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Jahresrückblick

Ein gutes Jahr

Das Jahresende ist stets eine Gelegenheit, kurz innezuhalten, sich die bisherigen Geschehnisse noch einmal vor Augen zu führen und zu überlegen, was das für die nächste Saison bedeuten kann. In der Fahrradbranche gibt es viele spannende Entwicklungen, die kurz- und langfristige Folgen haben werden.

Warenverfügbarkeiten

Seit diesem Jahr gibt es einen Impfstoff, durch den in der Pandemie zumindest phasenweise wieder so etwas wie Normalität möglich wurde. Die Menschen konnten wieder mehr Aktivitäten aufnehmen und bekamen etwas von ihrem Alltag zurück. Diese neue, alte Vielfalt hat dem Fahrradverkauf nicht geschadet.

Ganz konkrete Probleme bereiteten dagegen die verzögerten oder gar ganz ausfallenden Warenströme. Sehr viel Aufmerksamkeit erhielt die Havarie im Suezkanal im Frühjahr, auch wenn sie in ihrer Gesamtwirkung für die Branche eher überschaubar war. Mehr geschadet hat der Umstand, dass die verschiedenen Produktionsstätten, Fabriken und Häfen in Fernost durch mehrfach erzwungene Schließungen aufgrund von Corona-Ausbrüchen nicht wieder einholbare Verzögerungen der Warenflüsse bewirkt haben.

Besonders hart hat es diejenigen Händler erwischt, die sich der Aufforderung zur Vororder entziehen wollten und darauf vertraut haben, auch kurzfristig genügend Ware zu bekommen. Diese Strategie war in dieser Saison besonders ungünstig, aber auch viele größere Händler mussten und müssen leiden, weil sie selbst mit Vororder nicht immer das Material bekommen haben, das sie benötigen, um ihre notwendigen Umsätze zu erzielen. Nicht wenige Händler stehen derzeit mit ihren letzten Fahrrädern im Laden, händeringend auf Nachschub wartend.
Das Thema ist noch nicht vom Tisch: Die meisten Händler können von Orderkürzungen für die nächste Saison berichten. Immerhin kamen diese Mitteilungen schon vor geraumer Zeit, sodass zumindest theoretisch die Gelegenheit vorhanden war, gegenzusteuern und umzudisponieren. Wenn allerdings die besonders begehrlichen Marken ihre zugesagten Mengen nicht liefern können, stehen Händler vor der unschönen Situation, dass sie vielleicht die Mengen woanders bekommen können, aber nicht die gleichen Margen mit dem gleichen Markenimage und dem entsprechenden Verkaufsdruck.

Die Probleme der Hersteller, Ware ranzuschaffen, sind auch ein Teileproblem. Sram und Shimano können sich vor Aufträgen kaum retten, sind aber nicht imstande (und stellenweise auch nicht willens), kurzfristig Kapazitäten aufzubauen, die vielleicht in ein paar Jahren so nicht mehr benötigt werden. Aber auch viele andere wichtige Zulieferer arbeiten entweder am Anschlag oder haben ihrerseits mit Verzögerungen zu kämpfen. Aktuellstes Beispiel ist Bosch, die für ihre Akkupacks einen Computerchip benötigen, dessen fristgerechte Lieferung derzeit wohl noch nicht sichergestellt ist.

Messelandschaft im Wandel

Eine Leitmesse, die die gesamte Fahrradbranche repräsentieren kann und sie mit ihrer Außenwirkung auch gleich voranbringt – diese Idee hat sich schon vor einer Weile in den Köpfen festgesetzt. In diesem Jahr hat sich die Lage deutlich verändert. Die fortgesetzte Pandemie, der Fahrrad-Boom und der Wettbewerb zwischen Eurobike und einer IAA, die sich nun auch für das Fahrrad interessiert, haben zuvor unwahrscheinliche Veränderungen in Gang gesetzt.

Der größte Unterschied zu früher dürfte sein, dass sich in diesem Herbst die drei großen Einkaufs- und Händlerverbände unisono zur Eurobike bekannt haben, die ZEG pikanterweise noch während sie in München vor Ort war. Ein großer Teil des relevanten Fahrradfachhandels wird also nächstes Jahr in Frankfurt zu finden sein. Dieses Commitment erzeugt Handlungsdruck bei den Marken, die sich schon länger von solchen Veranstaltungen zurückgezogen haben. Mehr noch, scheint es einen Willen zu geben, zum Wohle des Fahrrads eine Veranstaltung zu finanzieren, die vielleicht keinen unmittelbaren Return on Investment ausspucken wird, aber doch eine längerfristige Wirkung entfalten könnte. Es winkt mediale Aufmerksamkeit, die sonst kaum je erreicht wird. Ob das ausreicht, die großen Hersteller wieder zurückzuholen? Dass eine vielfältige, globale Leitmesse, von denen es ohnehin immer weniger gibt, auf ewig zum falschen Zeitpunkt stattfinden wird, spielt derzeit nur eine untergeordnete Rolle.

