
Porträt - Katrin Dröge-Berzedjou/ i:SY Flagship-Store Hüllhorst
Große Ziele mit kleinen Rädern
Es ist ein kalter Dienstag Anfang Januar dieses Jahres. Katrin Dröge-Berzedjou sitzt im warmen Licht einer großen bunten Deckenleuchte an einem Tisch im hinteren Teil ihres Ladens. Kurz vor der Mittagszeit hat sie ihren Blick auf den Laptop gerichtet. In der kleinen Küche links neben der Eingangstür richtet ihr Mann gerade einen Kaffeevollautomaten ein. Sinnbildlich betrachtet ist diese Handlung vielleicht treffend dafür, dass die beiden noch immer in einer neuen Lebenssituation ankommen. Im vergangenen Jahr hat Dröge-Berzedjou sich selbstständig gemacht und führt seither ein Fahrradgeschäft im kleinen Ort Hüllhorst.
Die Gemeinde gehört zum Kreis Minden-Lübbecke und liegt in der Region Ostwestfalen-Lippe. Der Laden ist an der zentralen Kreuzung des beschaulichen Orts gelegen, direkt neben einer Bäckerei und umgeben von weiteren Nahversorgern. Kundinnen und Kunden können bei Dröge-Berzedjou und ihrem Team alle Räder der Marke i:SY erwerben. Dass es ausgerechnet hier einen Flagship-Store gibt, ist kein Zufall. Der Kompaktradpionier Martin Kuhlmeier hat das 20-Zoll-Rad in Hüllhorst entwickelt und die Marke i:SY (phonetische Umschreibung des englischen Wortes easy) 2008 dort lanciert. Von ihm und seiner Frau Nora Rolfsmeier hat Dröge-Berzedjou den i:SY Flagship-Store übernommen, mitsamt der Einrichtung, der Werkstatt und einigen Angestellten.
Mehr als 30 Jahre Fahrradgeschichte
Zu diesem Zweck gründete sie die Radhaus Mobility GmbH & Co. KG, bis auf ein fehlendes »E-« vor dem Wort Mobility namensgleich zum Unternehmen von Kuhlmeier und Rolfsmeier. Als Radhaus wurde das Fachgeschäft 1992 ins Leben gerufen. Eine Zeit lang entstanden am Standort um das alte Fachwerkhaus zudem Manufakturräder von Kuhlmeiers Marke Räderwerk, darunter das Modell Extra-Tour (26 Zoll). Ein solches Fahrrad ist auch an diesem Dienstag an einem der vier Werkstattplätze im Fachwerkhaus in den Montageständer eingespannt und zeugt von der Vergangenheit des Betriebs.
Katrin Dröge-Berzedjou hat sich nach einigen Industrie-Jobs im Fachhandel selbstständig gemacht. Dort mitanzupacken, macht ihr Spaß.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde 2017 ein industriell anmutender Neubau errichtet, in dem jetzt Katrin Dröge-Berzedjou sitzt. Auf den Fensterscheiben des Obergeschosses prangen die drei Buchstaben und der Doppelpunkt und zeigen in leuchtendem Orange, welche Marke hier stattfindet. Bevor der Laden Anfang des vergangenen Jahres zum Flagship-Store wurde, war er bereits als i:SY-Center auf die Kompakträder fokussiert.
»Es ist schön, wieder am Menschen zu arbeiten«, erklärt Dröge-Berzedjou ihre neue Tätigkeit als Inhaberin und Geschäftsführerin. Als sie die Entscheidung abwägte, kamen aus ihrem Umfeld unterstützende, aber auch kritische Stimmen. »Selbst Martin hat mal gesagt ›Du bist ja total verrückt, dass du überhaupt diesen Schritt wagst und vor allem zu der jetzigen Marktsituation«, sagt Dröge-Berzedjou und lacht.
Es war die Selbstständigkeit selbst, die Dröge-Berzedjou reizte und sie dazu brachte, sich nach einer neuen Aufgabe umzusehen. »Ich bin vom Charakter her jemand, der gerne Verantwortung übernimmt. Ich habe immer fast wie eine Selbstständige gearbeitet, nur war ich halt angestellt«, beschreibt sie.
