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Porträt - Advanced

Neustart mit Nachhaltigkeit

Das Frankfurter Unternehmen Advanced hinterfragt die eigene Branche und setzt auf Kunststoff im Rahmen – so sollen die E-Bikes beim Lösen von Klima- und Ressourcenproblemen helfen.

Eine Walze rollt über den unebenen Boden, Bauarbeiter marschieren neben der dunklen Fassade durch den Sand, ein paar Firmenwagen stehen zwischen Pfützen, wo bald ein Parkplatz sein soll. Es ist Mitte April und nur ein Schild vorn an der Einfahrt zum Gewerbegebiet in Rieste deutet auf die Firma hin, die hier schon bald ihre Produkte herstellen will. Hier zwischen ausladenden Agrarflächen nördlich von Osnabrück entsteht die neue Fertigung des deutschen E-Bike-Spezialisten Advanced. Wo jetzt noch eine Baustelle ist, sollen schon im Frühsommer Tausende Räder das Werk verlassen – und mit ihnen auch der Ansatz, mehr Nachhaltigkeit in den Fahrradmarkt zu bringen.
Der Besuch von velobiz.de im neuen Advanced-Werk in Niedersachsen bietet die erste Gelegenheit für Medien, sich die neue Produktion des 2011 gegründeten E-Bike-Herstellers mit Hauptsitz in Frankfurt am Main anzuschauen. Nur wenige Mitarbeiter sind an einem Mittwochnachmittag im Werk, die Lager fast leer, die Büros noch im Rohbau-Zustand. Während etwa 40 Kilometer entfernt in Georgsmarienhütte die alte Anlage noch produziert, stellt ein kleineres Team hier in Rieste gerade die Weichen für die Zukunft des Unternehmens. Ein paar Rahmen hängen umgedreht an Montageeinrichtungen, die wiederum von der Schiene der Produktionsstraße herunterragen. Noch ist hier Testphase. Aber bis Juli sollen die ersten 6000 E-Bikes dieses Werk in Richtung Handel verlassen.

12 Millionen Investment

Ambitionierte Pläne hat die Firma Advanced nicht nur auf kurze Sicht. Für die neue Produktion hat das Unternehmen insgesamt 12 Millionen Euro investiert. Das 7200 Quadratmeter große Werk in Rieste soll, so lautet die ganz große Vorgabe, einmal bis zu 100.000 Räder im Jahr herstellen können. Das ist natürlich mehr oder minder fiktive Zukunftsmusik, das weiß auch Helge von Fugler, einer der beiden Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens. Erst einmal geht es darum, dass ab Mai der Betrieb hochgefahren wird. Knapp 40 Leute werden dann an einer der beiden vorhandenen Linien arbeiten, ab Juli dann auch am zweiten Band. Das Ziel: Bis zu 150 Räder am Tag pro Produktionslinie sollen möglich sein. »Wir wollen, dass die Mitarbeiter sagen können: Wir haben es mit aufgebaut«, sagt von Fugler.
Eine effiziente, moderne Produktion ist das eine – und sicherlich für das Unternehmen sehr relevant. Das andere ist aber, welchen Wandel die Firma aktuell vorantreibt. Für Firmenlenker von Fugler ist klar, dass die Fahrradbranche bislang nicht ehrlich ist. Das Unternehmen hat im vergangenen Jahr mit großem Aufwand einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht, der durchaus kritisch mit den eigenen Produkten umgeht. Denn: Alurahmen, Batterien, Lieferketten – wer sich genau anschaut, mit welchen Problemen ein E-Bike so verbunden ist, der wird dieses Fahrzeug nicht unbedingt als Ökomobil wahrnehmen. »50 Prozent unseres Impacts auf das Klima kommen aus dem Produkt selbst«, sagt Helge von Fugler, »da fange ich doch nicht bei der Verpackung an, sondern eben beim Produkt selbst.« Fahrräder gälten zwar als nachhaltig, doch das stimme streng genommen erst ab Kilometer eins. »Die Produktion, die Alu-Legierung, der Transport, das alles ist nicht nachhaltig. Man muss erst mal fünf-bis zehntausend Kilometer fahren, bis der Fußabdruck sauber ist.«

