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Die Evil Knievels der Ergo-Szene
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Report - SQlab

Die Evil Knievels der Ergo-Szene

Mit einem Knaller eingestiegen und schnell an Bekanntheit und Image gewonnen: Der Münchner Ergo-Anbieter SQlab brachte die Kontaktpunkte am Fahrrad ins Bewusstsein der Radfahrer.

»Testfahrer! Was für die anderen Medien-Superstars waren, waren für mich die Testfahrer von Autofirmen«, sagt Tobias Hild, und tatsächlich leuchten seine Augen dabei. Der Mann, der bei unserem Besuch darauf hinweist, dass er es eigentlich unpassend findet, wenn ein Unternehmensporträt vor allem ein Chef-Porträt ist, lässt einem selbst wenig Wahl: Schließlich fußt SQlabs Erfolg auch auf dieser seiner Eigenschaft, ein Prinzesschen auf der Erbse zu sein. Jemand, der in der Praxis sofort erkennt, was »nicht stimmt« an den jeweiligen Kontaktpunkten von Körper und Fahrzeug. Ein Grund dafür ist schnell erzählt: Motorsport-Freak Toby Hild ist in den 90ern als Motocrosser und MTB-Downhiller unterwegs. Gleichzeitig betreibt er einen kleinen Laden in München-Taufkirchen, in dem es feine Komponenten für die Fans dieser Spaßgeräte gibt: Amazing Toys. Ein Unfall – schwere Wirbelsäulen-Verletzung – bringt das Aus fürs Motocrossen. Hild wird zusammengeschustert, doch der Arzt meint: Wenn Sie 50 sind, werden sie steinalt sein und unbeweglich. Heute sitzt Hild – mittlerweile 49 Jahre – bestens gelaunt und ebenso beweglich uns gegenüber. In seinem Unternehmen in einem 80er-Jahre-Gebäude in Taufkirchen.

»Du, ich spür‘ schon was!«

Als Hild wieder auf dem Rad sitzen konnte, gab‘s Probleme, von denen er vorher nur geahnt hatte: Sitzschmerzen, Nackenschmerzen, eingeschlafene Finger. »Klar, du merkst das durch deine Engstelle in der Wirbelsäule viel früher als andere«, erklärt der befreundete Arzt Stefan Staudte. Hild nimmt die »Früherkennung« als Hinweis darauf, sich noch intensiver der Ergonomie zu widmen.
Der erste Auftritt der Firma SQlab auf der Eurobike erfolgte – noch unabhängig von eigenen ersten Produkten – mit dem berühmt-berüchtigten »Easy Seat«, dem zweigeteilten »Prostata-Sattel«, dessen Vertrieb das Unternehmen 2002 übernommen hatte. »Kein Kapital, kein eigener Stand, aber viel Aufsehen«, charakterisiert Hild dieses »Start-Up«. Und zum besten Zeitpunkt: Kurz zuvor hatte der amerikanische Arzt Irwin Goldstein mit der Behauptung, Radfahren mache impotent, die Bike-Welt erschüttert.
Noch mehr Aufsehen als mit dem ersten Sattel erhielt man 2003 mit den bekannten Messpappen: Draufsetzen und sich auf dem Sattel später wohlfühlen, so sollte das funktionieren – und tat es dank der damit möglichen Sitzknochenvermessung auch sehr oft. Damit, und durch die einfache Darstellung, wurde für einen breiten Teil der Fahrrad-interessierten Bevölkerung der Zusammenhang zwischen Sattelform und -Breite und den Sitzschmerzen eingängig. War mit der Messpappe der Abstand der Sitzknochen erst gemessen, konnte man mit verschiedenen Sattel-Modellen für unterschiedliche Ausrichtung jeden Rad-Typen bedienen. Immer aber zeichnete die Stufe zwischen Sitzhöckerbereich und Nase den SQlab-Sattel aus. An ihr schieden sich damals wie gelegentlich heute noch die Geister. Trotzdem: Die Sitzknochenmessung war ein echter »Game Changer« für Fachhandel und Kunden – und die Einsicht: Wir sind auch hier sehr individuell. Von der ersten Sattelreihe 601 kamen die einzelnen Breiten erst nach und nach auf dem Markt – heute kaum vorstellbar, doch damals aufgrund der Kosten für Sattel-Werkzeuge für die Münchner nicht anders zu handhaben.
Auch die ersten, großflächigen »Flügel«-Griffe namens 735, die 2003 bereits das Portfolio vervollständigten, stärkten beim Verbraucher das Bewusstsein für die passende, sprich: schmerzfreie Haltung auf dem Rad. Weniger aufmerksamkeitserheischend und auch weniger erfolgreich waren die Pedale, die fast zeitgleich zu haben waren. Kennzeichen: die verlängerte oder verkürzte Pedalachse. »Das Pedal ist vielleicht einfach zu weit weg vom Kopf«, sagt Hild mit einem Schmunzeln, das er als knapp 50jähriger Sonnyboy immer noch parat hat, »das hat der Verbraucher nicht so auf dem Schirm.« Dort ist übrigens auch das Matratzenprojekt unter dem Namen »Q« noch nicht angekommen – »der Markt ist sehr schwierig«, erklärt Hild. Matratzen-Fachgeschäfte schließen, Beratung ist Mangelware, Billiganbieter haben das Sagen. Dabei scheint die Idee, eine Matratze zu kreieren, die man sich nach Vorliebe und Bedarf individualisieren kann, sehr verführerisch.

