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Viele Arbeitsplätze, wenig Personal. Der Fachkräftemangel in der Branche ist akut.
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Report - Fachkräftemangel

»Du musst darum kämpfen, deine Mitarbeiter zu bekommen«

Ein Händler erzielt einen Umsatz von fast drei Millionen Euro mit insgesamt nur vier Mitarbeitern – einschließlich Buchhaltung und ihm selbst. Klingt nach schlanken Strukturen und effektivem Management? Von wegen: Der Mann ist verzweifelt. Er findet keine Mitarbeiter und sieht seinen Geschäftserfolg in Gefahr. Und damit ist er nicht der einzige in der Branche.

Der Laden brummt, man lag richtig bei der Order, die Kunden kreisen wie Bienen um ihre Honigfahrräder, aber beim Händler liegen die Nerven blank. Gleich mehrere Mitarbeiter sind erkrankt oder fallen nach Unfällen aus, eine Veränderung zum Besseren ist bis auf Weiteres nicht in Sicht. Kurzfristig neue Mitarbeiter einstellen? Keine Chance.
Nicht überall ist es so extrem wie in diesem Fall, aber selbst ohne solche haarsträubenden Situationen in der Hochsaison ist der derzeitige Fachkräftemangel das vermutlich akuteste Problem in der Fahrradbranche. Es gibt praktisch niemanden, dem der herrschende Mangel an Personal nicht schmerzhaft bewusst wäre. Je näher die Akteure am Radhandel sind, desto klarer zeigt sich das. Jürgen Haumon, der für Velo de Ville die Händler im südlichen Bayern betreut, sieht akuten Personalmangel bei überaus vielen Händlern. »Die von mir betreuten Händler in Bayern sprechen mich sehr oft auf dieses Thema an. Ich könnte mindestens 100 Leute im Verkauf und 150 Mitarbeiter in der Werkstatt vermitteln. Und das ist nur Bayern Süd.« Was fast schon anekdotisch klingt, ist eine reale Gefahr für den Erfolg des Fachhandels. Auch Andreas Lübeck, der als Unternehmensberater ebenfalls einen tiefen Einblick in die Entwicklungen der Branche hat, sieht die Lage kein bisschen rosiger. »Das Problem ist sehr, sehr groß und verschärft sich nach meiner Beobachtung von Monat zu Monat.«
Dabei könnte man sich über diese Situation wundern. Immerhin wird das Fahrradfahren heute so positiv wahrgenommen wie vermutlich noch nie zuvor. Hochwertige Räder zu kaufen und mehr oder weniger viel Zeit auf ihnen zu verbringen, ist hip und angesagt. Es ist der Deutschen liebste Freizeitbeschäftigung und kulturprägendes Gut. An diesen Rädern professionell zu schrauben, genießt aber anscheinend längst nicht die gleiche Wertschätzung. Aus der eben noch millionenfachen Fahrradaffinität wird plötzlich eine Mangelsituation, in der es nicht genügend Menschen gibt, die sich haupt- und nebenberuflich mit dem Fahrrad beschäftigen wollen. Die Erklärung für diese Situation ist komplex. »Es kommen verschiedene Sachen zusammen. Zum einen ist das ein hausgemachtes Problem, weil über Jahre hinweg kaum gezielt ausgebildet wurde. Selbst große Betriebe haben gar nicht ausgebildet. Dazu kommt die zunehmende Technisierung der Fahrräder, für die es zunehmend Spezialisten braucht, die man nicht einfach aus dem Hut zaubert«, erklärt Lübeck.
Gerade die E-Mobilität führt dazu, dass für diese Spezialisten nach einem anstrengenden Sommer kein geruhsamer Winter folgt. Wer heute verschiedene Antriebssysteme verkauft und für diese auch den Service leisten will, dessen Mitarbeiter sind im Grunde den ganzen Winter über auf Schulungen unterwegs. »Jedes Jahr ändern sich gravierende Dinge. Man muss die Mitarbeiter schulen und in dieser Zeit fehlen sie zusätzlich.« Man bekäme kaum noch Leute, die auf diesem Niveau geschult sind »und von Nachwuchs ist kaum noch zu reden«, sieht Lübeck.

