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Report - Greifswald

Die heimliche (Radl-) Hauptstadt

Bei Fahrradstädten denkt man in Deutschland an Münster, Bremen oder Göttingen. Doch die eigentliche Fahrradhauptstadt, zumindest wenn man den Anteil der Radfahrer im Stadtverkehr als Maßstab nimmt, liegt ganz woanders, nämlich in Greifswald. Warum gerade in der Stadt an der Ostsee im bundesweiten Vergleich am meisten Fahrrad gefahren wird, darüber wundern sich die Greifswalder mitunter selbst.

Schon Anfang der Neunziger sind hier viele Leute mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, aber dass es so viele sind, hat selbst uns überrascht“, sagt Gerhard Imhorst, der seit gut zwanzig Jahren als Verkehrsplaner in Greifswald tätig ist. Die Überraschung war in der Tat groß, als sich 2008 herausstellte, dass seine Stadt mit 44 Prozent den höchsten Radverkehrsanteil Deutschlands vor Städten wie Münster oder Freiburg hat.
»Das Rad ist selbstverständliches Alltagsverkehrsmittel, vom Oberbürgermeister bis zur Abteilungsleiterin, von der Studentin zum Angestellten – alle fahren in Greifswald Fahrrad«, erklärt Imhorst. Die Voraussetzungen sind ideal: Greifswald ist eine Stadt der kurzen Wege, durchschnittlich zwei Kilometer ist ein Weg lang, deutlich über 90 Prozent der Wege sind kürzer als fünf Kilometer. Die Stadt ist zudem kleiner als andere Städte mit hohem Radanteil, etwa Münster, Göttingen oder Bremen: 95 Prozent der etwa 60.000 Einwohner wohnen in einem Umkreis von sechs Kilometern. Zudem ist das Land flach und die Straßen bieten meist ausreichend Platz. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung studiert und die verstreuten Gebäude der Universität kann man mit dem Fahrrad am besten erreichen. Doch auch wenn in Greifswald schon immer viel Rad gefahren wurde, in den letzten zwanzig Jahren ist sichtbar eine Menge getan worden.

Veränderungen seit der Wende

Anfang der Neunziger Jahre gab es Radwege in Greifswald meist nur auf einer Seite der Fahrbahn und sie mussten in beide Richtungen benutzt werden. Oft waren Geh- und Radweg nicht getrennt und der Belag war zudem schlecht. Die Menschen nutzten das Rad also eher trotz als wegen der Qualität der Radanlagen. Und so hatten es Befürworter schwer, für Verbesserungen zu streiten. Die Einschätzung »Die Leute fahren ja sowieso Rad« war ein allzu mächtiges Gegenargument.
»Die Novelle der Straßenverkehrsordnung von 1997 war dann eine wichtige Veränderung. Seitdem können wir zumindest darauf hinweisen, dass der Bestand und teilweise auch der Neubau nicht den Planungsgrundlagen für Radanlagen entsprechen«, erklärt Imhorst. Die STVO-Novelle stellte fest, dass Radwege auf die Fahrbahn gehören, nicht in beide Richtungen offen sein und schon gar nicht auf Gehwege gelegt werden sollten. Ein weiterer Schub kam dann in Folge der besagten Verkehrszählung im Juli 2008.
Insgesamt wurde der Bestand der Radverkehrsanlagen von 1992 bis 2010 von 33 auf 73 Kilometer mehr als verdoppelt. Vielerorts findet man heute ausgezeichnete Radschutzstreifen auf der Fahrbahn, straßenbegleitende Fahrradwege und Fahrradabstellanlagen.

»Beim Fahrradverkehr wird jeder Euro zweimal umgedreht«

2009 eröffnete die Stadt gemeinsam mit dem ADFC eine Fahrradstraße als Teil einer Fahrrad-Achse, die eine Reihe wichtiger Punkte der Stadt miteinander verbindet (u.a. Bahnhof, Innenstadt, Theater und Uni-Campus).
Damit die vielen Einzelmaßnahmen eine schlüssige Gesamtstrategie ergeben, verfasste Imhorst einen Radverkehrsplan (RVP), der am 1.11.2010 von der Greifswalder Bürgerschaft verabschiedet wurde. Schwerpunkt sind neben der Erschließung des Umlandes Qualitätsverbesserungen der bestehende Radanlagen und mehr Öffentlichkeitsarbeit fürs Fahrrad.
Um die Umsetzung der Radpolitik zu koordinieren, trifft sich seit einigen Jahren einmal im Monat die AG Verkehr. Dieser Arbeitsgemeinschaft gehören neben Wolfgang Imhorst Vertreter des Tiefbau-und Grünflächenamts, der Polizei, des Fahrradclubs ADFC, des ökologischen Verkehrsclubs VCD, des Bündnis für Familie und der Greifswalder Klimabeauftragte an.

