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Produktion - Kunststofffahrräder

Neuer Anlauf mit Plastikfahrrädern

Die bisherigen Versuche, Fahrräder aus Plastik zu etablieren, waren nicht gerade von Erfolg gekrönt. Alter Wein in neuen Schläuchen ist
die Kooperation von Mtrl und Igus deswegen noch lange nicht.

Schon vor rund 40 Jahren hat der damalige US-Präsident Jimmy Carter sich bei einem Besuch in Schweden auf ein Fahrrad gesetzt, das bis auf ein paar Teile aus Kunststoff bestand. Einmal auf dem Markt erwies sich das Itera genannte Modell allerdings als Flop. Im Sommer wurde der Kunststoff zu weich und im Winter so starr, dass teilweise die Tretkurbeln brachen. Heute haben diese Räder immerhin einen gewissen Sammlerwert.
Einen weniger desaströsen Versuch startete vor wenigen Jahren der deutsch-schweizerische Polymer-Verarbeiter Rehau AG. Rehau begann 2019 den Vertrieb der sogenannten Nuvelos, die auf der Eurobike 2015 Premiere feierten. Die mit Carbon verstärkten Spritzgussrahmen der E-Bikes galten als innovativ und waren hochbelastbar. 2020 verkündete Rehau aber das Aus der Plastikfahrräder. Zum einen stand das Unternehmen durch eine Krise im Kerngeschäft in der Automobilbranche unter Druck. Zum anderen blieben die Verkäufe schlichtweg hinter den hohen Erwartungen zurück.

Neue Akteure mit viel Erfahrung

Gescheiterte Projekte wie diese tragen dazu bei, dass Plastikfahrräder schnell als Idee vergangener Tage bewertet werden. Neue Ansätze gibt es trotzdem. Schon Ende dieses Jahres will das Unternehmen Mtrl aus den Niederlanden ein Fahrrad auf den Markt bringen und etablieren, das nahezu vollständig aus Kunststoff besteht. Mit letzterem Ziel sind sie nicht die Ersten, aber ihr Ansatz unterscheidet sich spürbar von denen ihrer Vorgänger. Das neue Modell von Mtrl sorgte bei der Premiere auf dem Igus-Stand auf der Hannover-Messe für reichlich Aufsehen. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz nahm das Rad gemeinsam mit dem portugiesischen Premierminister António Costa unter die Lupe.
Das Team von Mtrl hat sich ein Exemplar des schwedischen Modells Itera im Entwicklungsprozess angesehen. Übernommen haben sie nichts. Trotzdem begann die Entwicklung nicht bei null. Die Firma greift auf mehrjährige Erfahrung mit dem Verkauf von Plastikfahrrädern zurück. Vom bisherigen Modell, früher noch unter dem Namen Dutch Fiets vertrieben, sind einige Hundert Stück auf niederländischen Straßen unterwegs. Vor rund zwei Jahren hat Frank Blase, Geschäftsführer des deutschen Unternehmens Igus GmbH, in Mtrl investiert. Er sponsorte außerdem Bauteile für eine neue Maschine. Seitdem kooperieren die beiden Unternehmen eng miteinander. Igus ist seinerseits kein neuer Akteur in der Fahrradindustrie. Die Firma stellt schon lange zum Beispiel Gleitlager für Pedale oder Schaltwerke her.