Dass die IAA nach ihrem Umzug nach München auch finanziell keine Wende vollbringen konnte, zeigte sich im Spätherbst. Die neu konzipierte Fahrradmesse mit Autoschwerpunkt, vielleicht war es auch umgekehrt, hat mit guten Ideen gezeigt, wie eine zeitgemäße Veranstaltung aussehen kann, die zu den Menschen und in die Stadt kommt. Der VDA, also der Verband der Automobilindustrie und oberster Automobillobbyist des Landes, zeigte seinen Mitgliedern jüngst dennoch akute Geldknappheit an. Bisher finanzierte sich der Verband hauptsächlich über die IAA, nun reichen die Einnahmen nicht mehr aus, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Von den benötigten 24 Millionen Euro Jahresetat sind nur 12 Millionen zugeflossen. Die Eurobike war in diesem Jahr sicher auch nicht das, was sie finanziell in den Vorjahren darstellen konnte. Der Unterschied ist, dass sie auf eine zumindest kurz- und mittelfristig sehr attraktive Zukunft schaut. Diese Runde geht klar an die Messegesellschaften in Friedrichshafen und Frankfurt.

Große Übernahmen
und Verkäufe
Noch nie war die Fahrradbranche für die Finanzindustrie so interessant wie heute: Im Februar ging der Verkauf von Canyon an eine belgische Investorengruppe endgültig über die Bühne. Der Verkaufspreis habe bei 800 Millionen Euro gelegen. Signa Sports übernahm Wiggle, und die Pon-Gruppe übernahm Dorel (für 810 Millionen US-Dollar), jüngst übernahm noch Tier den Radverleiher Nextbike und Porsche Greyp. Dazu kamen über das Jahr noch zahlreiche weitere Übernahmen, Zusammenschlüsse, Finanzierungen und Börsengänge: Bike24 ging im Sommer ebenso an die Börse wie hGears, Batterieexperte BMZ steht wohl noch in den Startlöchern. So viel Geld ist noch nie zuvor in die Branche geflossen. Das Fahrrad ist nicht nur bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern angesagt, auch die Finanzinvestoren dieser Welt entdecken es als lukrative Investition. Wer dem Urteil der Finanzwelt vertrauen mag, sieht darin eine Bestätigung, dass die Branche eine langfristig positive Perspektive vor sich hat.

Diese Entwicklung ist aber nicht zuletzt auch ein Konzentrationsprozess. Pon ist nun der neue größte Fahrradhersteller der Welt, der auch hierzulande eine gewichtige Rolle spielt. Lange Zeit galt das Verdikt, dass kein Fahrradhersteller in Deutschland auf einen Marktanteil von über fünf Prozent kommt. Das stimmt so nicht mehr.

Gewinner und Verlierer

Damit ist man schon bei den Gewinnern und Verlierern dieses Jahres. Cube bleibt als Einzelmarke in Deutschland das Maß der Dinge. Niemand sonst kommt derzeit auch nur in die Nähe der Umsätze, die die Muttergesellschaft Pending mit einer Marke erreicht. Auf Konzernebene sind Derby Cycle und Accell Germany mit den Umsätzen zwar nah dran, erzielen sie aber mit einem Bauchladen an Marken. Gleiches gilt auch für die vielseitig interessierte Pon Holding mit Sitz in den Niederlanden. Innerhalb von zehn Jahren ist man vom Nebendarsteller zum globalen Schwergewicht mit einem kolportierten Umsatz von 2,5 Milliarden Euro allein im Bike-Geschäft aufgestiegen. Sie wird in Zukunft maßgeblich mitbestimmen, wie die Fahrradwelt aussieht.

Auch alle Marken-Newcomer hatten in den letzten zwei Jahren leichtes Spiel im Fachhandel – sofern sie nur liefern konnten. Die Markenvielfalt, sie wird nicht so schnell verschwinden aus der Fahrradwelt, auch wenn die Kapitaleinsätze und Zugangshürden größer sein mögen.

Und die Verlierer? Gibt es überhaupt welche? Es war nicht alles eitel Sonnenschein: Sie hatten mit verspäteten Wareneingängen zu kämpfen? Die Order wurde gekürzt oder es haben gar Lieferanten die Beziehungen aufgekündigt? Dann stehen die Chancen gut, dass es sich tendenziell um einen kleineren Betrieb ohne schicke Verkaufsfläche handelt. Diese Entwicklung findet nicht erst seit Corona statt, aber mancher Hersteller hat sich in dieser Lage entschlossen, seine Strukturen jetzt zu straffen. Das Etikett »Verlierer« dürfte trotzdem unangebracht sein. Jeder einzelne Betrieb, der Fahrräder reparieren kann, wird gebraucht. Hier liegt eine offensichtliche Zukunft für jene Nahversorger, die das Spiel von größer, schöner, aufwendiger nicht mitgehen können oder wollen. Die Werkstatt wird ebenfalls ein Gewinner sein. Es mag nicht perfekt gelaufen sein, aber für die große Mehrheit der Beteiligten war das Fahrradjahr 2021 trotzdem ein gutes Jahr. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. //

2. Dezember 2021 von Daniel Hrkac
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