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Markt - Schweiz

Immer noch anders, immer noch gut

Obwohl der Schweizer Fahrradhandel den Erfolg des ersten Covid-Jahres nicht wiederholen konnte, blickt er insgesamt auf eine sehr gute Saison 2021 zurück. Vom Erfolg profitierten die einzelnen Marktteilnehmer aber ganz unterschiedlich, und für das laufende Jahr zeichnet sich ein deutlicher Rückgang ab – außer, es wird nochmals alles anders als gedacht, so wie schon mehrfach in der letzten Zeit.

Noch nie so etwas erlebt«: Diese Aussage war in den zwei Jahren im Schweizer Fahrradhandel so häufig zu hören wie keine andere. Sie bezieht sich darauf, wie viele Fahrräder und E-Bikes gekauft wurden, welche Typen und mit welcher Entschlussfreudigkeit der Kundschaft. Es bezieht sich aber auch auf die Verfügbarkeit von kompletten Rädern und Teilen sowie auf die Zuverlässigkeit von angekündigten Lieferterminen. Und es bezieht sich auch auf die Unsicherheit, wie sich der Markt weiter entwickeln wird. Hält der Boom an? Wie lange? Welche Räder werden weiterhin gefragt sein? Und wann kriegen wir diese? Von welchem Lieferanten?
»Noch nie so etwas erlebt« ist eine große Aussage, weil der Schweizer Fahrradhandel schon viele turbulente Zeiten durchgemacht hat. Der Mountainbike-Boom Anfang der Neunzigerjahre, als die Nachfrage nach den trendigen Geländerädern innerhalb kurzer Zeit noch viel stärker explodierte als im Laufe der Covid-Pandemie. Der Zusammenbruch der Schweizer Fahrradindustrie zum Ende dieses Booms, als innerhalb weniger Jahre die großen einheimischen Hersteller ihre Türen schlossen, und der Handel seine Lieferketten neu organisieren musste. Die Euro-Krisen von 2011 und 2015, als der Wechselkurs zum Schweizer Franken innerhalb Tagen abstürzte. Identische Produkte waren auf einen Schlag im grenznahen Ausland 20 Prozent und mehr billiger, was den gesamten Schweizer Einzelhandel in Existenzängste versetzte.
Solche Ängste hatte der Fahrradhandel in den letzten zwei Jahren nur ganz kurz am Anfang der Covid-Pandemie, als der erste Lockdown die gesamte Gesellschaft in eine Schockstarre versetzte. Als dann wie praktisch überall auf der Welt die Nachfrage nach den Produkten der Fahrradbranche explodierte, fragte sich der Handel rasch nicht mehr, ob er die Covid-Zeit überlebt, sondern wie er diesen Boom stemmen sollte. Dabei war der Schweizer Fahrradhandel gut aufgestellt: Nach der Traumsaison 2018 hatte er seine Lager gut aufgefüllt und startete 2020 mit einigen Überhängen aus dem Vorjahr ins Geschäft. Dadurch konnte er die große Lust auf Fahrräder und E-Bikes auch befriedigen, obwohl die Lieferketten im ersten Covid-Jahr zusammenbrachen. Dank dem konnte die Branche am Ende der Saison 2020 einen Erfolg verzeichnen, der nochmals deutlich über den Rekordzahlen der Vorjahre lag. So wurden rund 646.000 Fahrräder und Pedelecs verkauft. So viele, wie seit dem Mountainbike-Boom nicht mehr. Weil aber die durchschnittlichen Preise wesentlich höher sind als damals, erzielte der Fahrrad-Einzelhandel einen Umsatz von umgerechnet rund 2,23 Milliarden Euro, rund ein Viertel mehr als im Geschäftsjahr 2019.

