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Europa gibt den Takt an
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Report - E-Bike-Innovationen

Europa gibt den Takt an

Nie war das Innovationstempo in der Fahrradbranche höher. Das zeigten die Herbstmessen von der Eurobike bis zur IAA. Dabei kann man den Eindruck gewinnen, dass sich gerade ­Unternehmen aus Europa im E-Bike-Segment inzwischen weltweit zum Innovationsmotor und Schrittmacher entwickeln.

Zumindest gefühlt vereint das E-Bike-Segment inzwischen das Gros der wichtigsten Neuerungen im Fahrradmarkt auf sich. Und auch wenn Marken und Unternehmen aus Fernost natürlich weiterhin stark präsent sind, drängt sich inzwischen das Bild auf, dass Tempo und Richtung der Innovationen mehr und mehr von Europa ausgehen. Zu Bosch als starkem Player und Innovationstreiber, an dem sich Antriebshersteller weltweit messen lassen müssen, sind weitere leistungsstarke europäische Unternehmen getreten. Oft befindet sich ihr Kerngeschäft wie beim Automobilzulieferer Brose, beim Polymerspezialisten Rehau oder beim italienischen Hersteller Siral (Marke Neox) nicht im Fahrradbereich, aber ihre Kompetenzen passen sehr gut in den dynamisch wachsenden E-Bike-Markt. Zudem zeichnet sich immer mehr ein Paradigmenwechsel ab: Vom Assembler wandeln sich stückzahlenstarke Hersteller wie die Accell-Gruppe (u. a. Haibike und Winora), Derby Cycle (u. a. Kalkhoff, Raleigh, Focus) oder Biketec (Flyer) immer mehr zu Entwicklern, die in enger Kooperation mit Zulieferern an neuen technischen Lösungen arbeiten.

Digitalisierung, Systemintegration und User Experience

Auch wenn E-Bikes inzwischen technisch ausgereifte Produkte sind, von Stillstand ist keine Spur. Ganz im Gegenteil. Gerade beginnt eine Phase, die mit der Technisierung des Alltags als weltweitem Trend und zentralem Erlebnis für alle Jahrgänge Hand in Hand geht. Beispielsweise eröffnen sich mit der Bluetooth-Anbindung an das Smartphone samt Navigations- und Fitnessapps oder elektronischen Schaltungen, Lichteinstellungen oder Federsystemen fast unbegrenzte Möglichkeiten. Neben der Digitalisierung steht der Bereich Systemintegration als zweiter großer Trend im Raum. Ein Thema, das gerade im Premiumbereich künftig wohl immer wichtiger wird, denn es schafft überlebenswichtige Differenzierungspotenziale, wie Ivica Durdevic, Chief Technology Officer der Biketec AG, im Gespräch erläutert. »Zentral geht es darum, dass wir uns mit unseren Flyer-Produkten im hochpreisigen Segment von Wettbewerbern differenzieren und unseren Kunden einen Mehrwert bieten. ­Deshalb arbeiten wir mit Panasonic zusammen, was uns genau dies ermöglicht. Und darum behalten wir auch das Gesamtdesign mit der Systemintegration und die Steuerung und Bedienung in unserer Hand.« Von zentraler Bedeutung wird dabei im wettbewerbsstarken und auf Qualität, Innovation und Image fokussierten europäischen Markt die Schnittstelle zum Menschen, wie auch der Gründer und Geschäftsführer Andreas Gahlert vom Technologie-Start-up COBI betont. »Die User Experience ist absolut wichtig. Beim E-Bike vor allem mit Blick auf die Motorsysteme, die in ihren Eigenschaften immer ähnlicher werden.«