Skalierungsproblem ist jetzt lösbar

Die Technik, mit der Mtrl die neuen Fahrradrahmen produzieren will, setzt an einem wichtigen Punkt an. Plastik, insbesondere wenn es im aufwendigen Spritzgussverfahren entsteht, ist profitabler, je höher die produzierten Stückzahlen sind. Das liegt daran, dass die schweren Formen, die Hersteller für Spritzguss benötigen, sehr teuer sind und der Skalierungsdruck entsprechend hoch. Derart hohe Stückzahlen wurden bisher aber noch bei keinem Kunststoffrad nachgefragt. Mtrl arbeitet mit Rotationsguss, der strombetrieben ist und weniger schwere und weniger teure Werkzeuge benötigt.
Um den Prozess nachvollziehbar zu machen, hält Mtrl-Gründer Johannes Alderse Baas eine Wasserflasche in die Luft. »Nehmen wir an, das ist eine Form. Stellen wir uns vor, man tut da Farbe hinein und dreht sie um zwei Achsen. Dann bekommt man die Farbe überall hin. Die Farbe ist in unserem Fall ein Pulver, wie Kaffeepulver, nur eben pulverisiertes Plastik. Wir erhitzen die Form, während wir sie rotieren, und das Plastik schmilzt Schicht für Schicht an der Wand«, erklärt er. Weil die Niederländer den Gussprozess elektrisch beheizen, können sie dafür erneuerbare Energien nutzen.
Vorteilhaft ist auch, dass Sensoren und Lasertracking den Prozess überwachen können, was in einem Gasofen nicht möglich ist. »Das ist ein unterschätztes Verfahren und wir haben das Niveau erhöht«, meint Alderse Baas. Laut ihm spart diese Herstellungsmethode Tausende Kilogramm Metall und Hunderttausende Euro ein. »Sie haben ein Produktionsmittel entwickelt, wo man keine unerhörten Mengen an Rahmen verkaufen muss, um kostendeckend zu arbeiten. Davor war das in keiner der Produktionsformen, weder im Spritzgussverfahren noch im Rotationsguss möglich«, meint Alexander Welcker, Industry Manager Bikes & E-Bikes bei Igus.
Er koordiniert unter anderem die
Kommunikation zwischen den beiden Unternehmen. Entscheidend für den Markterfolg der neuen Fahrräder könnte auch ein weiteres Detail sein. »Sie bauen ihre Maschinen selbst, das ist ein Gamechanger«, so Welcker.
Es könne deshalb günstiger sein, auch mehrere selbst gebaute Maschinen parallel zu betreiben. Unschlagbar günstig ist diese Produktionsweise dennoch nicht. Ab einem bestimmten Produktionsvolumen dürfte der Spritzguss die zumindest ökonomisch sinnvollere Variante sein.
Bei Plastikfahrrädern ist es sehr herausfordernd, den Rahmen ausreichend steif zu konstruieren. Entsprechend markant und polarisierend ist das Design des Prototypen. Die Form der Räder wurde umfangreich per Computer berechnet. Das Ziel für das Fahrrad lautet, so lange wie möglich ohne Wartung auszukommen. 10.000 Kilometer dürften es mindestens sein, so die Erwartung. Die Zeichen stehen nicht schlecht. Einen Test, der zehn Jahre Nutzung simuliert, hat der Rahmen gleich dreifach bestanden.

Serienmodell nimmt Form an

Wie das Serienmodell bis ins kleinste Detail aussieht, muss sich noch zeigen. Es gibt einen Prototypen für eine Rücktrittbremse aus Plastik, deren Serienreife noch aussteht. »Wenn wir die Sicherheit oder Wartungsintervalle damit verbessern können, tendieren wir dazu, kleine Aluminium-Einsätze oder etwas Derartiges einzusetzen«, kommentiert der Mtrl-Gründer. Bei Schrauben und Muttern und im Klemmsystem für die Sattelstütze wird voraussichtlich Metall zum Einsatz kommen. Die anvisierten 100 Prozent Plastik sind also noch nicht erreicht. 90 Prozent sollten aber bereits sicher sein.

Bei vielen Komponenten kommt Mtrl die Plastik-Expertise von Igus zugute. Das Unternehmen stellt zum Beispiel Gleitlager mit Festschmierstoffen her.