Die Realität der Radhauptstadt

Man könnte vor diesem Hintergrund erwarten, in Greifswald auf eine tadellose Fahrradstadt zu treffen. Und tatsächlich: Steigt man aus dem Zug, steht direkt am Bahnhof eine große überdachte Rad-Abstellanlage, die Bahngleise kann man durch eine Unterführung mit breitem Radweg passieren. Auf der anderen Seite angelangt, führt eine Fahrradbrücke über die neu gebaute Osnabrücker Straße (die so genannte »Bahnparallele«, die für Tempo 70 zugelassen ist) zum Studentenwohnheim an der Fleischerwiese. Jedes der Wohnhäuser hat eine eigene überdachte Abstellanlage voller Fahrräder.
Soweit so gut. Fährt man allerdings vom Bahnhof Richtung Zentrum, verändert sich das positive Bild recht schnell. Rund um den Stadtkern finden sich Radwege in sehr unterschiedlicher Qualität. Teilweise sind sie gut zwei Meter breit, rot gefärbt und sehr eben, dann werden sie plötzlich schmaler, uneben und man muss sich den Weg auf alten Gehweg-Platten mit Fußgängern teilen. Die Oberfläche der Straßen begleitenden Radwege ist in 88 Prozent der Fälle schlechter, als die der jeweiligen Kfz-Fahrbahn.
An vielen Kreuzungen ist die Radwegführung nicht eindeutig, manche Wege hören unvermittelt auf und man muss die Straßenseite wechseln, um weiter zu fahren. Ortskenntnisse sind absolut von Vorteil.


Die Fahrrad-Infrastruktur ist zwar schon besser als in vielen anderen Städten, dennoch sieht die lokale ADFC-Gruppe immer noch viele Verbesserungsmöglichkeiten.

Am Stadtrand ist Schluss

Ortskenntnisse helfen aber auch nicht mehr weiter, wenn man Greifswald auf dem Fahrrad verlassen möchte, denn spätestens am Ortsausgang enden fast alle Radwege ins Umland. Das bedeutet, dass die gut 11.000 Menschen, die täglich nach Greifswald pendeln, ebenso wie die knapp 6.000 aus Greifswald heraus Pendelnden kaum eine Möglichkeit haben, mit dem Rad zu fahren. Auch für den Tourismus ist das schlechte überregionale Netz ein großer Nachteil. Denn Greifswald liegt mit seinem schönen Stadtkern zwar am Ostseeküstenradweg, die 15 Kilometer Kopfsteinpflaster zwischen Stralsund und Greifswald sorgen jedoch dafür, dass viele Radreisende Greifswald auslassen und mit dem Zug von Stralsund bis nach Wolgast fahren.
Es bietet sich also ein sehr wechselhaftes Bild, vieles ist unvollständig. Nach ein paar Stunden mit dem Rad in Greifswald hat man zunehmend das Gefühl, den vielen Radfahrenden ist gar nicht bewusst, dass sie die Mehrheit im Verkehr sind. Man könnte sagen, der Radhauptstadt fehlt es an Selbstbewusstsein. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man die Ziele im kommunalen Radverkehrsplan ansieht: Der Radverkehr soll bis 2014 von 44 Prozent auf 45 Prozent erhöht werden, bis 2020 sollen 47 Prozent erreicht werden.

Die Überraschung war groß, alssich 2008 herausstellte, dass Greifswald den höchsten Rad-verkehrsanteil Deutschlands hat.

Das Budget für den Radverkehr wird mit 125.000 Euro im Jahr beziffert (zusätzlich sollen einige große Investitionen separat im Haushalt bewilligt werden).
Etwas überspitzt könnte man sagen, die Steigerung um drei Prozent in zehn Jahren liegt im Bereich der Messungenauigkeit einer Verkehrserhebung. Mit einem Wunsch-Budget von zwei Euro pro Kopf und Jahr ist vielleicht auch nicht viel mehr zu machen.