Das Labor: viel outdoor

Für die Entwicklung der Komponenten gibt es bei SQlab in der zweiten Etage ein hochwertig ausgestattetes Labor mit allem, was sich das Entwicklerherz so wünscht. Mittlerweile steht da sogar ein Multisensorbewehrtes Messfahrrad, das die Leistung der einzelnen Muskelgruppen, also Oberschenkel, Unterschenkel und Gesäßmuskel, beim Pedalieren einzeln auswerten kann. Die Druckmess-Folie auf dem Mustersattel ist dagegen basic.
Doch ein Gros der Entwicklungsarbeit findet nicht inhouse, sondern »onsaddle« statt: »Tatsächlich steht bei uns nicht der CAD-Entwurf am Anfang, sondern der schlichte Gips oder ähnliches formbares Material«, so Hild. Und mit »Entwicklungsarbeit« ist nicht nur der Geschäftsführer gemeint, sondern auch viele der 40 Mitarbeiter in München, die regelmäßig auf Bikes unterwegs sind.

Masterarbeit Sattelentwicklung

Wie etwa der neue Performance Manager Max Holz. Er leitet den für Race und sportliches Radfahren zuständigen Bereich. Holz ist Weltcup-Rennfahrer Cross-Country. Er lässt uns hier den Prototypen des Sattels sehen, der erst in einigen Monaten auf der Eurobike vorgestellt wird. Holz stellte sich in einer Forschungsarbeit an der Hochschule der Frage: Wie ist das Verhältnis von Satteldruck und Leistung? Und konnte bei SQlab seine Erkenntnisse auch gleich in Materialentwicklung umsetzen. »Wir sind dabei darauf gekommen, dass grundsätzlich Beckenrotation vorhanden ist. Man rotiert immer auf dem Schambeinboden – die Frage ist einfach, wie können wir die negativen Effekte davon minimieren?« So entsteht bei den Münchnern gerade ein Sattel, der noch schmaler tailliert wirkt und in der Mitte stärker flext – demnächst auf der Eurobike.
Weiter in Sachen Entwicklungsarbeit: zuerst also das Gipsmodell – bei Griffen in der Praxis ziemlich einfach zu handeln. Leute wie Hild haben sie wochenlang am Lenker. »Gelegentlich wird angehalten, das Schmirgelpapier herausgezogen und etwas weg gefeilt«, erklärt der Chefentwickler. Oder hinzugetan – beispielsweise mit Klebeband. Ist irgendwann genug geklebt und gefeilt, wird das Ganze digitalisiert und ein 3-D-Modell gedruckt. »Auch das können wir wieder direkt bearbeiten«, sagt Hild. Und so geht das einige Male, bis zu zwei Jahre. Und hundert Roh-Modelle lang, bis die Erfahrung sagt: Das passt. »Irgendwann muss man einen Cut machen und das Stück verabschieden«, meint Hild. »Auch wenn man immer wieder eine Kleinigkeit verbessern könnte.«

