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Das Berliner Motorwerk beheimatet die Fahrradmesse Kolektif
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Messe „Kolektif Berlin“

Fixie trifft Cargo und alle fühlen sich wohl

Die Kolektif Berlin, von vielen als Nachfolger-Messe der kultigen Berliner Fahrradschau angesehen, hatte mit dem zur Unzeit zuschlagenden Corona-Virus keine guten Bedingungen. Am Tag, als die ITB abgesagt wurde, eine Berliner Messe zu eröffnen, dürfte die Veranstalter Bauchgrummeln verursacht haben. Zurecht, denn

Das Berliner Motorwerk beheimatet die Fahrradmesse KolektifDas wohl teuerste Laufrad der Welt kommt von SpengleBBF hatte zusammen mit seinem Berliner Kiezhändler Radwelt ein HeimspielGroßer Lastenrad-Auftritt "Cargofonia"Kolektiv war ein Magnet für junges PublikumLiebevoll gestalteter Messestand von Veloine

wer konnte schon abschätzen, wie viele potenzielle Besucher der Viren-Panik verfallen waren und lieber keine größeren öffentlichen Veranstaltungen besuchen würden? Ingo Engelhardt allerdings wusste spätestens Samstagnachmittag, dass man sich über diese Frage den Kopf nicht zerbrechen musste. Der Chef von Rad Race, dem Unternehmen, das die Kolektif verantwortete, musste da nämlich sogar kurzfristig die Messetore schließen und durfte zwei Stunden lang nur noch Besucher einlassen, wenn andere gingen. Es waren einfach zu viele Menschen auf den 1.000 Kolektif-Quadratmetern. „Wir waren alle begeistert“, erzählt er velobiz.de nach der Messe. „Um die 5.000 Besucher müssen es wohl am Samstag gewesen sein.“ Der Schlussbericht spricht von insgesamt 7.500 Besuchern am Wochenende – mit 5.000 hatte man gerechnet. Eine schöne Zahl für die zweite Ausgabe einer kleinen Messe, die vor einem Jahr aus der Not der kurzfristig abgesagten Berliner Fahrradschau entstanden ist.

Damals ergriff man bei Rad Race die Initiative und sammelte 60 Aussteller ein, die sich auf der Fahrradschau hätten präsentieren wollen, um mit ihnen auf die schnelle eine Ersatz-Messe auf die Beine zu stellen. Diese fand wie die diesjährige im Motorwerk in Weißensee statt, einem ehemaligen Gelände für die Herstellung von Elektromotoren für Automobile. Das fast genau 100 Jahre alte Areal ist ein beliebter Veranstaltungsort für verschiedenste, vor allem kulturelle, Events. „Letztes Jahr konnte man es hier noch freakig nennen, ernst zu nehmen war es trotzdem damals schon“, so Engelhardt. Und ernst zu nehmen sollte man es 2020 umso mehr. 85 Aussteller, davon allein zehn aus dem Stahlrahmenbau und ein Dutzend Lastenrad-Unternehmen fanden sich für die gut 1.000 Quadratmeter Messefläche.

„Die coolen Jungs vom Schulhof“

„Die Kolektif ist eigentlich eher wie ein Klassentreffen, ein cooler Schulhof für Gleichgesinnte, man ist unter seinesgleichen“, so Engelhardt. Er findet den Vergleich mit Messen wie der Cyclingworld in Düsseldorf abgesehen von der Größe her unpassend: „Da sind viele Leute, die genauso auf einer Automobilmesse sein könnten. Das hier war eine Veranstaltung der Radszene, keine Industriemesse.“ Zwischen 30 und 35 Jahre schätzt Engelhardt das Durchschnittsalter der Besucher – „auch ein krasser Unterschied zur Velo und Cyclingworld.“ Das lag für ihn auch an der Strategie, kaum E-Bike-Hersteller als Aussteller aufzunehmen. „Das werden wir nächstes Jahr wieder so machen“, meint er. So fand man also unter den 85 Ausstellern nur wenige mit motorisierten Rädern – sieht man einmal von Cargobikes ab. „Besonders toll finden wir außerdem, dass so viele Familien mit Kindern am Sonntag den Weg zu uns gefunden haben“, erklärt Ronny Owe, Projektleiter der Messe bei Rad Race.

Wie erwartet großen Anklang fand der gemeinschaftliche, 80 Quadratmeter große Stand von 13 Lastenrad- beziehungsweise Transportzubehör-Unternehmen. Sven Hessel von Rhino Berlin hatte diese Fläche „Cargofornia“ organisiert, an dem man einen guten Überblick über derzeit angesagte Cargobike-Variationen erhalten sollte.

Kollektiv und Kundenfreundlichkeit statt Wettbewerb – „das ist der Geist der Berliner Fahrradschau“, so Hessel, der in seinem Unternehmen vor allem Zubehör und Transportboxen für Cargobikes baut. „Lokale Fertigung und nachhaltiges Denken, das zählt hier. Wir selbst produzieren in Berlin und achten peinlichst genau darauf, dass unsere Zulieferketten kurz sind. Und obwohl die Messe kleiner und sehr speziell ist, spricht sie damit doch ein breites Publikum an.“ Die Besucher schätzten die Nähe zum Produzenten und die damit mögliche Individualisierungs- und die direkte Vergleichsmöglichkeiten. Als Vision will man nach den guten Erfahrungen auf der Kolektif bei Rhino den losen Zusammenschluss an Lastenrad-Unternehmen weiterführen. „Eine Europa-Tournee über die entsprechenden Messen und Veranstaltungen wäre eine Idee …“, sagt Hessel.

