktbeherrschung liegt im Fahrradhandel nicht vor«, heißt es im aktuellen Branchenfokus der Kölner. Schließlich ist der Radhandel hierzulande traditionell sehr kleinteilig organisiert. »Für den Fachhandel bleibt es also augenscheinlich bei einer weiterhin kaum konzentrierten Handelslandschaft«, heißt es vom IFH. Allerdings sieht das Institut die sich formierenden Fachmarktkonzepte durchaus erwähnenswert. Die Zahlen passen zu einem Konzentrationsprozess. Gab es 2003 noch 6000 Unternehmen im Fahrradfachhandel, so waren es zuletzt (2018) nur noch 5235 – der durchschnittliche Umsatz hat sich im gleichen Zeitraum von 0,37 Mio. Euro auf beinahe 0,86 Mio. Euro mehr als verdoppelt.

Ulf-Christian Blume von der Unternehmensberatung LBU ist nicht nur bestens verdrahteter Kenner der Branche, sondern auch beschlagen im Verhandeln von Unternehmensübernahmen. Er beobachtet: »Es gibt seit Längerem einen Trend zur Konsolidierung auf Händlerseite.« Der Jurist und Zweirad-Handwerksmeister fürs Fahrrad ergänzt: »Der Verkauf an Ketten ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Option, allerdings ist Filialisierung nicht das allgemeine neue Diktum im Markt.« Es muss schon einiges passen, damit sich in einem Einzelfall die Verhältnisse vom unabhängigen Händler zur großen Kette verschieben.

Blume: Demografischer Wandel führt zu Verkäufen

Was man derzeit beobachten könne, sagt Blume, habe auch mit dem demografischen Wandel zu tun. Viele Radläden seien als Folge der Ökobewegung gegründet worden. Es gab damals eine wahre Gründerwelle. Heute jedoch fällt es nicht so leicht, die Geschäfte wieder abzutreten und mit dem ausgelösten Kapital in den Ruhestand zu wechseln. So ist die Suche nach einem Nachfolger für viele Radhändler ein bewegendes und anspruchsvolles Thema – und je nach Profil des Geschäfts kann es zum Einstieg der größeren Ketten kommen. Blumes Beratungsunternehmen LBU arbeitet pro Jahr etwa mit »ein bis zwei Handvoll Händlern, die einen Verkauf ins Auge fassen«. Allerdings geht es nicht immer um den Verkauf an Ketten. »Für kleinere Läden, gerade in attraktiver Innenstadtlage, gibt es durchaus andere Szenarien. Hier lassen sich private Nachfolger finden, die in den Fahrradmarkt einsteigen möchten. Daher besteht auch für die kleinteilige Händlerstruktur noch Potenzial für die Zukunft«, urteilt Blume.

Wenige Übernahmekandidaten für große Händler

Wer sich hingegen die Übernahmen durch die großen Ketten anschaut, dem fällt auf: Die Unternehmen sichten nach sehr klaren Kriterien, schlucken nicht einfach existierende, gut laufende Firmen. Vielmehr scouten sie nach den zum Konzept passenden, möglichen Filialen mit der passenden Quadratmeterzahl und Ausstattung. Geht es um den Verkauf größerer Radmärkte, bleiben wiederum nur wenige Optionen: »Große Händler haben einen erheblichen Wert. Wenn man etwa ein Lager mit Ware im Wert von 800.000 Euro gefüllt hat und dazu noch den ideellen Wert des Unternehmens beim Verkauf realisieren möchte, bleiben meist nur potente Käufer übrig: Filialisten oder, in seltenen Fällen, vermögende Quereinsteiger, die schon immer einen Fahrradhandel besitzen wollten«, beobachtet Blume. »Eine interne Nachfolgeregelung, bei der ein Gesellschafter die anderen auszahlt, oder eine Nachfolge aus Reihen des Personals ist bei großen Betrieben also eher die Ausnahme.«

Bernd Heumann kennt die Lage der Einzelhändler gut, auch ihm flattern immer wieder Angebote zu. Als Geschäftsführer bei der Bike & Outdoor Company (BOC) ist er mit der schieren Größe seiner Kette ein mächtiger Rivale, aber natürlich auch ein möglicher Käufer eingeführter Betriebe. Doch für sein Unternehmen lohnt es sich nur in den seltensten Fällen, genauer hinzuschauen. »Es sind oft Händler mit Flächen von 400 oder 500 Quadratmetern, die einen Verkauf anstreben. Für uns ist das allerdings zu klein und passt nicht zu unserem Konzept«, sagt Heumann. »Außerdem müssen wir immer schauen, dass die Stadt und das Umland eines solchen Geschäfts in unser Raster passen und etwa 200.000 Menschen umfassen.«

