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Die Lenker-Willis
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Portrait - Humpert

Die Lenker-Willis

Der Lenker-Riese sitzt im Ruhrpott und ist erst in den letzten Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Umso spannender ist die Geschichte des Familienunternehmens Humpert.

Der Wareneingang: Ein veritables Gebirge aus sechs Meter langen Rohren – Rohmaterial für die Lenkerproduktion – bedeckt eine Fläche von etwa 80 Quadratmetern. Die »Berggipfel« sind bis zu drei Meter hoch. Will man die Marktbedeutung von Humpert darstellen, muss man nur fragen, wann dieses Gebirge an Rohmaterial verarbeitet ist: »In etwa einer Woche«, sagt Geschäftsführer Willi Humpert knapp. Manchmal sagen Bilder in Verbindung mit einer Zahl eben mehr als tausend Worte.

Der Charme des Unter­nehmertums

Dem Bau in der Wickeder Erlenstraße sieht man an, dass er immer wieder erweitert wurde – in Beton gegossene Unternehmensgeschichte. Der Eingang zur Verwaltung im 70er-Jahre-Stil sticht mit rot gerahmten Glas spitz aus dem großen Gebäude-Puzzle hervor. Hinter der automatischen Türe, an der hinteren Wand des Eingangsbereichs, eine kleine Wartezone mit Kunst: »Rally« heißt die Skulptur von David Gerstein, der hier Rennradler in zwei Bögen über die im Ledersessel Wartenden fahren lässt. Gegenüber: Schaukästen mit Ergotec-Produkten – Lenker und Vorbauten beherrschen die Szenerie.
Wie fängt so ein Unternehmen an, das über 100 Jahre alt werden sollte? Mit dem Urgroßvater des Geschäftsführers, der hier unser Gastgeber ist. Willi Humpert, vierter in der Ahnenreihe mit gleichem Namen, aufgeräumt, Typ »Geschäftsmann, aber sympathisch«, sieht es so: »Der Mann hatte ganz Unternehmergeist – er wollte einfach etwas auf die Beine stellen.« Beziehungsweise auf die Räder. Wilhelm I baute also 1918 in Wickede direkt gegenüber dem Rathaus eine Manufaktur auf. Fokus: Fahrradgriffe, Luftpumpen und Gepäckträger; später kamen Fahrradlenker hinzu. In dieser Region des Ruhrgebiets war man mit diesem Angebot nicht alleine: Seit 1899 schon residierte Union Fröndenberg in der Nachbarschaft und stellte Fahrradketten und andere Komponenten her. Und auch in Sachen Fahrradlenker war Humpert nicht allein: In Wickede zog die Rohrfirma Wuragrohr Lenkerproduzenten an. Der viele Jahre bekannteste, Friko, wurde 2007 nach Insolvenz von Humpert übernommen. 1923 nahm Wilhelm Humpert auch eine kleine Galvanisierungs-Abteilung hinzu – mit eigener Verchromung konnte er sich von Wettbewerbern absetzen.

Erfolg trotz dunklen Zeiten

Die Jahreszahl der Übergabe auf den nächsten Wilhelm, 1937, reizt zu Fragen, doch »die frühen Jahre sind kaum dokumentiert«, sagt der heutige Willi Humpert. »Was wirklich in den Jahren des Nationalsozialismus gelaufen ist, lässt sich nicht belegen. Allerdings geht man davon aus, dass Fabrik wie Standort kaum interessant für die Nazis waren.« Für geringe Involvierung in die Herrschaftsstrukturen spräche auch, dass in den ersten Nachkriegsjahren Angehörige der kanadischen Truppen mit im Humpertschen Privathaus einquartiert waren, auch Kinder.
Der 1907 geborene Wilhelm (II) jedenfalls konnte 1937 die Fabrik übernehmen und neu strukturieren. Nun stand der Fokus vor allem auf der Lenkerproduktion – aufwendige Handarbeit, die beim Sägen anfing und bis zum Verchromen viele Schritte beinhaltete, wie noch zu sehen sein wird.
Die Nachkriegsjahre waren bis ins Jahr 1968, dem Jahr der Übergabe an die dritte Generation, sehr erfolgreich. Allerdings hatte man Grenzen erreicht: Der Betrieb in der Wickeder Innenstadt platzte nach 50 Jahren aus allen Nähten – eine Erweiterung war unmöglich. »In der Geschichte war das Unternehmen bei den Übernahmen durch die nächste Generation immer an einem Peak. Doch immer musste es Veränderungen geben, damit man weiter kam«, sagt Willi Humpert heute. Eine strukturelle Veränderung war der Umzug ins Industriegebiet am Stadtrand, dem aktuellen Standort. Eine andere: »Eine Lenkerfabrik braucht eine eigene automatische Galvanik« war das Credo des Vaters von Willi Humpert IV. »Das hat er 1971 umgesetzt, und das hat den Betrieb weitergebracht.« Das elektrochemische Verfahren zur Veredelung ist komplex und zeitintensiv. Und es war lang eine schwierige und gesundheitsgefährdende Handarbeit. In der neuen Produktion in der Erlenstraße setzte man auf Automatisierung. Eine große Investition – mit enormen laufenden Kosten. Ergo sollte die Anlage rund um die Uhr laufen. Das gab die Lenker-Produktion nicht her – Willi III führte deshalb die Lohngalvanik ein.

