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Digitize or die?
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Schulung - Handel 4.0

Digitize or die?

Die Ispo setzte dieses Jahr auf einer »Digitize«-Fläche digitale Innovationen der Industrie in Szene. Die vierte industrielle Revolution, wie die Digitalisierung auch genannt wird, beeinflusste ebenfalls die Fachmessen OutDoor und Eurobike wenige Monate später. Bereits drei Jahre zuvor hieß es im »Grünbuch – Arbeit weiter denken. Arbeiten 4.0«, mit dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine gesellschaft-liche Diskussion anstoßen wollte: »Der Einzelhandel … ist gefordert, kanalübergreifende Angebote für Kunden zu entwickeln, um so Online und stationären Handel zu verknüpfen.«

Digitize or die?Im »Rose Biketown Konzeptstore« kann man an LCD-Bildschirmen live und in Lebensgröße die Konfiguration von Fahrrädern beobachten.

Für Martin Erdl, Geschäftsführer der Sportläden »Intersport Erdl« und »Sport Store« in Straubing, führt am digitalen Wandel auch im stationären Handel kein Weg vorbei: »Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Abgesehen vom Autoverkauf erzielt der Handel derzeit ca. 510 Mrd. Euro Umsatz. Davon werden 53 Mrd. Euro online erwirtschaftet. In fünf bis zehn Jahren soll der Online-Umsatz auf 95 bis 100 Mrd. steigen. Wenn sich stationäre Händler nicht transformieren, werden sie von diesem Plus nichts abbekommen, einige werden zusperren müssen.«
Das Ziel, das mit der Digitalisierung erreicht werden soll, ist schnell erzählt: Online-affine Kunden sollen in den stationären Handel zurückgeholt werden. Dort soll ihnen künftig mehr geboten werden, als internetbasiert möglich ist. Shoppen in Erlebniswelten, das Anfassen der Produkte oder Testfahrten mit dem potenziell neuen Fahrrad sollen mit den Online-Vorteilen – Einkaufen zu jeder Zeit bei riesiger Produktauswahl – kombiniert werden.

Händler stehen vor komplexer Aufgabe

Alexander Thusbass forciert die Digitalisierung im Fahrradfachhandel. Er ist einer der beiden Geschäftsführer der DealerCenter Digital GmbH, die ein digitales Terminal für den POS anbietet. Mit dem Dealer Center möchte er eine »sofort einsetzbare und praxisnahe Lösung bieten, die die bereits vorhandenen losen digitalen Enden immer mehr zu einem Ganzen verknüpft«. Die Idee der digitalen Transformation, nach der die Hersteller, Kunden, Lieferanten und Mitarbeiter miteinander vernetzt werden sollen, ist überaus komplex. »Wir hören oft, dass ein Rechner mit der Website oder ein B2B-Shop des Herstellers ausreichen würde. Allerdings stoßen die Händler dann schnell an die Grenzen, da Websites eine grundsätzlich andere Kommunikationsstrategie verfolgen, die für eine Beratung schlicht nicht funktioniert.« Im Vergleich zu früher hätte sich aber das Bewusstsein in letzter Zeit gewandelt. »Die Händler und Organisationen sind sich mittlerweile völlig im Klaren, dass sie etwas tun müssen, um im immer stärker dynamisierenden Markt den Anschluss nicht zu verpassen. Allerdings wissen die allermeisten nicht, wo sie anfangen sollen«, ergänzt Thusbass.