Für das Erwachsenenrad ist im Moment ein Gewicht von etwa 17 Kilogramm realistisch. Das ist kein Gewichtsrekord, weder in die eine noch die andere Richtung, das Ziel sei aber auch, die Wartung gering zu halten, ordnet Alderse Baas das Stadtrad ein. Eine leichtere, auf Performance getrimmte Version soll folgen. Bei einem Modell für Kinder, das noch im vierten Quartal dieses Jahres verfügbar sein soll, zeigt er sich in Bezug auf das Gewicht selbstbewusster. »Es wird wettbewerbsfähig sein«, so sein Versprechen. Derzeit sieht alles danach aus, dass eine Singlespeed-Version den Anfang machen wird. Eine Schaltung mit zwei oder drei Gängen entwickelt die Firma aktuell.
Noch in diesem Jahr sollen 1000 Fahrräder entstehen. Im nächsten Jahr könnten es bereits Zehntausende sein. Die ersten Fahrräder will Mtrl für ungefähr 1200 Euro direkt an Endverbraucher verkaufen. Langfristige Vertriebspläne stehen noch nicht fest. Des Werts des Fachhandels sei man sich aber genau bewusst. Gerade wenn es Probleme geben sollte, möchte man das Service-Netz nicht missen.

Kreislauffähiges Geschäftsmodell

Im Preis enthalten ist ein Pfand von 100 Euro. Das Geld bekommen die Kunden und Kundinnen zurück, wenn sie das Produkt am Ende der Lebenszeit wieder abgeben, damit es als Rohmaterial für den Produktionskreislauf bestehen bleiben kann. Wer beim Kauf etwa 200 Euro mehr zahlt, bekommt ein Fahrrad mit recyceltem Plastik. Den Aufpreis erklärt Mtrl damit, dass mehr Tests nötig sind, weil Recyclingplastik oft eine weniger konsistente Qualität hat. Dass viele Kunden und Kundinnen den Aufpreis zahlen werden, halten die Hersteller für realistisch und ziehen den Vergleich zu Bio-Eiern oder Ökostrom. Auch dort sind mittlerweile viele Menschen bereit, mehr zu zahlen, um weniger klimaschädlich zu leben.
Neues Plastik als nachhaltig zu deklarieren, dürfte vielen Menschen schwerfallen. Aber auch die Variante aus jungfräulichem Material hat Umweltvorteile gegenüber Rädern aus anderen Werkstoffen. Es ist kein Schweißen nötig und es braucht keine Schmiermittel, da die Komponenten von Igus ein Festschmiermittel enthalten. Um Metall wiederzuverwerten, sind außerdem deutlich höhere Temperaturen und mehr Energie notwendig, auch hier ist das Hochleistungsplastik im Vorteil.

Große Schritte sind möglich

Über die Plattform Igus:Bike, so die beiden Unternehmen, sollen die Neuerungen auch anderen Herstellern zugänglich gemacht werden. Das soll dazu führen, dass der Markt das Material Plastik schneller akzeptiert. In diesem sehen die beiden Unternehmen naturgemäß eine große Zukunft.
Entsprechend ehrgeizig sehen die Pläne von Mtrl aus. Die Firma plant, ihre Maschinen auch zu verkaufen und diese in der Nähe von Mülldeponien auf der ganzen Welt zu etablieren. So könnten lokal aus jetzigem Abfall viele neue Fahrräder entstehen. Bereits 2023 soll außerdem ein E-Bike auf den Markt kommen, das ungefähr doppelt so teuer sein wird wie die nicht elektrifizierten Räder. In diesem Zuge könnten auch Smart Plastics der Firma Igus verbaut werden. Über Sensoren könnten dann beispielsweise Lager ein Signal ans Smartphone senden, wenn sich das Ende ihrer Lebenszeit abzeichnet.
Das Material Plastik eröffnet also eine ganze Reihe an neuen Möglichkeiten. Welche sich letztendlich umsetzen lassen, bleibt abzuwarten. Gerade mit dem neuen Produktionsverfahren unterscheiden sich Mtrl und Igus aber durchaus von anderen Versuchen, meint Alexander Welcker. »Plastik in der Fahrradindustrie steckt noch in den Kinderschuhen. Das ist ein großer Schritt vorwärts.« Schon bald wird sich zeigen, wie der Markt diese Neuentwicklung annimmt. //

24. August 2022 von Sebastian Gengenbach

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