Gute Gehälter für gute Fachkräfte

Ganz ähnlich klingt das Urteil bei Philipp Simon, der als Geschäftsführer von Bike-Components nicht nur ein stationäres Ladengeschäft in Aachen führt, sondern auch über den bekannten Onlineshop die Verantwortung für rund 200 Mitarbeiter trägt. »Es gibt keinen Nachwuchs, der diese Räder reparieren könnte. Das stellt uns als Unternehmen vor sehr große Herausforderungen.« Immerhin hat der Mangel sein Gutes für die Fahrrad-
mechaniker, die kompetent sind und ihren Job gerne ausüben wollen. Sie erhalten inzwischen ansehnliche Gehälter für ihre Leistung. »Die Nachfrage bestimmt den Preis. Mittlerweile kann ein guter Fahrradmechaniker auch gutes Geld verdienen«, sieht Simon. Jahresgehälter jenseits der 30.000 Euro brutto seien heute für diese Fachkräfte erreichbar. Doch mit Geld alleine ließe sich das Problem des Fachkräftemangels nicht lösen. Wenn es um den erfahrenen Mechaniker geht, der seinen Job versteht und über Jahre Kompetenzen und Erfahrungen aufgebaut hat, dann würde Simon zustimmen, dass man über höhere Gehälter solche Mitarbeiter gewinnen könnte. Aber letztlich würden sie auf diese Weise auch nur woanders abgeworben. Das grundsätzliche Problem des Fachkräftemangels würde damit nicht gelöst, sondern nur weitergeschoben zu Betrieben, die bei den Löhnen nicht so viel Bewegungsfreiheit haben. »Das Problem ist, dass von unten aufgrund der fehlenden Attraktivität des Ausbildungsberufs zu wenig Nachwuchs herangezogen wird.«
Der Beruf Zweiradmechatroniker sieht die Herausforderung sehr wohl und versucht die Inhalte in der Ausbildung zu vermitteln. Gleichzeitig stehen aber selbst die Berufsschulen vor der Herausforderung, dass sie nicht beliebig über Lehrkräfte verfügen, die selbst auf der Höhe der Technik lehren können und mit dem entsprechenden Lehrmaterial ausgestattet sind.
Das ändert aber noch nichts an der grundsätzlichen Problematik, dass sich nicht nur zu wenige potentielle Kandidaten für einen Beruf in der Fahrradbranche erwärmen, sondern diese durch die negative Wahrnehmung der Branche zusätzlich abgeschreckt werden. Das Bild von den langen Arbeitstagen und schmutzigen Fingernägeln an schönen Sommertagen ist die eine Seite. Verheerend das Ergebnis, zu dem das führen kann, wie Philipp Simon verdeutlicht: »Ich hatte da mal ein Schlüsselerlebnis mit der IHK. Wir hatten einen fitten Mitarbeiter, der die Werkstatt übernehmen wollte. Aber zunächst wollte er eine Ausbildung machen. Da sagte der Mann von der IHK zu ihm: ›Sie haben doch Abitur, warum machen Sie nicht etwas Vernünftiges?‹ Der ist dann später tatsächlich abgesprungen. Wir hatten jemanden mit Potential, den wir über Jahre hätten aufbauen können. Dass der dann so vor den Kopf gestoßen wird, fand ich schon hart.« Probleme gibt es also reichlich, doch wie lassen sie sich lösen?