Alte Bekannte
Bis ins Jahr 2024 bekleidete Dröge-Berzedjou eine Stelle als Brand-Managerin für den Schloss- und Beleuchtungshersteller Trelock. Zuvor war sie im Geschäftsbereich Vertrieb zunächst bei den Teileherstellern Hebie und Tubus tätig. Eine Ausbildung bei der Sparkasse und ein Diplom in Ökonomie/Management von der Kölner Sporthochschule verhalfen der heutigen Händlerin 2008 zu ihrer ersten Station in der Fahrradbranche. Als Marketing-Managerin bei den Pantherwerken in Löhne traf sie zum ersten Mal auf Martin Kuhlmeier. »2008 ist Martin mit seinem i:SY-Konzept bei Panther gewesen und ich durfte als kleine Marketing-Assistentin dabei sein«, erinnert sie sich. Der damalige Chefentwickler lehnte das Konzept ab. Kuhlmeier kooperierte stattdessen mit Flyer. Ihre Wege kreuzten sich nicht nur bei den Pantherwerken. Auch bei Hebie und Tubus trat Kuhlmeier als Kunde auf.
Bevor sie ihren Traum von der Selbstständigkeit dann in den letzten Jahren konkret verfolgte, war ihr wichtig, sich zunächst ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Während der Elternzeit begann dann die Suche nach einer konkreten beruflichen Zukunft. Im Sommer 2022 erfuhr sie von Jessica Schumacher, Geschäftsführerin von i:SY und eine langjährig vertraute Freundin von Dröge-Berzedjou, dass der Laden in Hüllhorst bald an jemand Neuen übergeben werden sollte. Im September desselben Jahres war sie dann erstmals selbst vor Ort, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Bereits auf der Rückfahrt mit ihrem Mann und ihrer Tochter schätzte sie: »Das passt für uns.«
Positiv wertete Dröge-Berzedjou die überschaubare Größe, die Lage in einer Gegend, in der sie verwurzelt ist, und ihr Vertrauen in die Marke. »Es war mir wichtig, ein gutes Produkt zu haben«, erinnert sie sich.
Bei der Entscheidungsfindung habe ihr geholfen, viel Mut und wenig Angst zuzulassen. Auch ein Probetag als Praktikantin im Laden habe ihr das Abwägen erleichtert. Die finale Entscheidung überließ sie ihrer Intuition: »Klar habe ich mir die Zahlen angeschaut, aber es war eher der Bauch, der gesagt hat ›Ja, mach das!‹.«
Ein neuer Alltag
Die Übergabe ist ein Match auf beiden Seiten. Kuhlmeier und Rolfsmeier suchten sich keine weiteren Interessenten, sagten gar am Telefon: »Katrin, wir hätten gerne, dass du das machst.« 2024 folgt die Kündigung bei Trelock und der Übernahmeprozess in Hüllhorst nimmt seinen Lauf. »Martin und Nora war es wichtig, dass ihr Baby hier gut weitergeführt wird«, betont Dröge-Berzedjou. Dafür steht vor allem Kuhlmeier ihr weiter als Mentor zu Seite. Selbst vor Ort wohnhaft, drängt er sich nicht auf, steht aber oft für Rücksprache zur Verfügung. »Wenn er hier ist, kommt er fast täglich rein«, sagt die Händlerin. So auch an diesem Tag. »Wir vermissen es überhaupt nicht«, verrät der i:SY-Erfinder, wie er und seine Frau den Rückzug aus ihrer jahrelangen Tätigkeit erleben. »Wichtig war uns, dass wir das Geschäft in gute Hände geben können. Wir arbeiten immer noch ganz eng miteinander und unterstützen Katrin dabei, dass sie hier Fuß fassen kann.«
Dass Kuhlmeier vor Ort Präsenz zeigt, hilft mitunter auch bei der Sogwirkung des Geschäfts. Einigen Kunden und Kundinnen ist es wichtig, ihn vor Ort zu treffen und die Wiege des i:SY kennenzulernen. Ein unlackierter Prototyp und ein Info-Aufsteller geben im Eingangsbereich des Ladens einen Überblick über die Historie der Marke.
Martin Kuhlmeier hat das Radhaus 1992 gegründet und das i:SY in Hüllhorst erfunden. Katrin Dröge-Berzedjou steht er als Mentor zur Verfügung.
Von den zehn Mitarbeitern, die zu Kuhlmeiers und Rolfmeiers Zeiten im Laden gearbeitet haben, sind derzeit nur noch vier fest beim Flagship-Store angestellt. Das hat verschiedene Gründe, ist aber auch der wirtschaftlichen Situation geschuldet. »Deshalb bin ich jetzt stärker im Verkauf tätig. Ich packe da an, wo Arbeit ist. Strategische Dinge wie der Marketingplan oder die Vororder finden an den Tagen statt, an denen wir geschlossen haben«, erklärt die Geschäftsführerin. Wie ihre Jobs in der Industrie sei auch die neue Tätigkeit anspruchsvoll. So »anpacken« zu müssen, fühle sich dennoch gut an: »Seit ich jetzt hier bin, obwohl ich jetzt ja mehr Verantwortung habe, bin ich gesundheitlich nicht mehr so oft erkältet, habe keine Nackenschmerzen mehr und schlafe wieder besser.« Auch das Verkaufen liegt ihr und bereitet viel Freude. »Manchmal kommen Kunden, die holen ihre Räder ab und bringen mir einen Blumenstrauß oder Süßigkeiten mit.« Anerkennung gab es auch in der Industrie. Im Fachhandel finde sie aber auf einer anderen Schiene statt, so Dröge-Berzedjou.
