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Report - Bikefitting

Fit für die Masse?

Bikefitting gilt vor allem als Performance-Thema. Doch ergonomisch angepasste Räder können auch für E-Biker und Alltagsradler ein Thema sein. Eine Chance für den Handel.

Sebastian Klaus gilt als Koryphäe in seiner Branche. Der Diplom-Sportwissenschaftler aus Köln ist gut im Geschäft, wenn es ums Thema »Bikefitting« geht. Den Begriff mag der Experte eigentlich nicht so gern, denn es fehlt der Schutz auf der Dienstleistung. Klaus bevorzugt »Biomechaniker«. So oder so: Im Kern geht es darum, Fahrräder so einzustellen, dass sie optimal zu den Körpern ihrer Nutzerinnen und Nutzer passen. Wenn Klaus sich einen Menschen auf dem Fahrrad anschaut, blickt er nicht nur, er legt auch Hand an und fühlt, wie sich der Körper unter der Bewegung eindreht. Ein sehr aufwendiger Prozess, bei dem er Millimeterarbeit macht. Er schraubt am Vorbau, am Sattel, an der Sattelstütze, dreht Griffe und erhöht so die Effizienz des Systems, um das es sich bei Mensch, Kontaktpunkten und Fahrrad handelt.

»Es gibt im Markt einen riesigen Bedarf an Anpassungen [...] auch bei Kunden mit E-Bikes und Trekking-Rädern.«

Sebastian Klaus, Komsport

Auf Kundenseite hat sich Bikefitting länger etabliert, allerdings viel eher bei sportlichen Klienten als bei Alltagsradlern und Trekking-E-Bikern. Das weiß auch Klaus. Sein Unternehmen zielt bislang in der Vermarktung spezifisch auf Performance. Für ihn ist das eine Herausforderung, denn er weiß, dass es ein viel größeres Potenzial für seine Expertise gibt: »Es gibt im Markt einen riesigen Bedarf an Anpassungen, an orthopädischen und ergonomischen Beratungen und Einstellungen auch bei Kunden mit E-Bikes und Trekking-Rädern«, sagt Sebastian Klaus. »Doch bislang ist dieses Thema kaum irgendwo angekommen: Im Einzelfall kann es gut laufen, aber im gesamten Markt fehlt es an echtem Customizing für nicht-sportive Kunden.«

Performance oder Pedelec
Klaus blickt mit Verwunderung auf Teile des Einzelhandels. Denn mit dem Verkauf hochwertiger Räder im E-Segment, meint er, habe das zielgenaue, individuelle Anpassen der Fahrzeuge längst nicht mitgehalten. »Im sportlichen Segment hat es hier viel Aufklärungsarbeit über Trainer, Medien und Teams gegeben«, erklärt Klaus, »bei den Hobby- und Pendel-E-Bikern müsste eigentlich eine komplette Aufklärungswelle nachgeholt werden.« Klaus denkt dabei an das Bewusstsein bei den Händlern, aber eben vor allem bei den Käuferinnen und Käufern. Wie sich Fahrräder nach individuellen Bedürfnissen auswählen und anpassen lassen, das sollte auch ein Thema für Mediziner, Physiotherapeuten, Gesundheitseinrichtungen sein, meint Klaus. Denn es gehe hier um Marktentwicklung. Firmen wie Komsport stehen derzeit vor einer Herausforderung: Sie haben einerseits das Know-how, um diese Kundschaft zu bedienen. Doch der Performance-Look könnte Pendler und Hobby-Pedelec-Fahrer irritieren. Auf der anderen Seite könnten E-Biker wiederum die Stammklientel ab-schrecken, die ja auf Watt und Leistung getrimmt ist. Das ist im Einzelfall also eine nicht profane Frage der Kommunikation. Dennoch hat Klaus durchaus »Normalos« bei sich, die über Kunden oder gute Kontakte zu Händlern kommen.


Mit einem Vermessungssystem wie hier von Smartfit werden zunächst die wesentlichen Kundendaten erfasst, um in der Folge das optimal passende Produkt zu finden.

Die Arbeit an Körper und Fahrradrahmen ist grundsätzlich dieselbe. Kontaktpunkte entlasten, Abstände und Winkel optimieren, das alles objektiv physikalisch messen – das können Leute wie Klaus. Doch um an die größeren Reservoirs an neuen, nicht-sportiven Kunden zu kommen, die sich für 4000, 5000 Euro ein neues Trekking-E-Bike gekauft haben, muss er ordentlich bohren. »Klar ist: Man braucht eine ganz andere Ansprache und auf jeden Fall auch gute Verbindungen zu den Händlern«, sagt er. Aber wie steht es um diese Verbindung zum Handel?