Kurskorrektur der sanften Art

Dass sich dieser Erfolg im darauffolgenden Jahr kaum wiederholen würde, war absehbar. Denn nach dem Ende der Saison 2020 waren die Lager praktisch komplett geleert. Der Handel musste seine Verkäufe allein mit der Ware bestreiten, die er von seinen Lieferanten zur neuen Saison erhielt. Insgesamt war das dann viel, aber nicht genug vom Richtigen und nicht für alle Fahrradverkäufer. Die Inlandsanlieferung stieg in der Saison 2021 um 8,6 Prozent auf 599.800 Einheiten, den höchsten Stand seit mehr als 25 Jahren. Möglich wurde dies vor allem dadurch, dass wieder deutlich mehr Fahrräder und Pedelecs aus China in die Schweiz geliefert wurden. 2020 waren die Einfuhren aus dem volumenstärksten Produktionsland covidbedingt dramatisch zurückgegangen. 2021 überstiegen die Importe aus China sogar das Level, das sie vor Covid innehatten. Die sogenannte »Werkbank der Welt« konnte dadurch ihre führende Position als Lieferant von Fahrrädern für den Schweizer Markt (Marktanteil 34 Prozent) und als drittwichtigster Lieferant von Pedelecs (Marktanteil 18 Prozent) ausbauen respektive festigen. Dass China als Lieferant der Schweizer Fahrradbranche ein so großes Gewicht hat, hängt damit zusammen, dass das EU-Nichtmitglied Schweiz keine Strafzölle auf Importe von Fahrrädern und Pedelecs erhebt. Ein Teil der Stärke von China war 2021 aber auch die Schwäche der anderen Produktionsländer.

Fahrradbranche im Allzeithoch

Das Plus bei der Inlandanlieferung reichte aber 2021 nicht aus, um einen gleich hohen Abverkauf zu ermöglichen. Dieser ging gegenüber dem Vorjahr um rund 9 Prozent zurück. Als Folge davon sank auch der Einzelhandelsumsatz der Fahrradbranche um 4,9 Prozent auf umgerechnet 2,09 Mrd. Euro. In anderen Zeiten wäre dies ein besorgniserregender Einbruch des Geschäftserfolgs gewesen. Nach dem enormen Plus des Vorjahres darf das Minus aber als verhältnismäßige Kurskorrektur betrachtet werden. Auch mit diesem Rückgang erzielte der Schweizer Velohandel 2021 das zweitbeste Ergebnis seiner Geschichte, mit großem Abstand auf das drittbeste Jahr. Dieses übrigens war 2019, gefolgt von 2018 und 2017. Insgesamt gesehen blickt die Schweizer Fahrradbranche somit auf ihre fünf fettesten Jahre in Folge zurück.
Hauptverantwortlich für die hohen Umsätze ist, wen wundert es, das Pedelec. Im Pioniermarkt Schweiz hat es bereits seit gut zehn Jahren einen gewissen Stellenwert im Markt, aber so richtig bedeutsam wurde es erst in den letzten fünf Jahren. Nochmals tüchtig Auftrieb erhielt das Pedelec in der Covid-Zeit: Im ersten Jahr der Pandemie wurden zum ersten Mal über 200.000 Stück verkauft, und der Einzelhandelsumsatz mit Pedelecs stieg um mehr als ein Drittel auf über eine Milliarde Schweizer Franken. 2021 erreichte es weitere Meilensteine: Im Bereich der Fahrräder mit Alltagsausrüstung wurden zum ersten Mal mehr Modelle mit elektrischem Zusatzantrieb verkauft als ohne. Im Gesamtmarkt wuchs der Anteil der Pedelecs auf 38,8 Prozent, bei den Fahrrädern für Erwachsene auf 45,5 Prozent. Bis insgesamt mehr Pedelecs verkauft werden als konventionelle Fahrräder, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein. Im Sommer 2021 gaben in der repräsentativen Kundenbefragung «Kundenmonitoring Velomarkt Schweiz» bereits mehr als die Hälfte der kaufwilligen Radfahrerinnen und -fahrer an, dass ihr nächstes Fahrrad ein Pedelec sein wird.

Warenflüsse und Wetter verhinderten ein besseres Ergebnis

Vom Erfolg profitierten 2021 aber nicht alle Marktteilnehmer gleich: Die Lieferengpässe dämpften bei einigen Fahrradlieferanten und Fahrradverkäufern massiv.