Employer Branding

Wenn es um das einzelne Unternehmen geht, dann hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten das Employer Branding als funktionierende Maßnahme bewährt, um Personal zu finden und zu halten. Hinter dem Begriff steht das Konzept, das eigene Marketing nicht nur auf die angebotenen Produkte auszurichten, sondern das Unternehmen selbst als attraktiven Arbeitgeber darzustellen. Es ist also der Versuch, in den Köpfen potentieller Bewerber positiv wahrgenommen zu werden. Dem Employer Branding werden heute viele positive Auswirkungen zugeschrieben. So würden nicht nur die Mitarbeiter mit höherer Leistungsbereitschaft ihr tägliches Werk vollbringen, sondern auch eine höhere Identifikation mit dem Unternehmen aufweisen. Das Branding wirke sich sogar positiv auf den Krankenstand aus. Und nicht zuletzt: Bei der Auswahl ihres zukünftigen Arbeitgebers bevorzugen die Bewerber die Unternehmen, die über Employer Branding eine positivere Wahrnehmung aufweisen.
In der Fahrradbranche ist dieses Konzept ebenfalls bereits angekommen. Riese und Müller etwa nutzt diese Form des Marketings sehr erfolgreich schon seit Jahren, um in einer Stadt mit hohen Löhnen und niedriger Arbeitslosenquote trotzdem geeignetes Personal anzuziehen (siehe velobiz.de Magazin 6-2016, Herausforderung Employer Branding).
Doch die Wahrnehmung in der Branche insgesamt geht dahin, dass Lösungen von einzelnen Akteuren nicht den Befreiungsschlag liefern werden, der in der aktuellen Situation notwendig wäre. Insbesondere die Verbände sind prädestiniert, hier die Initiative zu ergreifen und der Ruf wurde von ihnen bereits erhört.

Branchenweite Kampagne will Fachkräfte gewinnen

Während der jüngst abgelaufenen Eurobike präsentierte der VSF vor namhaften Branchenvertretern das Konzept einer branchenweiten Kampagne zur Fachkräftegewinnung. Statt Einzelunternehmen sollte die Branche sich zu diesem Thema geeint präsentieren und ihre Attraktivität demonstrieren. »Das Thema treibt alle in der Branche um, besonders den Fachhandel«, erklärte dort Albert Herresthal die Ausgangslage. »Ohne ausreichendes Personal können Unternehmen nur einen Teil ihres wirtschaftlichen Potentials nutzen.« Entsprechend wichtig sei es, mit konkreten Maßnahmen über das sonst übliche »man könnte mal, man sollte mal« hinauszukommen. »Das Thema sollte für uns alle höchste Dringlichkeit haben«. Uwe Wöll, Geschäftsführer der VSF Service GmbH, ergänzte dort: »Das Ziel ist es, eine Kampagne zu starten, die hoffentlich der gesamten Branche hilft. Es sind erschreckend geringe Zahlen zu vermelden von Menschen, die sich neu ausbilden lassen. Die Branche wird überhaupt nicht als attraktive Ausbildungsbranche wahrgenommen, was ein großes Manko ist.
Die Außendarstellung bleibt trotz bester Voraussetzungen klar unter ihren Möglichkeiten. Wir haben mehr, als wir nach draußen darstellen. Wir agieren nicht zusammen, sondern einzeln.« Diese Wahrnehmung draußen soll die Kampagne angehen.
Dass man es ernst meint, zeigt die Vorleistung, die man bereits vollbracht hat. Zusammen mit einer Agentur wurde eine Voruntersuchung geleistet, mit der mögliche Ansatzpunkte untersucht wurden. Besonders viel Raum nahm die Frage ein, was junge Menschen bei der Berufswahl motiviert und antreibt und wie man ihr Augenmerk auf die sehr wohl attraktive Fahrradbranche lenken könnte.
Dennoch ist festzuhalten, dass sich diese Kampagne noch in einem frühen Stadium befindet, was sich allein schon daran zeigt, dass sie gerade einmal der Branche vorgestellt wurde und die exakten Ziele samt dahin führenden Maßnahmen noch festgelegt werden müssen. Der Input anderer Branchenteilnehmer ist ausdrücklich erwünscht. Welche Ziele erreichbar sein werden, hängt nicht zuletzt mit der finanziellen Ausstattung der geplanten Kampagne zusammen. Es mag sein, dass hier noch viel Arbeit zu leisten ist, bevor sich die Erfolge in Form steigender Fachkräftezahlen einstellen. Die Gelegenheit verstreichen zu lassen kann sich die Branche nicht leisten. Dafür gibt es jetzt schon zu viele Anekdoten rund um den Fachkräftemangel.

7. Oktober 2019 von Daniel Hrkac
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