Ganz individuell vs. Großanbieter

Die Berliner Bike- und Zubehör-Szene war – angesichts des Heimspiels – in jedem Bereich deutlich in der Überzahl. Stahl-Reiseradhersteller Fern nutzte die Gelegenheit, seine zweite eigene Komponentenline Allygn vorzustellen. Neben den in der Berliner Manufaktur gebauten Teilen, die unter der Marke Fern laufen, will man mit der industriell hergestellten Allygn-Linie jetzt auch eine kostengünstigere Möglichkeit für hochwertiges Spezialzubehör bieten.

Anderes Außergewöhnliches konnte man auf der Kolektif auch sehen: Urwahn stellte Bikes aus, deren Stahlrahmen teilweise aus dem 3-D-Drucker stammten und Laufrad-Spezialist Spengle zeigte auf der Messe das angeblich teuerste Laufrad der Welt. Das Rad im drei-Speichen-Design mit Blattgold-Auflage kostet im Satz die runde Summe von 10.000 Euro. Einige internationale Marken wie Marin waren ebenso vertreten wie der Zubehörhersteller Ergon oder die Bekleidungsmarke Giro. Mit Canyon Bikes war eine der großen Fahrradmarken im Berliner Motorwerk. Laut Daniel Kalina, Junior Event Coordinator des Unternehmens, war das auch in der kleinen Runde ein sehr erfolgreicher Auftritt für die Marke. „Als Direktvertreiber suchen wir natürlich die Kundennähe auf solchen Messen. Unser Gravelbike „Grail“ etwa polarisiert mit seinem speziellen Lenker, und da war die Gelegenheit für viele Kunden, die nicht den Nutzen hinter der ungewohnten Optik kannten, es einfach mal auszuprobieren.“ Canyon war mit fünf Mitarbeitern und einem 30-Quadtratmeter-Stand vertreten – viel Fläche, wenn man mit gut 80 anderen Marken auf der Gesamtfläche von etwa 1.000 Quadratmeter steht. Naserümpfen über diesen Großanbieter auf einer „Insider-Messe“ gab es für Canyon laut Kalina nicht, „höchstens in Bezug darauf, dass wir nicht – noch nicht, muss man vielleicht sagen – individualisieren können wie die hier vertretenen kleinen Manufakturen.“ Natürlich war die Teilnahme bei Kolektif auch dem Umstand geschuldet, dass Canyon Ausrüster von Rad Race ist. Man nutzt auch die Rennen und Events des Veranstalters, um sein Produkt zu emotionalisieren und dem Kunden nah zu bringen.

Last Man standing: Cancellara war's nicht

Der große Hauptdarsteller des Rahmenprogramms war „Last wo/man standing“ am Samstagabend. Ein Rennen für 160 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, für das man Ex-Rennrad-Profi Fabian Cancellara als Starter hatte gewinnen können. Leider schied der Radstar in der zweiten Qualifizierungsrunde aus. In der Szene wie bei Bike-Kurieren ist diese Rennserie äußerst beliebt. Der Wettkampf, bei dem es auch eine Frauen-Wertung gab, ging bis in den frühen Morgen. Das Angebot an Rahmenveranstaltungen war breit: Ein Cargobike-Rennen, Vorträge über Radreisen, Rennrad-Ausfahrten speziell für Frauen oder eine Talkrunde mit der Polizei zum Thema Lastenräder im Straßenverkehr und der obligatorische Yoga-Kurs waren dabei.

Szene-Radrennen sind übrigens, man ahnt es, das eigentliche Metier des Messeveranstalters Rad Race. Mittlerweile ist man damit international erfolgreich unterwegs. Hier treten neben Canyon auch die Ausstatter Oakley, Abus und Gore als Partner auf, Unternehmen, die eine Partnerschaft mit dem Veranstalter eingegangen sind und so auch auf der Kolektif auf eigenen Ständen zu sehen waren.

Alles ganz locker!

Bei der Planung der Kolektif waren alle zehn Mitarbeiter der Rad Race-Büros in Hamburg und Münster eingesetzt. 55 Leuten waren insgesamt bei Aufbau von Messe und den Rennen auf der Cart-Bahn in Berlin-Hohenschönhausen aktiv. Und es scheint, dass die Veranstalter auch beim zweiten Mal alles richtig gemacht hätten. Laut Engelhardt war die Organisation der Messe, nach dem Hau-Ruck-Event vom letzten Jahr, 2020 keine allzu große Herausforderung. Der Erfolg gibt ihm Recht. Besonders die lockere, entspannte Atmosphäre im Motorwerk wird auch von Ausstellerseite immer wieder betont.

Bei Rad Race bastelt man bereits am Termin für nächstes Jahr. Ob die Messe thematisch noch breiter angelegt sein wird, gilt abzuwarten. Nicht aus der Kolektif wegzudenken jedenfalls scheint der alternative, wenig kommerzielle Ansatz. Auch wenn man auf der Kolektif auch shoppen konnte: Eine Messe, die ihrem Besucher überlässt, ob und wie viel Eintritt er zahlt, die kann nicht so furchtbar kapitalistisch sein, oder …?

4. März 2020 von Georg Bleicher
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