Die Inlandanlieferung von Fahrrädern in die Schweiz ist zuletzt stetig gestiegen. Getrieben wird diese positive Entwicklung vor allem durch E-Bikes.

Andere wiederum konnten überproportional zulegen, weil sie weit vorausgeplant und ein großes Einkaufsrisiko auf sich genommen hatten. Und es gehörte auch eine gewisse Portion Glück dazu, dass die gefragten Räder dann wirklich zum Beginn der Saison 2021 für den Verkauf bereitstanden. Zu den Gewinnern gehörten überdurchschnittlich viele Direktvertreiber, Fachmarkt-Lieferanten und Online-Händler. Zu ihnen floss ein Großteil der zusätzlich eingeführten Fahrräder und Pedelecs aus China. Der inhabergeführte Fachhandel litt mehr unter den Lieferengpässen. Aus seiner eigenen bisherigen Markterfahrung hatte er stärker auf Nachbestell-Möglichkeiten bei seinen Lieferanten in der Schweiz und in Europa vertraut, und war damit weniger gut auf die unsichere Warenversorgung vorbereitet.
Nicht nur die Warenverfügbarkeit, sondern auch das Wetter dämpften den Saisonerfolg vieler Fahrradverkäufer. Zum Jahresanfang hatte es zwar noch danach ausgesehen, als könne gar nichts die Nachfrage der Kunden bremsen. Von Januar bis März erzielten Fahrradhändler Rekordumsätze, die nahtlos an den Erfolg des Vorjahres anknüpften. Weder der zweite Lockdown, bei dem die Verkaufsräume von Mitte Januar bis Ende Februar geschlossen bleiben mussten, noch das außerordentlich schneereiche Winterwetter dämpften die Kauflust. Viele kaufwillige Radfahrer hatten die Mahnungen des Handels ernst genommen, dass es im Jahr 2021 zu Lieferverzögerungen kommen würde. In der Folge zogen sie den Kauf vor, um so sicherzustellen, dass sie dann im Frühjahr mit einem neuen Rad oder Pedelec in die Saison starten konnten. Nachträglich kann das als großes Glück betrachtet werden, denn auf den außergewöhnlich harten Winter folgte ein überdurchschnittlich feuchter Frühling und Sommer. Hätten nicht so viele Kaufwillige früh zugeschlagen, wäre die Schlussbilanz der Saison 2021 wohl deutlich schlechter ausgefallen.

Düstere Zwischenbilanz für 2022

Mit der Saison 2021 endete für den Schweizer Fahrradhandel die Periode aber noch nicht, die mit dem anfangs genannten Urteil »Noch nie so erlebt« treffend zusammengefasst ist. Nach dem ersten halben Jahr zeichnet sich ab, dass 2022 nochmals ein außerordentlich turbulentes Jahr ist, wo vieles anders läuft, als es Brancheninsider gewohnt sind. Insbesondere die Warenverfügbarkeit verschlechterte sich nochmals in schier unvorstellbaren Ausmaßen: Erhielten 2021 viele Geschäfte noch die vorbestellte Menge an Rädern und konnten nichts mehr nachbestellen, so erhielten sie 2022 bis zur Jahreshälfte nur einen Bruchteil ihrer Vororder. Zusammen mit der deutlich schlechteren Konsumentenstimmung wegen Teuerung und Furcht vor den langfristigen Folgen der Covid-Pandemie sowie des Kriegs in der Ukraine dürfte der Umsatz des Schweizer Fahrradhandels im Vergleich zum Vorjahr nochmals deutlich zurückgehen. Außer, es ändern sich die Rahmenbedingungen erneut gründlich. Selbst das wäre nicht mehr besonders überraschend nach zwei Jahren, in denen »Noch nie so erlebt« besser als alles andere die Entwicklungen des Schweizer Fahrradmarkts zusammenfasst. //

26. Juli 2022 von Urs Rosenbaum
Velobiz Plus
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