Kunststoff statt Alu

Das ist mal eine Aussage für ein Unternehmen, das sich immerhin seit 2011 einzig auf Bau und Verkauf von E-Bikes spezialisiert hat. Es passt allerdings, dass das Unternehmen sich einen ganz neuen Anstrich gibt. Früher war es mit der Marke »Ebike. Das Original.« bei Händlern vertreten, im Vorjahr änderte sich das zu »Advanced«. Kurz hinterfragten sich die Macher selbst, veröffentlichten die Untersuchung zum Treibhausgaseffekt ihres Unternehmens und eines Trekking-E-Ebikes – mit durchaus kritischem Ergebnis. Die Firma engagiert sich seit dem vergangenen Jahr auch in zwei relevanten Lobbyorganisationen: Zukunft Fahrrad und Shift Cycling Culture – letztgenannte Organisation hat explizit das Ziel, die Nachhaltigkeit der Industrie voranzutreiben.

Auf den neuen Produktionslinien sollen einmal bis zu 100.000 Räder montiert werden. Besonders großer Wert wird dabei auf Nachhaltigkeit der Produktion gelegt.

Bei Advanced haben sie sich vorgenommen, eine Veränderung in den eigenen Produkten zu erreichen – klimafreundlicher und ressourcenschonender zu produzieren. Deswegen hat das Unternehmen den eigenen Bestseller, das Trekking-Rad, ins Visier genommen. Ungefähr die Hälfte aller Klima-Emissionen, sagt Helge von Fugler, entfielen im Zuge der Produktion auf die Alu-Legierung, die noch dazu eigentlich immer aus Fernost importiert werde. Den Einstieg in eine recy­clingfähige, vielleicht sogar kreislauffähige Alternative haben sie bei Advanced deshalb mit einem anderen Werkstoff angeleiert: Kunststoff. Alternativ zu Aluminiumrahmen nutzt das Unternehmen jetzt für die neue Trekking-Serie, die im Sommer in den Handel geht, ein Gemisch aus 60 Prozent Polyamid und 40 Prozent Carbon-Recycling-Werkstoff, beispielsweise Verschnitt aus der Automobilindustrie. Bei einem Kunststoffhersteller in Thüringen gießen sie das Granulat in ein Werkzeug aus Fernost, die Spritzgussmaschine fertigt in 90 Sekunden eine Rahmenform – schon ist die Basis für ein E-Bike fertig. »Wir machen das bei unserem wichtigsten und von der Konstruktion her anspruchsvollsten Modell, dem Tiefeinsteiger«, sagt Pressesprecher Leo Schlüter.

Nachhaltigkeit als Hygienefaktor

Der Nachhaltigkeitsaspekt an diesem Rahmen, dem Reco, ist eine gute Botschaft an den Markt – es ist auch ein »Hygienefaktor«, wie Unternehmenslenker Helge von Fugler es nennt. Damit meint er: Konsumentinnen und Konsumenten werden noch nicht aktiv nach Fahrrädern schauen, die sich in Sachen Kohlendioxid-Ausstoß bei der Produktion von anderen abheben. Aber es gerät etwas in Bewegung, und Advanced möchte vorn dabei sein. Die Rahmen aus den Reco-Rädern ließen sich in Zukunft zu 100 Prozent wieder nutzen, um andere Komponenten fürs Fahrrad, womöglich auch wieder Rahmen, aus ihnen zu gießen. Auch habe man mit dem Einstieg in die eigenen Rahmen den Weg bereitet, um weitere Teile des Fahrrads wie Sattelstützen, Lenker oder Felgen aus dem Kunststoff-Material zu gießen. Das ist natürlich noch ein weiter Weg – denn jedes dieser Produkte ist ja sicherheitsrelevant und auch das Herstellen von Formen teuer.
Der Vorstoß, den Advanced mit dem Reco macht, ist nicht nur auf eigener Entwicklung in Frankfurt gewachsen. Vielmehr sind die Rahmen das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Unternehmen V-Frames von Michael Müller, der eine Ursprungsidee der österreichischen Firma Plastic Innovation in der Praxis am Fahrrad ausprobiert habe. Gut drei Jahre tüftelte man dann bei Advanced gemeinsam mit den Plastik-Denkern und den Kölner Designspezialisten bei Coleo an dem Rahmen. Es gab schwere Rückschläge, erzählt Helge von Fugler. Die Geome­trie des ersten Rahmens sei falsch ausgelegt gewesen, was zur Folge gehabt habe, dass ein neues Werkzeug erstellt werden musste. Diese Probleme hat man nun gelöst. Die Räder, die im Sommer in den Handel kommen, sind Ergebnis einer weiteren, ­­­
18 Monate langen Entwicklungs- und Designphase.