Wenn die Elektrolyten schon mal da sind …

»Das zweite Standbein«, so Willi IV, »macht heute etwa ein Drittel des Gesamtumsatzes aus.« Wer durch die Versandabteilung geht, entdeckt neben allen Formen von Lenkern vieles, was aus Rohren oder Drähten hergestellt und hier verchromt wird. Da steht das Aldi-Displayregal neben einem Infusionsständer. Doch das meiste Geschäft mit der Lohngalvanik läuft über Iserlohn: Dort ist seit 2005 das Humpert Galvanowerk. Schwerpunkt: Automotive. Nicht nur ein Standbein mit sehr hohen Qualitätsanforderungen: »Wenn wir sagen, dass wir für Audi die Kopfstützenholme verchromen, brauchen wir keine weiteren Referenzen«, sagt Humpert lächelnd. Aber es ist auch ein hartes Pflaster: »Wenn in anderen Branchen einmal etwas nicht passt, steigt dir vielleicht der Kunde auf den Zeh. Wenn dir das als Autozulieferer passiert, ist gleich das ganze Bein ab«, erklärt er drastisch. Dass hier alles optimal läuft, dafür sorgt Ralf Humpert, Willi Humperts Bruder und zweiter Geschäftsführer. Er ist der Galvanik-Spezialist im Unternehmen. In Wickede nimmt die Galvanik eine ganze Halle ein. Zugänglich ist nur ein schmaler Bereich entlang der Maschinenlinie – der Rest ist das Reich der Chemie. Derzeit fünf, sechs Leute hängen die zu beschichtenden Lenker auf die Gestelle, die diese dann durch zig elektrolytische und sonstige Bäder tragen – das Behängen ist übrigens das erste Mal, dass die Lenker angefasst werden: Bis dahin geht alles maschinell. Gut zwei Stunden dauert das Bäder-Hopping der Bügel, dann werden sie abgehängt, passieren die Kontrolle und werden verpackt. Der Energieverbrauch für Oberflächenveredelung ist enorm: Humpert zahlt alleine dafür 750.000 Euro Stromkosten im Jahr.

Die Einsamkeit der Sägehalle

Doch schon die Vorbereitung der Lenker für die Galvanik ist aufwendig. Aus den eingangs genannten 6-Meter-Rohren werden die passenden Lenkerlängen gesägt, bürstentgratet, gewaschen und getrocknet – in einer einzigen, automatischen Maschinenlinie. Dann wird der Lenker mittig aufgeweitet – mit hydraulischem Druck auf Elastomere im Inneren entsteht der normierte Außendurchmesser. Eine Produktkennzeichnung wird aufgeprägt, der Lenker wird auf Form gebogen. Das leisten hier vier Automaten – drei sogenannte Portal Handling Roboter und ein Kuka-Roboter. »Vor der Einführung dieses Roboters mussten wir die Ängste der Belegschaft abbauen«, so Humpert. Sie fürchtete um ihre Arbeitsplätze. Tatsächlich arbeiteten in der Lenkerbiegung vorher 25 Angestellte, nach Einführung der Roboter waren es noch neun. Doch insgesamt steigerte sich der Betrieb von 50 auf heute 125 Mitarbeiter. Trotzdem: Einige Hallen erscheinen heute dem Laien regelrecht verwaist.