Der Markt wächst – die Kundenerwartungen auch

Der Markt für E-Bikes in Deutschland und in Europa wächst solide und beständig weiter. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) rechnet für das Gesamtjahr 2015 in Deutschland mit 520.000 verkauften E-Bikes. Mittelfristig geht der ZIV von einem 15-prozentigen Marktanteil im Fahrradsegment aus, was einer jährlichen Stückzahl von rund 600.000 entspräche. Nach einer von Shimano zusammen mit TNS Emnid erstellten Umfrage könnten die tatsächlichen Verkäufe allerdings deutlich darüber liegen. So zeigt sich demnach etwa jeder fünfte Deutsche davon überzeugt, dass Elektroräder in Zukunft die populärste Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln werden. Einer von zehn vermutet sogar, dass das Auto langfristig aus den Städten verdrängt wird. Dazu Richard Keeskamp, Marketing-Direktor bei Shimano Europe: »Elektroräder sind Trend. Immer mehr Bundesbürger ziehen sie alternativen Fortbewegungsmitteln vor und lassen zum Beispiel das Auto stehen. Die Deutschen leben zunehmend bewusster, überdenken ihren Lebensstil und greifen neue Ernährungstrends, Fitness Workouts und digitale Anwendungen wie Fitness Tracker auf. Das beeinflusst auch ihre Mobilitätsgewohnheiten.«
Aber der Markt wächst nicht nur, die Kunden werden hierzulande auch immer anspruchsvoller. Gerade jüngere gut verdienende Kunden erwarten neben exzellenter Performance, hohen Reichweiten und gutem Service auch ein attraktives Design. »E-Bikes sind bei der wachsenden Kundengruppe von 35 bis 45 Jahren zu Lifestyle-Objekten geworden«, bestätigt Derby-Cycle-Pressesprecher Arne Sudhoff. »Deshalb haben wir bei Kalkhoff parallel mit der Entwicklung der neuen Integrale-Serie auch die Marke einem umfassenden Relaunch unterzogen.« Der Erfolg scheint Derby Cycle dabei Recht zu geben »Die erste Charge der neuen Kalkhoff-Modelle war unmittelbar nach der Präsentation im April ausverkauft, was für die Jahreszeit und bei einem neuen Modell mit einem Preispunkt oberhalb von 3.000 Euro schon bemerkenswert ist. Auch im Nachgang wurden unsere hohen Erwartungen noch einmal deutlich übertroffen.« Für die Zukunft sieht Derby Cycle ein starkes weiteres Wachstum. Auch wenn keine exakten Zahlen genannt werden: Von rund 100.000 verkauften E-Bikes sei eine Steigerung auf 150.000 Stück durchaus vorstellbar und in Zusammenarbeit mit Zulieferern in Asien und logistischer Unterstützung durch die Konzernmutter Pon Holdings in Planung.

If I can make it there …

Starkes Wachstum lockt auch immer neue Marktteilnehmer auf den Plan, die den E-Bike-Markt mit Innovationen beleben, Impulse setzen oder Entwicklungen voranbringen. Dazu später einige Beispiele. Generell sorgen sie aber nicht nur für ein hohes Innovationstempo, sondern auch für ein hochkompetitives Umfeld, in dem es sich zu behaupten gilt. Hohe Entwicklungskosten und in Bezug auf Technik, Qualität und Service vor allem in Deutschland äußerst anspruchsvolle Kunden sowie der Fachhandel, der neue Produkte und Marken gebrauchen kann, aber kaum welche wirklich braucht, bedeuten hierzulande hohe Hürden. Für Newcomer genauso, wie für Traditionsmarken oder Marktführer, die sich immer wieder neu beweisen oder erfinden müssen. Meldungen zu Übernahmen und Insolvenzen haben das in letzter Zeit deutlich unterstrichen. Andererseits gilt das Motto: Wer sich im anspruchsvollsten Markt beweist und etabliert, hat beste Chancen, sich seinen Platz in neuen aufstrebenden Märkten zu erobern. Frei nach dem Motto »If I can make it there, I‘m gonna make it anywhere«.