Der politische Wille für Projekte mit Signalwirkung fehlt

Wie dünn der Rückhalt für Radverkehrsförderung ist, zeigt sich an einem weiteren Ziel des Radverkehrplans: Der Schaffung einer Diagonalquerung am Platz der Freiheit, der meist befahrenen Kreuzung der Stadt. Während der Pkw Verkehr links abbiegt, könnten Radler die Kreuzung diagonal überqueren und aus der Fahrradstraße in die Altstadt fahren – die Querung wäre in Deutschland einmalig. „Der Radverkehr würde dadurch schneller und gleichzeitig besser in die vorgesehenen Wege geleitet, das erhöht auch die Verkehrssicherheit“, stellt Steffen Burkhardt vom ADFC fest. Das Projekt, das ca. 185.000 Euro und eine Linksabbieger-Spur für Pkw kosten würde, steht seit Jahren auf der Kippe, obwohl es von der Bürgerschaft mit dem Radverkehrsplan bereits knapp bestätigt worden war. So lehnt der Stadtverband der CDU das Vorhaben ab. Begründung: Der Nutzen stehe in keinem Verhältnis zu den Kosten und die Maßnahmen kämen nur den Radfahrern zu Gute. Zuletzt wurde das Vorhaben wieder gekippt und stattdessen die „Grüne Welle“ für den Autoverkehr auf einer der Kreuzungs-Straßen eingeführt.

Auch in der Bevölkerung ist das Projekt umstritten, in der Ostsee Zeitung (OZ) gab es im Februar hitzige Leserbrief-Diskussionen. „Auch wenn das Thema umstritten ist: Die OZ hat sehr einseitig die Contra-Positionen abgedruckt. Es ist längst klar, dass eine Linksabbieger-Spur für Pkw ausreichend ist. Die Kreuzung ist durch den teuren Neubau der Bahnparallele und der Ortsumgehung auf der B109 zur B105 bereits sehr stark entlastet worden“, sagt ADFC-Mann Burkhardt. Auch Torsten Wierschin vom VCD argumentiert: »Für Ortsumgehung und Bahnparallele, die nur dem Pkw-Verkehr dienen, sind Millionen da, beim Fahrradverkehr wird jeder Euro zweimal umgedreht. Diese Ungleichbehandlung der Verkehrsmittel muss aufhören.«
Nicht nur dieses Prestigeprojekt wird dem Hauptverkehrsmittel der Stadt versagt, auch eine Fahrradstation am Bahnhof mit Verleihservice, Fahrradboxen, Werkstatt und Gastronomie findet seitens der Greifswalder Bürgerschaft offenbar keine ausreichende Gegenliebe – auch hat das Land die Förderung des bisher unterstützten Projektes zurückgestellt.

Es fehlt die Dynamik

Doch die Greifswalder Radfahrenden scheinen sich durch ihr politisches Schattendasein nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Von den 12.000 Studierenden gibt es kaum Engagement oder Proteste für mehr Radverkehr. Auch die Universität als größter Arbeitgeber engagiere sich nicht sonderlich, erzählt Burkhardt. Nach den Mitgliedszahlen des ADFC gefragt ergänzt er: »Der ADFC hat in Greifswald stagnierend nur ca. 100 Mitglieder. Davon sind nur wenige aktiv.«
Es ist paradox: Trotz des enorm hohen Radanteils fehlen dem Radverkehr Rückenwind und Selbstbewusstsein. Dabei könnte Greifswald zum Paradebeispiel einer Fahrradstadt schlechthin werden. Mit einer klaren Bevorzugung des Radverkehrs, die sich bei 44 Prozent Verkehrsanteil gut rechtfertigen ließe, dazu einer öffentlichen pro-Fahrrad Kampagne, einem kostenlosen Verleihsystem, Radstation und einem flächendeckenden Radwege-Netz wären Werte über 50 Prozent sicher erreichbar. Greifswald könnte damit ein Leuchtturm für hohe Lebensqualität und eine zukunftsfähige Mobilität werden. Aktuell scheint es, als bräuchten die Fahrrad-Befürworter um Gerhard Imhorst dafür noch einen langen Atem. //
Weitere Infos:
http://blog.17vier.de/2012/02/13/diagonalquerung-ein-verkehrsprojekt-spaltet-die-stadt/
http://www.greifswald.de/
http://www.adfc-mv.de/

1. April 2012 von Wasilis von Rauch
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