Hemmnisse bei der Umsetzung

Vollständig vernetzte Läden, die als Vorbilder dienen könnten, fehlen bisher. Fehler sind also programmiert. Lehrgeld wird auch aufseiten der Hersteller und Anwender digitaler Endgeräte gezahlt. Mifitto ist da nur ein Beispiel: Anfang Juli musste das Start-up, das 3D-Scanner zur Ermittlung von Schuhgrößen anbot, Insolvenz anmelden. Händler, die mit dem Scanner arbeiten, müssen nun abwarten, wie es weitergeht.
Weil die Transformation auch für den stationären Handel kosten- und zeitintensiv ist, schlägt der Abschlussbericht »Digitalisierung und technologische Herausforderungen«, der 2017 im Bundeswirtschaftsministerium erschien, vor: »Die öffentliche Hand sollte prüfen, ob die bestehenden Förderprogramme für Digitalisierungsprojekte im Handel geeignet sind und ob die Programme erweitert werden müssen.« Händler in abgelegenen Regionen würden sich über mehr Unterstützung von staatlicher Seite sicher freuen. Dort verhindert der schleppende Breitbandausbau den Einstieg in den Handel 4.0. Laut Süddeutscher Zeitung vom 12. Juni 2018 stellte die Bundesregierung zwar für den Breitbandausbau 3,5 Mrd. Euro zur Verfügung. Bis Ende Mai wurden aber nur 26,6 Mio. Euro ausbezahlt, konkret verbaut sogar nur 3,1 Mio. Euro.
Steht eine schnelle Internetverbindung, tauchen andere Probleme auf. Ein Blick in den Sportfachhandel führt zur Brodos AG, die ebenfalls ein digitales Produktterminal anbietet. Auch ihr Konzept sieht vor, dass die Industrie ihre Warenwirtschaftssysteme an die Terminals koppelt, sodass am POS die Produktauswahl weit über die stationären Lagerbestände hinausgeht. »›Regalverlängerung‹ heißt das Zauberwort. Die Industrie unterstützt uns Händler aber dabei zu wenig. Sie blockt eher ab, weil sie ihren eigenen Online-Handel nach vorne bringen möchte«, berichtet Martin Erdl, der mit dem Terminal bereits Erfahrungen sammelte. »Probleme gibt es auch bei der Lieferung der Produkte. Einzellieferungen, die dem Hersteller vielleicht nur 30 bis 50 Euro bringen, sind für ihn nicht rentabel.«

Digitaler POS – keine Utopie mehr

Die digitalen Terminals sollen den Verkäufer aber auch bei der Beratung unterstützen. »Alle notwendigen Infos sind an einem Ort, zentral verwaltet und so aufbereitet, dass sie direkt im Verkauf eingesetzt werden können. Mühseliges Blättern in dicken Katalogen oder Recherchen an einem Rechner hinter der Theke entfallen somit. Das spart Zeit und der Händler muss den Kunden nicht mehr alleine lassen. Außerdem kann der Händler Produkte in perfekter, farbechter Qualität präsentieren, alle Ausstattungsinfos abrufen, Verfügbarkeiten in Echtzeit prüfen und Produkte direkt digital verkaufen«, erklärt Thusbass die Funktionen. Aber auch der Endkunde profitiere davon: »Er geht nie mehr wieder mit einer unbeantworteten Frage oder ohne Kauf aus dem Shop, da er ein nicht vorhandenes Produkt mit dem BikeCenter digital im Laden kaufen kann.« Aktuell testen rund 200 Händler das digitale Terminal, bis Ende des Jahres sollen es 500 sein.
Auch 3D-Brillen sind Komponenten des Handels 4.0. Sie führen in eine »Virtual Reality«, in der man computergesteuert z.B. die Sitzposition, die Schaltung und die Bremsen eines neuen Fahrrads testen kann oder sich in eine Radtour »beamt«.
Interaktive Schaufenster locken Kunden auch nach Ladenschluss an, um Produkte digital zu bestellen und zu kaufen. Die Zahlverfahren sind vielfältig: Paypal und Sofortüberweisung sind ebenso möglich wie Rechnungs- und Ratenkauf. Die Vorteile für den Händler liegen auf der Hand: Er erzielt auch außerhalb der Öffnungszeiten Umsätze und spart sich gleichzeitig aufwendig inszenierte Schaufensterdekorationen.
Ein Tresen mit integriertem Touch-Screen-Display informiert im Geschäft über die Herkunft der verwendeten Materialien eines Produkts, über weitere Farbvarianten bis hin zu Pflegehinweisen. Gleichzeitig erfährt der Kunde Details zur Verfügbarkeit und zu den Lieferbedingungen.
Digitale Umkleidekabinen sind ebenfalls mit Touchscreens ausgestattet. Produkte können damit in anderen Größen direkt aus der Kabine beim Verkäufer bestellt werden. Die japanische Firma Toshiba präsentierte bereits 2015 auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas eine noch ausgefeiltere Variante des »Virtual Fitting Rooms«: Kunden konnten dort nach dem Scannen ihres Körpers ihr Wunschprodukt mithilfe eines Touchscreens selbst designen und danach sofort online bestellen.
Ein weiteres Beispiel ist die flexible Preisgestaltung mithilfe von Computer-Algorithmen. »Bei den automatisierten Entscheidungen werden historische Daten und weitere wichtige Einflussfaktoren wie das Wetter, Feiertage oder Wettbewerbsinformationen berücksichtigt«, heißt es dazu in einer Broschüre von Blue Yonder – einem Unternehmen, das das Know-how dazu anbietet. Digitale Preisschilder am Verkaufsständer setzen dann die ebenfalls digital übermittelten Preisänderungen sofort um.