Stimmungsbarometer ­Veredelung

Zurück zur Firmengeschichte. Die Lohngalvanik erwies sich als so erfolgreich, dass 1984 eine neue Halle mit 2000 Quadratmetern dafür gebaut wurde. Der Rubel rollte, auch wenn sich dieser Bereich als ein regelrechtes Konjunkturbarometer erwies: Gehen die allgemeinen Wirtschaftszahlen runter, trifft das Industriebereiche wie Möbel und andere Konsumgüter direkt. Sie machen bei der Lohngalvanik einen großen Teil aus. Fahrradlenker blieben in den 70ern stabil, allerdings ohne große Margen. »Schön war aber zum Beispiel das Bonanzarad«, erinnert sich Willi Humpert IV begeistert, »da war der Lenker in zwei lange Bügel geteilt. Und die verchromte Sissy Bar hinter dem Sattel kam noch dazu!« Dass viele OEM-Hersteller nicht aus Asien importierten, hatte auch den Grund, dass dort meist nur eine statt wie bei Humpert zwei Schichten Nickel verwendet wurden – was deutlich weniger Korrosionsschutz heißt.
Klarheit und der Wille zu Struktur wie zur Veränderung muss bei den Leitenden jeder Humpert-Generation ein wichtiges Wesensmerkmal gewesen sein – ohne diese Eigenschaften, kann man sich vorstellen, wäre dieses Unternehmen wohl nicht so alt geworden. Und bei unserem Gastgeber Willi Humpert IV, der Anfang 1998 die Unternehmensleitung übernommen hat, schimmert sie schon in seinen Erzählungen durch. Er hat aber nicht nur im Familienbetrieb gelernt: »Bei Autozulieferern hatte ich vorher den letzten Schliff bekommen – man muss erfahren haben, wie es woanders läuft«, sagt er, »und auch Befehlsempfänger sein ist enorm wichtig für spätere Entscheidungen«. Die Strategie der dritten Generation hatte sich 1998 »ausgelaufen«. Das Unternehmen stand gut da, aber es gab keine Ziele mehr. Und Asien drängte schon lange mit Macht auf den Markt: »Unser Materialpreis war irgendwann der Preis des fertigen Asien-Lenkers«, rechnet Humpert vor. Die OEMs brachen weg, und Fahrradlenker sind nichts, was man nachrüstet. Was tun?

Das Adilette-System als ­Blaupause

Die beliebten Schlappen brachten ihn auf einen Gedanken, der mit der ersten Taiwan-Reise von Willi Humpert III 1993, fast schon auf der Hand lag: eine Entwicklungsabteilung aufbauen und zumindest zum Teil aus »Made in Germany« ein »Engineered in Germany« zu machen, die Teile nach eigenen Vorgaben – und am besten überwacht von eigenen Leuten – in Asien produzieren zu lassen. Eine Öffnung nach draußen also. Der Entwickler fand sich im Fahrradbranchen-Profi Rolf Häcker, vormals bei Paul Lange. Ab 2001 konnte der Schwabe in seiner eigenen Humpert-Entwicklungsabteilung in Stuttgart arbeiten. Um die Sache auf eine feste Basis zu stellen, wurde mit Humpert Asia auch ein Trading-Team in Taipeh geschaffen – mit Leuten, die sich auf den dortigen Produktionsmärkten auskannten. Ein neuer Name sollte her – auch wenn es der Familie schwerfiel, dass die neue Produktlinie nicht mehr ihren Namen tragen sollte – doch für die in Wickede produzierten Lenker blieb »Humpert« bestehen. Als Studien zum Thema Wohlfühlen auf dem Rad ergaben, dass viele Radfahrer Probleme mit einschlafenden Fingern oder Nackenschmerzen hatten, sah man die Chancen für eine neue Marke Ergotec sehr positiv. Damit gab es ab 2008 eine Serie an Vorbauten und Lenkern, die auch das Problem der Nachrüstung angingen: »Sicherheit« und »Ergonomie« waren die Zauberworte. Doch einfach war es trotzdem nicht: »Wenn wir kein Familienunternehmen wären, wären wir nicht so sauber durch diese Zeit gekommen«, meint der Geschäftsführer. »Wichtig war für uns immer: Keine externen Investoren und nicht zu sehr aufsplitten.«
Jetzt gab es Gründe, das Rad nach- oder umzurüsten: bequemeres und ergonomisches Sitzen, dazu mehr Sicherheit. Der Aftermarket im Bereich Lenker/Vorbau schien in verschiedenen Bereichen möglich.
Doch das heißt jetzt auch hier: Öffnung. Der Händler und der Endkunde müssen gezielt angesprochen werden. Willi Humpert IV baute das Marketing auf – anfangs eher unkonventionell und nebenbei: »Im Urlaub machte ich ein Konzept, das konnten wir dann immer für ein Jahr durchziehen.« Vor zwei Jahren hat nun seine zweite Frau Katarina Humpert, selbst Industriekauffrau und Wirtschaftsinformatikerin, das Marketing übernommen – mittlerweile ist es auch ein Fulltime-Job. So wird Social Media bespielt, vor allem Facebook. Die umfangreichen Homepages humpert.com und ergotec.de wollen auch auf dem Laufenden gehalten werden.