»Mich interessiert fast nur die Funktion«

Die Unterschiede im fertigen Design zeigen auch das Eingehen auf unterschiedliche Nutzergruppen. Hild demonstriert uns die beiden Varianten der Griffserie Performance, 711 und 70X. Letztere Form ist vor allem für E-MTB und Gravity-Fahrer gedacht, die 711er für die MTB-Bereiche »Tech und Trail«. Neben den kleinen Abweichungen was Durchmesser und Konizität angeht, sieht man auch, wie durch unterschiedliche Relationen Funktion und Design jeweils gegeben wird. Während der 711 viele glatte Flächen hat, sind beim anderen kleine wabenartige Kästchen neben einer ganzen Phalanx von Micro-Rauten, die dem Bike-Handschuh mehr Reibung verschaffen sollen. Natürlich hat das seine Funktion – man versteht aber auch: Die Optik mischt in der Ergonomie nicht wenig mit. Bei dieser Entwicklung war unter anderem auch Produktmanager Michael Schlecht involviert. Er ist seit jeher der Radsport-Sparringspartner von Hild und schon seit den ersten Anfängen im Unternehmen. Fast ebenso lang ist Stephan Esser schon in der Branche: Als Berater und Testfahrer eines Bikemagazin-Verlages, als Angestellter bei einem bekannten Bike-Sachverständigen, auch in der Entwicklung und Konstruktion großer Fahrradhersteller. Richtig: Er war einer der ersten, der das MTB damals mit Sensoren bestückt hat. Das Bundesamt für Straßenwesen arbeitet zum Teil immer noch mit seinen Daten und Konzepten. Jetzt sitzt Esser seit vier Jahren bei SQlab. Da macht man auch gern Auftragsarbeiten – für den gerade erscheinenden E-Scooter eines großen Autoherstellers etwa. Überhaupt: Scheu vor Fahrmaschinen mit Motor herrscht hier nicht; gerade vor unserem Besuch war Hild erst von einem Kurztrip nach USA zurückgekehrt – dort war er als Berater für Sitzergonomie einer Autorennserie unterwegs. Für einen deutlich näher sitzenden Hersteller von Motocross-Motorrädern optimiert man schon mal die neue Motorradsitzbank.

Streitbare Branche

Überall dort, wo Neues entwickelt wird, sind Patente gefragt. Das ist gut – das ist in der Praxis aber auch manchmal schlecht für die Marktteilnehmer. Gerade im Ergo-Bereich, so Hild, denn die Prüfungen der Patentwürdigkeit mancher Produkte erscheinen den Münchner Ergonomen oft recht oberflächlich. Patente zu erhalten sei daher auch einfach und habe wenig mit der tatsächlichen Alleinstellung des Produkts zu tun. Wer früh in der Entwicklung ein Patent zulässt, hat Schutz – aber vielleicht wenig an den Verbraucher gedacht. Jemand mit möglicherweise sogar besserer Umsetzung einer ähnlichen Idee hat dann das Nachsehen. So kommen sich die Ergonomie-Unternehmen im Fahrradsegment immer mal wieder in die Quere. Das klingt nervenaufreibend, manchmal teuer und oft unnötig. Da kam es schon mal vor, dass der motorsportverrückte SQlab-Chef zur Beilegung eines Konflikts seinem Patent-Widersacher einen »Battle« jenseits des Patentamts, nämlich mit dem Porsche auf der Rennstrecke, vorschlug. Wie der andere Ergonomie-Anbieter reagierte, wissen wir leider nicht. Hild sieht das nicht verbissen: »Scharmützel setzen ja auch Energie frei und helfen zu neuen Ideen – wenn ich es so nicht machen kann – finde ich anders vielleicht einen besseren Weg«, sagt er.