Blaupause Automobilindustrie

Um das Innovationstempo hochzuhalten und die Entwicklungszeiten neuer Produkte zu verkürzen, setzt die Automobilindustrie schon seit Langem auf enge Entwicklungskooperationen mit ihren Zulieferern, Qualitätskontrollen vor Ort und die zeitliche Überlappung von traditionell nacheinander folgenden Arbeitsabläufen. Das sogenannte Simultaneous Engineering bringt dabei den Vorteil, dass Entwicklungen parallel angestoßen werden und nicht nur im Unternehmen selbst laufen. Auch die Zulieferer und Komponentenhersteller werden möglichst früh aktiv in den Prozess mit eingebunden.
»Kooperationen mit Zulieferern sind mehr denn je wichtig«, betont Flyer-Mann Ivica Durdevic, der vor seiner Aufgabe bei Biketec bei der Entwicklung des Bosch-Antriebs eine wichtige Rolle spielte. Die Vorstellung des völlig überarbeiteten Panasonic-Antriebs auf der Eurobike, der bis auf weiteres in Europa exklusiv für Flyer gefertigt wird, ist ein Ergebnis solch einer Zusammenarbeit. »2013 haben wir die ersten Gespräche mit Panasonic zu einer neuen Antriebsgeneration geführt und Vorbereitungen für ein geeignetes System getroffen. Mitte 2014 ist dann die finale Entscheidung gefallen. Bis wir dann zur Eurobike einen neuen Antrieb und eine neue Steuerung, die aus unserem Haus kommt, präsentieren konnten, hat es also gut zwei Jahre gedauert.« Systemintegration meint in diesem Fall, dass Flyer mit dem Panasonic-System kein fertig geliefertes und damit standardisiertes und austauschbares Produkt integriert, sondern auf eine individuelle Lösung setzt. »Der Kunde soll bei uns eine ganz spezielle Flyer Experience bekommen: Hochwertig, schick, perfekt abgestimmt auf den jeweiligen E-Bike-Typ«, so Ivica Durdevic. Mit diesem Anspruch sind trotz Arbeitsteilung und den Vorteilen auf Panasonic-Seite, die sich u. a. durch die Übernahme des weltgrößten Akkuherstellers Sanyo Electric ergeben, hohe Entwicklungskosten verbunden. Insgesamt bedeutet die Entwicklung der ausbaufähigen Systemarchitektur »Flyer Intelligent Technology« (FIT), die zum ersten Mal bei der neuen U-Serie und dem E-MTB-Flaggschiff Uproc 7 eingesetzt wird, zusammen mit der Systemintegration Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe. Ähnlich lange Entwicklungszyklen bestätigt auch Arne Sudhoff für Derby Cycle. Hier wurden die Lastenhefte für die im April 2015 vorgestellten Modelle Integrale und Include und die neue Impulse EVO-Antriebseinheit bereits im Dezember 2013 geschrieben.

Zulieferer treiben Innovationen und Systemintegration voran

Die Strategie, E-Bike-Herstellern individuelle Produkte und Services anzubieten, verfolgen verstärkt auch andere Zulieferer – zum Teil in Allianz mit weiteren Unternehmen. Zum Beispiel ­ContiTech als Spezialist für Kautschuk- und Kunststoffprodukte in Zusammenarbeit mit Brose als Motorhersteller und BMZ als Experten für intelligente Akku-Lösungen. Gerade bei Brose und BMZ gehört es dabei zur Strategie, im Hintergrund zu arbeiten und sich als Lösungs-, Servicepartner und Systemlieferant zu sehen. Brose-Motoren werden deshalb beispielsweise mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften ausgeliefert. Qualität und Service bleiben damit gleich hoch, aber die Fahreigenschaften und das Design sind von Hersteller zu Hersteller und von Modell zu Modell durchaus unterschiedlich, was eine gelungene Systemintegration und eine Differenzierung von Wettbewerbern überhaupt erst möglich macht. Auch in anderen Bereichen treiben spezialisierte Zulieferer mit E-Bike-spezifischen Produktentwicklungen das Thema Systemintegration voran. Zum Beispiel bei Gabeln, die nicht mehr »überspezifiziert« werden müssen, sondern genau auf E-Bike-spezifische Lasten entwickelt und damit deutlich leichter werden. Analog zum Automobilbau entwickelt sich beim E-Bike inzwischen zudem auch die Beleuchtung zu einem großen Thema. Zum Tagfahrlicht kommen Features wie adaptives Licht, Fernlicht und Lichtstärken von 100 Lumen und mehr – und das alles verpackt in einem herstellerspezifischen Design und ansteuerbar mit der eingesetzten Herstellersoftware, bzw. per Smartphone und App. Und auch hier sind es wieder europäische Spezialisten wie Busch & Müller oder der Newcomer Supernova, die in enger Zusammenarbeit mit den stückzahlenstarken Herstellern Lösungen auf den Markt bringen, die im internationalen Vergleich Maßstäbe setzen.

21. Oktober 2015 von Reiner Kolberg

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