Von der Lenkerfirma zum Ergonomie-Unternehmen?

Mittlerweile hat die Ergonomie-Marke sogar bei den OEMs Zugang gefunden. Und was das Nachrüsten anbelangt, liegt der Erfolg sicher auch darin begründet, dass Ralf Häcker im DIN-Normenausschuss sitzt und auch Willi Humpert Mitglied vieler Fachgremien ist. Mit der neuen Marktmacht Pedelec und den Maschinenrichtlinien kommt da einiges zusammen: »Das E-Bike hat uns angeschoben«, bestätigt Humpert. So versuchen die Entwicklungen aus dem Haus auch direkt Norm­anforderungen aufzugreifen. Der »Leitfaden für den Bauteile-Tausch« von Humpert demonstriert das nebenher ganz eindrucksvoll: Auf diesem Händler-Tool kann man ablesen, für welches E-Bike (maßgeblich ist das zugelassene Systemgewicht) sich Humpert-Produkte mit welchem Humpert-internen Sicherheits-Level empfehlen. Und beim Blick in den aktuellen Highlights-Folder erfährt man, dass Humpert eng mit Antriebssystemherstellern wie Bosch zusammenarbeitet und deren Displays in seine Lenkereinheiten integriert.
Apropos Produkte: Mittlerweile gibt es nicht nur Vorbau- und Lenkerkombis von Ergotec, sondern auch Sattelstützen, Griffe und auch Pedale. »Derzeit läuft noch die Entwicklung von eigenen ergonomischen Sätteln«, lässt Willi Humpert in die Zukunft schauen. »Aber das ist sehr komplex – das wird noch ein bisschen dauern.« Somit sind alle Schnittstellen Mensch/Maschine am Fahrrad abgedeckt. Schon für 2019 wird der Aufbau des Wickeder Entwicklungszentrums geplant. Häcker soll in Zukunft vor Ort mit einigen Kollegen an der Produktzukunft ­arbeiten.
»Wichtig ist für Industrie, Händler und Kunden ja, dass jemand mit viel Erfahrung dahintersteht, und der im Bedarfsfall auch mit Ansprechpartnern und klaren Garantieleistungen einsteht.« Wie ernst man das nimmt, zeigt das aufwendige Testlabor bei Humpert. Auf programmierbaren Maschinen werden Sattelstützen und Lenker auf die jeweilige Norm hin getestet. Da rappelt es Tag und Nacht nach verschiedenen Rhythmen. Ein Lenker wird bei unserem Besuch gerade auf MTB-Level getestet – hier wird nicht nur Belastung von oben, sondern auch im Wechsel mit Wiegetritt simuliert.
Zurück zu den Humperts: Ob in mittlerer Zukunft ein Willi V als Chef nachrückt, ist unklar. Möglich wäre es. Immerhin gibt es die Söhne von Willi IV, Dennis und Jan Wilhelm. Ersterer soll in etwa fünf Jahren einsteigen. »Jede Generation ließ bislang den Nachfolger frei seine Entscheidungen treffen. Auch bei mir war das so, als ich die Firma neu strukturierte. Ob mein Nachfolger das auch darf … ich weiß es nicht. Ich kann das nicht so gut«, gibt Humpert zu. Willi IV hat ja auch etwas, was man heute unbedingt braucht: ein enormes Netzwerk. Florierende Kontakte zu Institutionen, zu OEMs, zum asiatischen Geschehen. Unabhängig davon könnte bald eine eigene Humpert-Produktion in Asien gegründet werden - wenn Ergotec weiter so an Fahrt aufnimmt. Aber auch für die Wickeder Produktion läuft es zufriedenstellend: »Wir sind heute der letzte Großserienhersteller im Lenker-Bereich hier«, so Humpert, »wir können unendlich minus 1 produzieren.« Und in Sachen Chrom-Lenker dürfte man ohnehin kaum an dem Wickeder Familienunternehmen vorbeikommen.

4. März 2019 von Georg Bleicher

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