BOC kaufte erst einen Betrieb

Erst einmal hat Heumann sich entschieden, mit BOC einen bestehenden Betrieb zu übernehmen. Im Januar 2018 schluckte das Hamburger Unternehmen den Marktführer im niedersächsischen Gifhorn, Bike Arena Brendler. Man musste dann in eine Erweiterung investieren, von 900 auf 1100 Quadratmeter, damit aus dem ZEG-Händler ein BOC werden konnte. Was übrigens die ZEG von solchen Vorgängen hält, wie sie auf entsprechende Verschiebungen im Markt reagiert und was sie dagegensetzt, das war leider trotz wiederholter Anfrage nicht zu erfahren.
Überhaupt ist das Thema Konzen­tration und Filialisierung keines, über das die Branche gern spricht. Anfragen bei mehreren Ketten und auch die Suche nach ausgestiegenen ehemaligen Einzelhändlern, die an diese Ketten verkauft haben, verliefen trotz intensiver Mühen im Sande. So bleibt es bei den Vollzugsmeldungen im ganzen Land, die jeder lesen kann. Da übernimmt Little John Bikes den Betrieb der Erkrather Radsportlegende Hans Michalsky, da kauft Stadler den Düsseldorfer Großmarkt Fahrrad XXXL.

Keine harten Cuts

BOC-Geschäftsführer Heumann zeigt sich im Unterschied zur restlichen Branche auskunftsfreudig. Er erklärt, wie es bei Brendlers in Gifhorn lief. Das Unternehmen hat noch vor der Übernahme eine normale Vor-Order mit ZEG-Ware und Cube-Rädern gemacht. »Es ist wichtig, hier keinen harten Cut zu machen. Die Ware war gut, der Bestand attraktiv.« Außerdem verpflichteten sich die vorherigen Eigentümer, die Brüder Brendler, dem Unternehmen für die Übergangszeit erhalten zu bleiben. Einer war zwei Jahre als Geschäftsführer dabei, der andere bleibt bis heute noch mit einer halben Stelle im Büro. »Wir haben nach der Umfirmierung in Gifhorn keine Kunden verloren, sondern sogar noch an Marktanteilen zugelegt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir Online- und Filialhandel verknüpfen und neue Kunden übers Netz in unsere Filiale ziehen.« Dies ist ein wichtiges Argument, wieso größere Ketten langfristig von zunehmender Konzentration profitieren werden. Der einzelne Händler erzeugt nur selten solche Skaleneffekte.

Grundsätzlich sind Übernahmen aus Sicht von BOC »Opportunitäten«. Heumann ist hier offen: »Wenn ein Laden zu uns passt, bietet das in unserer Expansionsstrategie eine interessante Option.« Eine Filiale in einem gut eingeführten Unternehmen aufzuziehen, das kann sehr charmant sein. »Man übernimmt heute ja keine Kundendaten mehr, sondern vor allem einen gut eingelaufenen Trampelpfad«, sagt Heumann. Eine neu gegründete Niederlassung erfordert drei bis vier Jahre, ehe sie sich zu rechnen beginnt. Außerdem ist da der Mitarbeiterstamm, den man bei der Übernahme ebenfalls an Bord behält. Wer den Fachkräftemangel kennt, weiß um die Kraft dieses Arguments. »So lässt sich ein behutsamer Übergang auf eine neue Marke bei gleich hoher Servicequalität schaffen«, erklärt Heumann.

Das sieht auch Branchenkenner Blume so. Für Filialisten sei neben der Fläche und dem Umsatzpotenzial auch »die Reputation« interessant: »Ein gutes Geschäft hat sich in den Köpfen der Menschen verankert, und das bleibt erst mal auch nach der Übernahme so. Dann geht man eben weiter zum Müller, auch wenn längst ein neues Schild dranhängt.«

Doch was im Einzelfall interessant ist, führt eben nicht automatisch dazu, dass Händler zu Filialen werden. »Zwar lassen sich immer neue Übernahmen beobachten. Doch von einer McDonaldisierung im Radhandel sind wir noch weit entfernt«, sagt Berater Blume. Für Filialisten geht es immer um die genaue Prüfung von Lage, Verkaufsfläche und Umsatzpotenzial. Und bevor ein Händler seinen Betrieb wirklich veräußert, steht auch ein längerer Verhandlungszeitraum an. Selten unter einem Jahr, eher anderthalb Jahre kann es dauern, sagt Blume, ehe man einen Wert ermittelt und sich auf den Kaufpreis geeinigt hat.

Sicher ist: Die großen Ketten im Land werden weitere Einzelhändler übernehmen. Auch, weil sie mit Decathlon einen Riesen wachsen sehen, der die Branche bereits das Fürchten lehrt. Für die Einkaufsverbände bedeutet das strategische Veränderungen. Für BOC-Chef Heumann ist es nur eine folgerichtige Entwicklung. »Die Zeit ist reif dafür, dass der deutsche Fahrradhandel stärker filialisiert«, sagt der Manager, der früher selbst in der Optikbranche tätig war. Dort teilen sich die zehn größten Filialisten bereits etwa 50 Prozent des Marktes. Das Rad im Bike-Handel wird sich also weiterdrehen: »Verglichen mit anderen Handelsbranchen ist der Anteil noch sehr gering.«

7. September 2020 von Tim Farin
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