Relaunch mit E-Bikes und Trekking-Rädern

In Freiburg hat sich eine ebenfalls aus dem sportwissenschaftlichen Umfeld hervorgegangene Firma inzwischen deutlich an den breiteren Radmarkt angenähert. Das Radlabor, 1997 als universitäre Einrichtung entstanden, war ab 2007 privater Anbieter für Athleten. 2018 entschied sich das Unternehmen zu einem Relaunch. Gemeinsam mit einer Agentur untersuchte man den Radmarkt, wie Luca Kriener, Teamlead Marketing & PR, sagt: »Die meisten Leute, die zu uns kommen, sind keine Profis, die den Sport als Beruf betreiben. Es sind ganz normale Leute, die einfach Spaß am Radfahren haben möchten.« Schmerzfreiheit spielt dabei eine wichtige Rolle. Seit dem Relaunch hat man sich deutlich in Nicht-Performance-Segmente hineinbewegt. 15 bis 20 Prozent der Kunden und Kundinnen bei den Radlaboren in Freiburg, München und Frankfurt seien mittlerweile mit E-Bikes und Trekking-Rädern in der Beratung, vor dem Relaunch habe der Anteil zwei Prozent betragen. Es gibt gute Beziehungen zu örtlichen Händlern.

»Zunächst steht der Mensch im Vordergrund, bevor die Kunden überhaupt ein Fahrrad anschauen.«

Carsten Schlieter, Edelhelfer

Die drei Radlabor-Filialen bieten, was die wenigsten Händler in ihren Räumen offerieren können: klassisches, individuelles Bikefitting. Häufig sind es erst Beschwerden, die die Kundschaft zur Optimierung treibt: »Diese Zielgruppe kann sich unter dem Begriff Bikefitting nicht viel vorstellen, schon gar nicht, dass es für sie enorm hilfreich sein kann«, beobachtet Luca Kriener. »Es ist deswegen eine Herausforderung, sie zu uns zu holen. Aber das gelingt uns durch die angesprochene Neuaufstellung immer besser und wir sehen das an der Dankbarkeit und an unseren Zahlen.«

Richtige Größe als Basis zum Fit

Klassisches Bikefitting ist Einzelberatung, dauert und ist von Spezialisten abhängig. Am Anfang steht in der Regel der Fachhändler, der dafür sorgt, dass ein Fahrrad überhaupt zu einem Menschen passt. Einen Ansatz, um dies sicherzustellen, bietet das Radlabor. Mit »Smartfit« bieten die Freiburger eine Hardware-Software-Lösung für den Einzelhandel. Das Investment beträgt zwischen 4000 und 17.000 Euro bei jährlichen Lizenzgebühren von 1000 bis 1800 Euro. »Ein Sizing-Service bietet die Sicherheit, schnell die passende Größe auszuwählen«, erklärt Kriener. Als Herzstück der Smartfit-Software bezeichnet er die Datenbank mit Geometriedaten aller Modelle, »so wird per wissenschaftlichem Ergonomie-Algorithmus immer ein individueller Match aus individuellen Körperdaten und tatsächlicher Geometrie des Traumrades hergestellt.« Mit den aufwendigeren Modulen von Smartfit lässt sich im Geschäft auch ein video- und laserbasiertes Fitting machen.
Solche Lösungen haben das Zeug, gut geschultes Personal zu unterstützen und damit eine Grundlage für einen erfolgreichen, langfristig zufriedenstellenden Verkauf zu bieten. Dass die richtige Größenempfehlung am Anfang steht, dass der Rahmen wirklich passen muss, das ist der wichtige Startpunkt für das spätere Fitting und Customizing mit neuen Teilen. Ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen liefert die Firma Edelhelfer, ein Unternehmen mit mittlerweile vier Filialen im Westen und Smartfit-Anwender.


Moderne 3D-Messsysteme beschleunigen den Vorgang der Datenerfassung heute sehr und schaffen bei der Kundschaft Vertrauen, dass die Daten akkurat und nützlich sind.

Geschäftsführer Carsten Schlieter sagt, sein Unternehmen erreiche trotz des sportlichen Namens zu 60 Prozent Kunden aus dem urbanen Mobilitätsfeld. »Bei uns gibt es eine Customer Journey, die mit der Vermessung beginnt. Erst nehmen wir die Körperdaten ab und mischen sie mit den Daten aus der Software. So steht zunächst der Mensch im Vordergrund, bevor die Kunden überhaupt ein Fahrrad anschauen.«