»Near Shoring« für die Zukunft

Geschäftsführer von Fugler geht es auch darum, dass Nachhaltigkeit im Hauptgeschäft greift. »Wir haben gesagt, es darf nicht polarisieren. Es muss annehmbar sein. Nur wenn es annehmbar ist, kannst du damit auch Menge machen.« Dass es annehmbar ist, hätten Reaktionen der Händler bei Messen gezeigt. Da sei schon mal die Frage gekommen: »Kann ich mal euren Trabi sehen?« Eine Testfahrt später hätte der Händler dann gesagt, das Rad fahre sich wie ein Alu-Modell. Für von Fugler ein schönes Lob. »Der Händler hat nichts daran auszusetzen, dass es Kunststoff ist. Wir gehen in Richtung Steifigkeit. Und wir sind erst am Anfang, haben auch die Wandstärken noch gar nicht ausgereizt. Wir wollen erst mal ein gutes, funktionierendes Produkt.« Annehmbar – so scheint es auch aus Sicht des Publikums auf der Cyclingworld in Düsseldorf gewesen zu sein: Das Advanced Reco Diamant gewann dort den E-Bike-Award.
Mit seinen Reco-Produkten möchte Advanced einen Prozess in Gang setzen. Sie haben aber auch einen großen Vorteil für die Fähigkeit des Unternehmens, flexibel im Markt zu agieren. Denn Produktionsmengen für die Rahmen lassen sich recht kurzfristig anpassen. Wo man bei Alu in Fernost schon mal einen Vorlauf von 24 Monaten habe, komme man dank der Spritzguss-Technik in Thüringen inzwischen mit vier Wochen Vorlauf hin. Das erhöht die Flexibilität, senkt Lieferkosten, verschafft Spielräume. Dass am Ende das Prädikat »Made in Germany« auf dem Produkt stehen darf, hält Helge von Fugler nicht so sehr aus Vermarktungssicht für relevant. Vielmehr gehe es darum, »Near Shoring« umzusetzen, auf den Markt zu reagieren, Produkte auch so herzustellen, dass sie möglichst wenig Schäden anrichten. Dafür sei eben »Near Shoring«, also das Beziehen von Teilen für die Produktion aus näherer Umgebung, ein wichtiger Aspekt.

Mehr Fertigungstiefe im Blick

Mit dem Tiefeinsteiger-Trekking-Rad startet Advanced diesen Prozess im eigenen Unternehmen. Es ist danach noch ein weiter Weg, das weiß Helge von Fugler, bis ein wirklich nachhaltiges Wirtschaften möglich ist. Man könne sich als Nächstes eine Serie von urbanen Rädern vorstellen, die ebenfalls aus dem Kunststoffgemisch gebaut werden. Aber die Mountainbikes des Unternehmens sind noch auf Dauer aus anderem Material. Es ist noch viel zu tun, bis diese Flotte recy­clingfähig wird. Aber man spreche mit Experten zu diesem Thema, freue sich, wenn Riese & Müller etwa Impulse in den Markt gebe, und schaue auch darauf, was in Sachen Carbon-Wiederaufbereitung geschehe.
Beim Blick auf die Halle im Testbetrieb hat Geschäftsführer Helge von Fugler den Blick schon in die Zukunft gerichtet. Die Produktionslinien sind so aufgebaut, dass eine Expansion direkt im Umfeld möglich ist. »Direkt vor der Tür gibt es sechs Hektar, die wir auch nutzen könnten«, sagt der Kaufmann, »da könnten wir unsere Fertigungstiefe erhöhen.« Eine Spritzgussanlage direkt vor der Halle, eine Lackiererei daneben, alles über einen Transportweg zusammengeschaltet – wo jetzt Brachland ist, könnte sich der Advanced-Manager solche Szenarien vorstellen. Doch erst einmal muss das Werk in Rieste in Betrieb gehen. Demnächst soll dann auch ein Schild an der Fassade hängen. //

17. Mai 2023 von Tim Farin

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