Nähe zum Handel

In vielen anderen Branchen ist er tot, im Bike-Bereich blüht der Fachhandel, so Hild. Also pflegen! Ein Ergonomie-Anbieter ist auf gute, geschulte und loyale Händler angewiesen. Ein eigener Online-Shop ist da nicht unbedingt vertrauensfördernd. Oder? Doch, sagt Hild: In diesem Bereich ist es den Kunden egal, wenn sie ein paar Euro mehr zahlen. Wenn Sie überhaupt online kaufen, dann beim Hersteller, da sie ihm mehr vertrauen als einem anderen Anbieter, der geringfügig billiger verkauft. »Und damit schmeißt man die Online-Konkurrenz aus dem Ring«, erklärt Hild. Wenn nun tatsächlich jemand online ein Produkt kauft, muss er sich anmelden und bekommt bei der Adressnennung seinen nächsten Händler genannt, und ob das Produkt dort erhältlich ist. Oft verzichtet der Kunde dann auf Online-Kauf, weil er sich lieber für denselben Preis zusätzlich beraten lässt. So macht das Online-Geschäft bei SQlab gerade einmal fünf Prozent aus. »Die Händler verstehen diese Taktik«, sagt man in Taufkirchen.
Heute sind auch zwei radbegeisterte Ärzte mit SQlab verpartnert – genannter Stefan Staudte, Urologe, und Dr. Markus Knöringer, Wirbelsäulenchirurg. Sie erarbeiten mit dem SQlab-Team zusammen unter anderem die Händlerworkshops. Um die 1.000 Händler und Mitarbeiter lassen sich pro Jahr schulen. Das ist wichtig – »sonst läuft es nicht«, sagt Hild. Für noch mehr Nähe zu Händler und Endverbraucher wurde die Marketing- Abteilung aufgestockt – mit der international erfahrenen Mountainbike-Racerin Sarah Bosch. Überhaupt: In Sachen Rennfahrer ist man gut aufgestellt. Da gibt es auf der Bahn die Maloja Pushbikers, und zu den SQlab-Test-Teams gehören Fahrer wie Guido Tschugg oder Hans »No Way« Rey. Einige der vielen Pokale, die wir beim Rundgang in einem Abstellkämmerchen entdeckt haben, stammen von SQlab-Rennteams. 90 Prozent aber vom Chef und seinen Motorsportaktivitäten. »Max Holz oder Sarah Bosch haben da noch viel mehr zuhause stehen«, winkt er ab. Aber zurück zum Kunden: »Wir verkaufen dem Händler vor allem Problemlösungen für ihre Kunden«, sagt Hild. Wer sich das Sampling an POS-Material im Vertriebs-Großraumbüro in der ersten Etage ansieht, ist beeindruckt. Vom System zur Sitzknochenvermessung über Hand- und Fußmessung (für die Einlegesohlen), Erklärungshilfen … alles ist im gleichen, sehr ruhigen, klaren Design umgesetzt, hat aber nicht die emotionslose Kühle von medizinischen Artikeln.
Apropos Medizin: Staatlich geförderte Projekte, zuletzt zum Beispiel vor drei Jahren mit der FH und der Uniklinik Frankfurt sind gelegentlich Teil der Entwicklungsarbeit. Damals wurde ein 3-D-Modell entwickelt, anhand dessen man vollständig in einen Körper hinein messen kann – also zum Beispiel alle Vorgänge im Beckenbereich bestimmen kann, wenn ein Mensch auf dem Sattel sitzt und tritt. Davon versprach man sich enormes neues Wissen über die kompletten kinetische Zustände in diesem Bereich beim Pedalieren. Die Forschungsarbeit floss in die 2016 erschienenen Ergowave-Sattelreihe. Für die 2018 vorgestellte neue, komfortorientierte Ergolux-Serie wurden die Erkenntnisse an die aufrechte Sitzposition angepasst und eine »zweite Stufe« eingebaut. Gerade erschien die neue Auflage des Sattels. Sie arbeitet in der Dämpfung teils mit Infinergy – dem heute an vielen Stellen des Sport-Kosmos‘ als Wunderwaffe gehandelten Bayer-E-TPU (vgl. Beitrag Solid Tires in Heft 5/2018): Weniger einsinken bei gleichen Dämpfungseigenschaften. »Der Sattel ist uns beim ersten Anlauf zu hart geworden«, sagt Hild erfrischend selbstkritisch – auch die Händler hatten das deutlich gemacht. »In der neuen Version passt es aber.«
Allerdings war Hild auch für das basierende Forschungsprojekt damals spezieller »Testfahrer«: Da das Konzept nur mit einer sehr hochwertigen Bildgebung als Basis umgesetzt werden konnte, musste er insgesamt mehrere Tage in der MRT-Röhre verbringen. Auch so kann Einsatz für Ergonomie aussehen.

4. März 2019 von Georg Bleicher

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