Die Fahrradindustrie und der spezialisierte Fachhandel sind eng miteinander verzahnt. In ihrem jetzigen Job profitiert die Radhaus-Geschäftsführerin davon, dass sie durch ihre Produktkenntnis authentisch sein kann. Einen Marketing- oder Business-Plan aufzusetzen sei natürlich auch »kein Hexenwerk« für sie. In mancher Hinsicht unterscheiden sich Industrie und Handel jedoch merklich. Im Fachhandel näher am Kunden dran zu sein, falle hier am deutlichsten ins Gewicht, so Dröge-Berzedjou. In der Industrie gäbe es manchmal Vorbehalte, wenn der Außendienst mit Feedback aus dem Markt kommt, teilt sie ihre Wahrnehmung: »Es täte der Industrie gut, noch mehr Markt-Feedback einzuholen. Daraus die richtigen Schlüsse abzuleiten ist dann die Kunst.« Ihrem Team und ihr selbst sei viel daran gelegen, detaillierte Rückmeldungen an den Hersteller der Räder zu geben.
Geballte Expertise
Neben den Verkaufsgesprächen entsteht das Feedback mitunter auch in der Werkstatt. Mit Blick auf die Kompakträder hat die einen bemerkenswertes Know-how. Die Mitarbeiter vereinen viele Jahre an i:SY-Expertise und haben die Produktentwicklung teilweise von Anfang an mitgestaltet. Durch Restbestände, die Kuhlmeier stets aufgekauft hat, sind alte Ersatzteile sehr gut verfügbar. Teilweise würden sich andere Händler oder gar der Hersteller selbst für Komponenten an sie wenden, erzählt Dröge-Berzedjou. Auch wenn das Teilelager auf i:SY fokussiert ist, nimmt das Team in der strukturiert arbeitenden Werkstatt auch Fremdräder für Reparaturen an. »Ich persönlich halte gar nichts davon, Kunden abzuweisen. Jeder zufriedene Werkstattkunde ist für mich ein potenzieller Neukunde für den Fahrradkauf«, so Dröge-Berzedjous Haltung.
Für Werkstattkunden und -kundinnen hat der i:SY Flagship-Store by Radhaus Mobility attraktive Services im Angebot. Beim Transport-Service holt das Team die Räder ab und bringt sie wieder vorbei. Auch To-go-Termine bieten die Hüllhorster an. Während der Reparaturzeit gehen viele Kunden und Kundinnen in der angrenzenden Bäckerei frühstücken und nehmen das fertige Rad danach wieder mit.
Die i:SY-Fahne hochhalten
Eine einzige Marke zu vertreten, bietet den Vorteil, dass man inbrünstig für diese werben kann. Das praktiziert Dröge-Berzedjou für i:SY nicht nur in der geschalteten Werbung, sondern auch persönlich, etwa beim Gesundheitstag der lokalen Volksbank. Untereinander sind die insgesamt zwölf aktuell bestehenden Flagship-Stores in regem Austausch miteinander, ob beim regelmäßigen runden Tisch oder in einer Whatsapp-Gruppe. Die i:SY-Werbetrommel rühren einige der Händler auch durch Kooperationen mit Wohnmobil-Herstellern, um diese für das Kompaktrad wichtige Zielgruppe direkt anzusprechen.
Wer sich Flagship-Store nennen darf, das bestimmt der Hersteller selbst. Damit geht einher, dass die Händler aus der i:SY-Zentrale in Köln unverbindliche Gestaltungsvorschläge für das Interieur erhalten. Das Unternehmen stellt den Flagship-Stores neue Produkte besonders früh zur Verfügung und verlangt höhere Vororder-Zahlen als bei regulären Händlern, im i:SY-Kosmos auch Experten genannt. »Das wirtschaftliche Risiko trage ich«, erklärt Dröge-Berzedjou den Schulterschluss mit i:SY. »Es gibt eine extrem große Abhängigkeit von i:SY, entsprechend bin ich schon auf i:SY angewiesen und die Modellpolitik. Wirtschaftlich ist da aber sonst kein weiterer Zusammenhang. Ich zahle keine Lizenz oder so.«
Die Flagship-Stores bieten eine große Modellauswahl an Rädern und nicht zuletzt Zubehör. Frontträger, Körbe und Einsteckketten sind in Hüllhorst besonders gefragt. Die Accessoires sind in der wirtschaftlichen Bilanz nicht zu vernachlässigen. »Eigentlich verkauft man mit jedem i:SY-Rad auch Zubehör«, sagt die Händlerin. Die Extras ziehen mitunter sogar Kunden und Kundinnen an, die bei einem der i:SY-Experten, von denen es im Umkreis von Hüllhorst historisch bedingt einige gibt, ihr Rad gekauft haben und ihr Wunschzubehör noch suchen. Fan-Artikel, darunter T-Shirts, reflektierende Westen und sogar Schneekugeln, runden das Angebot im Flagship-Store ab.