Systemgesteuerte Beratung, passendes Bike

Ein Vordenker in diesem Gebiet ist Andreas Schuwirth, selbst Radhändler und der Mann hinter »Body Scanning CRM«. Der diplomierte Ingenieur aus dem hessischen Calden ist berufener Experte des Fachhandels, als Berater und Trendkenner anerkannt und hilft seinen Kunden bei Transformationsprozessen. Schuwirth sieht in der Vermessung und Befragung der Kunden und Kundinnen den Schlüssel zum erfolgreichen Verkauf, aber auch zur langfristigen Kundenbindung. »Es geht um Kundenzentriertheit, nicht Produktfokus«, sagt Schuwirth, »deshalb gewinnen erfolgreiche Händler schon im Vorfeld des Verkaufsprozesses wichtige Informationen über ihre potenziellen Kunden.« Wenn diese dann zum Verkaufstermin kommen, werden sie bei den mittlerweile 242 mit Schuwirths System ausgestatteten Händlern körperlich gescannt, bevor sie überhaupt ein Fahrrad ins Visier nehmen. »Der Bodyscan dauert nur 2400 Millisekunden, zahlt sich aber dauerhaft aus, denn plötzlich wissen Kunde und Händler die wichtigen Details über die körperlichen Voraussetzungen.« Zudem befragt das geschulte Verkaufspersonal die Kundinnen und Kunden nach orthopädischen Beschwerden beim Radfahren. Diese systemgesteuerte Beratung führt dazu, dass individuell angepasste Räder zusammengestellt und eingestellt werden, inklusive auf Basis der Beratung hinzugefügter Teile – etwa Griffe oder Sättel. Diese Konfiguration lässt sich direkt in der Software vornehmen, die entsprechenden Teile ins Angebot einbauen.

Hohe Abschlussquote

Andreas Schuwirth sieht ebenfalls einen Mangel, wenn er auf den Gesamtmarkt schaut. »Fahrradkunden sind extrem leidensfähig und, das muss ich schon kritisch sagen, Radhändler haben zu selten den Blick auf Wünsche und Probleme der Kundschaft, sondern sehen eher die schöne Ware, die sie gern verkaufen würden.« So ist der Anreiz traditionell gering, die »Anamnese« eines Radfahrers oder einer -fahrerin vor den Verkauf zu stellen oder gar Anpassungen am Rad zum Standardprogramm des Händlers zu machen. Doch Schuwirth sieht, insbesondere mit Blick auf die Konsolidierung im Markt und Verkaufsprobleme von Stangenware, den Schlüssel in der individuellen Anpassung. Er verweist darauf, dass auf Kunden zugeschnittene Räder deutlich besser laufen als Vororder-Ware.

90 Prozent Abschlussquote – so lautet der Erfahrungswert von Andreas Schuwirth. Während die Quote bei »Stangenware« bei eins zu drei liege, erhöhe sich dieser Wert durch Bikefitting dramatisch.Ein solcher Wert relativiert den Aufwand, den Bikefitting auch bedeutet.

Der Berater und Ingenieur aus Hessen argumentiert mit qualitativen Erkenntnissen aus dem Handel, aber vor allem auch mit vielerlei Daten, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat. Daraus geht klar hervor, dass individuelle Beratung und das Fitting und Customizing von Rädern sich in der Kundenbeziehung enorm auszahlen. Je nach Beschwerden wird dann nur mal ein Vorbau beim Spezifizieren des Rads ausgetauscht, mal wird mit Blick auf orthopädische Beschwerden ein Griff ausgetauscht, in vielen Fällen kommt noch ein neuer Sattel passend zum Becken dazu. »Üblicherweise liegt die Abschlussquote beim Händler bei eins zu drei. Mit unserem System erreichen Sie eine Quote von 90 Prozent«, sagt Schuwirth. Die Argumentation ist klar: Das Personal nimmt sich Zeit, hört genau hin, arbeitet nach System und kann deshalb – auch ohne sportwissenschaftliche Vorbildung – ein individuell angepasstes E-Bike zur Verfügung stellen. Die systematische, softwaregestützte Variante diene dazu, das in weiteren Teilen des Markts zu gewährleisten,, sagt Schuwirth. »Es geht darum, biomechanische Analyse so zu betreiben, dass sie auch für die Aushilfe im Radgeschäft einfach durchzuführen ist«, sagt der Berater. Eine solche individuelle Analyse und Anpassung an die Kunden hat durchaus ihren Preis. Für die Hard- und Software sowie die Schulungen zahlen die angeschlossenen Händler zwischen 1000 und 25.000 Euro Start-Invest. Doch mit diesem Invest, argumentiert Schuwirth, sichern sie sich vor Preiskämpfen mit ihrer Klientel. Denn die Kundenangebote enthalten eben auch Preise für die Analyse und das Fitting – zusammen etwa 250 Euro. Wenn Händler ihren Kunden diese Summe gutschreiben, sagt Schuwirth, und wenn die Kunden diese Dienstleistung auch erlebten, mache dies Rabatt-Verhandlungen und Preiskampf unwahrscheinlicher. Es muss also passen, das erwarten immer mehr Kunden und Kundinnen. Und so ist der Einstieg in ein Bike mit persönlichem Fit langfristig ein wichtiges Thema für den Handel – eben nicht nur im Performance-Segment. //

27. März 2024 von Tim Farin

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