BikeLocal macht stationäre Angebote digital verfügbar

Auch im Fahrradmarkt finden sich bereits beispielhafte digitale Lösungen für die stationäre Verkaufsfläche: Mit BikeLocal realisiert die junge Bidex GmbH eine automatisierte Darstellung der stationären Verfügbarkeit in digitalen Umgebungen. Das kann die Website einer Fahrradmarke sein, auf der dem Betrachter dann angezeigt wird, bei welchem Händler in der Nähe das gerade betrachtete Modell in der passenden Rahmengröße und gewünschten Farbe aktuell verfügbar ist. Künftig soll diese Funktion aber auch in vielen weiteren Online-Umgebungen zu finden sein, etwa begleitend zum Testbericht eines entsprechenden Fahrradmodells. BikeLocal bezieht dabei nicht nur die mittels Schnittstelle zu den Warenwirtschaftssystemen ermittelten stationären Warenbestände in die Darstellung mit ein, sondern auch Fahrradmodelle, die vom Hersteller kurzfristig an einen angeschlossenen Fachhändler geliefert werden können.
Aktuell wird BikeLocal bereits für die Accell-Marken Winora und Haibike sowie für KTM, die Marken des Einkaufsverbands Bico und für die Marken von Fahrradhersteller Cycle Union umgesetzt.

Geht das Personal mit?

Die digitale Transformation des Handels wirkt sich auch auf das Berufsbild des Verkäufers aus. Martin Erdl nennt ein Beispiel: »Bezogen auf das Segment Schuhe ist der Schuhberater nach wie vor wichtig. Aber es werden ihm immer mehr digitale Tools zur Seite gestellt, wie z.B. dreidimensionale Schuhvermessungssysteme unterschiedlicher Hersteller. Ohne Weiterbildung geht es nicht. Gleichzeitig stellt der Handel 4.0 für die jüngere Generation kein Problem dar. Im Gegenteil: Das Berufsbild des Fachverkäufers wird damit wieder attraktiver. Richtungsweisend ist hier sicher auch der neue Ausbildungsberuf Kaufmann/frau im E-Commerce.« Laut der Gewerkschaft Ver.di entschieden sich bereits im August 2017 ca. 1.000 Auszubildende für diese Berufsausbildung.

Die gesellschaftliche Dimension

Die Digitalisierung einst analoger Prozesse führt unweigerlich zu immensen Datenmengen, auch Big Data genannt. Big Data weckt in der Regel immer mehr Begehrlichkeiten, die zu Ende gedacht auch demokratische Strukturen gefährden. So berichtete die Süddeutsche Zeitung im Juli von Brad Smith, dem Chefjuristen von Microsoft, der hinsichtlich der automatisierten Gesichtserkennung davor warnt, dass »fundamentale Menschenrechte wie Privatsphäre und Meinungsfreiheit« gefährdet seien. Microsoft fordere deshalb Reglementierungen und internationale Abkommen vonseiten der Regierungen.
Dass auch Fahrradhändler um ethische Fragen nicht herumkommen, zeigt ein Angebot von Osram. Der Leuchtmittelhersteller bietet dem Handel eine innovative Lampe mit folgenden Worten an: »Sie erhalten einen Überblick über Ressourcen wie z.B. Mitarbeiter, … erkennen Optimierungspotenzial und können umgehend Maßnahmen für Verbesserungen anstoßen«. Übersetzt präferiert das Unternehmen damit die Überwachung der Mitarbeiter inklusive Arbeitsverdichtung. Unerwähnt bleibt, dass diese Leuchtsysteme der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (Betriebsverfassungsgesetz § 87 Abs. 1 Nr. 6: »Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu über-wachen«).
Für die im Handel 4.0 anfallenden Kundendaten interessieren sich auch die Produkthersteller. Dies bekommen wiederum die Vertreiber digitaler Geräte zu spüren. Alexander Thusbass kann ein Lied davon singen: »Mittlerweile gibt es Mitbewerberprodukte, die unserer Meinung nach fast ausschließlich den Endkunden im Fokus haben. Es scheint, als ob das Ziel nicht die Beratungs- und Verkaufsunterstützung des Händlers ist, sondern ein weiterer Zugang zum Endkunden bzw. dessen Daten gelegt werden soll. Das ist für uns eine ganz klare rote Linie. Dass aus Daten interessante Erkenntnisse gewonnen werden können, deren Auswertung wichtige Einsichten enthalten, ist unstrittig und sollte genutzt werden. Jedoch niemals zu Ungunsten der Händler oder Organisationen. Diese müssen unserer Meinung nach Herr ihrer Daten sein und bleiben.«

13. August 2018 von Dorothea Weniger

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