In der Werkstatt des Flagship-Stores gibt es sehr viele Ersatzteile, auch für ältere Modelle. Gelegentlich finden sich noch Fahrräder von Räderwerk in den Klemmen der Montageständer.
Der Charakter der einzelnen Flagship-Stores zeige sich laut Dröge-Berzedjou auch in der unterschiedlichen Nachfrage der Kundschaft. Sie erklärt: »Der Unterschied ist immer, welche Modelle sich wo gut verkaufen.« In Süddeutschland liefen die Adventure-Modelle mit Federgabel und in Innenstadtlagen die Cargobikes besonders gut. »Es kommen eher Leute, die sich mit dem Produkt schon auseinandergesetzt haben«, beschreibt die Händlerin das Publikum in Hüllhorst. Gefragt seien hochwertige Modelle, etwa die Pinion-Modelle und die leichten Skyfly-Varianten aus Carbon, die für Frauen und die Wohnmobil-Kundschaft attraktiv sind. Das Interesse an Kompakträdern sei bei Frauen höher als bei Männern, beobachtet Dröge-Berzedjou. Doch mit Probefahrten ließen die sich schnell begeistern: »Ich habe hier viele Kunden, wo die Frau ein i:SY möchte und der Mann dann auch eins kauft.«
Kleine Räder ernst nehmen
Als i:SY 2008 auf der Eurobike debütierte, gab es manche, die das Kompaktrad belächelten. Das könnte auch daran liegen, dass die Menschen als Kinder mit jedem neuen Rad größere Laufräder fahren und sich die Größe 20 Zoll so wie ein Rückschritt anfühlen kann. »Mit dem wachsenden Markt ist die Akzeptanz gegenüber
20 Zoll deutlich größer geworden«, bemerkt Martin Kuhlmeier. »Es gibt mittlerweile sehr viele Kompakträder auf dem Markt. Diese Entwicklung war auch abzusehen, wenn man den Erfolg von i:SY betrachtet. Zum einen sehe ich es sehr positiv. Zum anderen wird von Händlern und Endkunden meines Erachtens zu wenig differenziert und 20-Zoll-Fahrzeuge werden einfach in einen Topf geworfen. Das ist schade, denn die Unterschiede, zum Beispiel in Sachen Fahreigenschaften, sind schon riesig.« Kuhlmeier sieht die kleinen Laufräder als sinnvolle Evolution und zieht den Vergleich zu Autos und Motorrädern, deren Hersteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch noch größere Räder verbauten. Er fasst zusammen: »20 Zoll hat im normalen Straßenverkehr keine Nachteile.«
Auch Katrin Dröge-Berzedjou glaubt an das kompakte Segment und sieht die Mitbewerber nicht als Nachteil: »Als ich meinen Business-Plan mit der Bank diskutieren musste, habe ich gesagt: ›Das zeigt ja auch, dass das Kompaktrad einen guten Markt hat.‹« Entsprechend groß sind die Pläne, die sie für den Laden hat. An dessen Erscheinung hat sie noch nicht viel verändert. Perspektivisch sollen die alten Podeste dem neuen schmaleren Modell in Anthrazit Platz machen und der lange Tisch im Obergeschoss einer gemütlichen Beratungsecke weichen. Die Reparaturannahme soll zumindest testweise in einem Nebenraum des Neubaus stattfinden. An der Wand hinterm Tisch hängen Bilder aus diversen i:SY-Jahrgängen von Modellen in bunten Farben. Sie tragen zu einer Wohnzimmer-Atmosphäre bei, welche die Händlerin gern beibehalten möchte. i:SY mache glücklich, das sehe sie in den Gesichtern der Kunden und Kundinnen, die von ihren Probefahrten zurückkehren, so Dröge-Berzedjou. In Zukunft wird Kuhlmeiers und Rolfsmeiers Handschrift im Geschäft wohl teilweise der der neuen Geschäftsführerin weichen. Eine besondere Atmosphäre und ein spezielles Standing im i:SY-Kosmos dürften dem traditionsreichen Fachgeschäft jedoch sicher erhalten bleiben. //
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