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Interview - Jörg Müsse

»Nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen«

Jörg Müsse war als Frontmann von Bike&Co. lange Jahre eines der bekanntesten Gesichter der Branche. Nach seinem Abschied dort steht er nun für neue Aufgaben in der Branche bereit. Als frischgebackener Berater bringt er seinen reichen Erfahrungsschatz und seine scharfen Analysen aus neuer Perspektive mit ein.

Herr Müsse, Sie haben nun zehn Monate lang die Branche von der Seitenlinie aus betrachtet. Wie verändert das die eigene Perspektive auf den Markt?

Wohl eher von der Tribüne beziehungsweise vor dem TV. Nach 40 Jahren intensiver Arbeit war die Auszeit zunächst eine Herausforderung, aber sie hat mir einen neuen Blick auf die Branche ermöglicht. Ohne die operative Verantwortung kann ich Entwicklungen und Zusammenhänge objektiver und aus größerer Distanz betrachten. Die Rolle als Interessenvertreter prägt den Blick stark – jetzt sehe ich die Branche viel mehr aus der Vogelperspektive und kann das Zusammenspiel der Marktteilnehmer unabhängiger bewerten.

Wo hat sich ihre Perspektive am stärksten verändert?

Ich habe schon immer gesehen, dass die Branche zu wenig kooperativ agiert. Das habe ich nie wirklich verstanden und auch immer wieder zu durchbrechen versucht. Am Ende des Tages betreiben wir alle das Geschäft, ein hochwertiges Konsumgut zu verkaufen, und wir haben eigentlich in der Branche alle nur einen gemeinsamen Adressaten am Ende. Und das ist der Endverbraucher.

»Entscheidend wird sein, wie gut sich der Fachhandel digital aufstellt, sein Sortiment plant und seine Stärken in Beratung und Service ausspielt.«

Jörg Müsse, muesse-consulting.de

Aus der neuen Perspektive fällt noch deutlicher auf, wie sehr wirtschaftlicher Druck und mangelnde Zusammenarbeit den Markt belasten. Besonders die letzten Jahre mit Überbeständen und gegenseitigen Schuldzuweisungen haben gezeigt, wie kontraproduktiv fehlende Abstimmung ist. Von außen betrachtet wird klar, dass mehr Kooperation und Transparenz dringend notwendig wären.

Wie schätzen Sie die aktuelle Marktsituation ein? Ist die Krise vorbei?

Die Krise befindet sich in der Auflösung, aber sie ist noch nicht überall überwunden. Im Handel sind die Probleme je nach Region und Geschäftsmodell zu 60 bis 100 Prozent gelöst. Bei den Herstellern dauert es länger, weil sie erst wieder liefern können, wenn der Handel seine Bestände abgebaut hat. Solange große Player noch hohe Lagerbestände haben, bleibt die Situation angespannt. Eine vollständige Normalisierung wird noch mindestens eine weitere Saison brauchen.

Ihre Voraussage ist also, dass die nächste Saison noch nicht ganz ausreicht?

Es gibt weiterhin Überbestände – bei OEMs, Herstellern und im Handel. Erst wenn diese Lager abgebaut sind, kann von Normalität gesprochen werden. Das wird frühestens zur Saison 2027 der Fall sein. Gleichzeitig liegt darin auch eine Chance: Wenn jetzt alle Marktteilnehmer bereit sind, Prozesse zu verknüpfen, transparenter und digitaler zu arbeiten, kann eine wirklich marktorientierte Supply Chain entstehen, mit genau den Produkten, die der Endverbraucher auch wirklich nachfragt.

Wie könnte denn eine marktorientierte Supply Chain im Detail aussehen?

Eine marktorientierte Supply Chain braucht vor allem valide Endverbraucherdaten zu Kaufverhalten, Nutzung und Erwartungen. In Holland funktioniert das bereits, dort liefert ein GfK-Panel regelmäßig solche Informationen. Für Deutschland fehlt das bislang. Mein Vorschlag wäre, dass sich die Branche zusammentut und ein solches Panel in Auftrag gibt.
Mit diesen Daten ließen sich Sortimente gezielt auf regionale Bedürfnisse zuschneiden. Ein Beispiel: In einem kinderreichen Stadtteil macht ein breites Angebot an Kinderrädern und -helmen Sinn. Solche Entscheidungen sollten datenbasiert getroffen werden, nicht aus dem Bauch heraus.
Auch die Vororder von Ersatzteilen und Zubehör muss neu gedacht werden, nicht vergangenheitsbezogen, sondern auf Basis der zuletzt verkauften Fahrräder und ihrer Komponenten. Denn was heute verkauft wird, muss morgen gewartet werden. Wenn Händler und Hersteller diese Informationen teilen, können Verschleißteile rechtzeitig geplant und produziert werden. So entsteht eine Supply Chain, die sich am tatsächlichen Bedarf orientiert – effizient, transparent und kooperativ.

Ein Traum der letzten 100 Jahre.

Ja, aber ich sehe Ansätze, dass auf Hersteller- und Handelsseite besser und datenorientierter geplant wird. Ein Beispiel ist die Kooperation von Bike Matrix mit Bidex. Wenn man das noch zusammenlegt mit den Bemühungen der anderen Akteure, gibt es sowohl bei der Konzeption der Räder über die Produktionsplanung bis hin zur Planung der benötigten Aftermarket-Artikel einmal eine Datengrundlage, mit der man arbeiten kann.

Jetzt haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, wie Sie sich eigentlich künftig in der Fahrradbranche einbringen wollen. Welche neuen Aufgaben haben Sie sich gesucht?

Ich bin seit dem 1. Oktober beratend und coachend für Akteure der Fahrradbranche tätig – für Händler, Hersteller und Dienstleister. Mein Fokus liegt auf der Analyse von Marktveränderungen und der Entwicklung zukunftsfähiger, nachhaltiger Geschäftsmodelle. Dabei geht es um datenbasierte Strategien, moderne Handelskonzepte und die Unterstützung bei der Bewältigung von Krisensituationen. Besonders wichtig ist mir, den kleineren und mittleren Fachhandel zu stärken und junge Unternehmer bei ihrer Entwicklung zu begleiten. Ich werde für diejenigen tätig sein, die nicht wie das Kaninchen vor der Schlange in dieser Marktsituation sitzen wollen, sondern die Analysen und strategische Lösung wollen.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Marktanteile des Fachhandels, die zuletzt leicht zurückgingen?

Die Fachhandelsquote lag früher bei etwa 50 Prozent. Damals wurden viele Fahrräder über Kaufhäuser und Baumärkte verkauft. Erst durch die Flächenfachhändler, allen voran Stadler, ist der Anteil des Fachhandels deutlich gestiegen. Jetzt erleben wir eine Gegenbewegung – etwa durch Anbieter wie Decathlon, die mit attraktiven Angeboten Marktanteile gewinnen. Das ist nicht dramatisch, aber es zeigt, dass sich die Kräfteverhältnisse verschieben. Der Fachhandel muss darauf reagieren, etwa durch klare Positionierung, bessere Außendarstellung und passende Sortimente.

Wie wird sich der Fachhandel in Zukunft verändern? Wird er seine Marktanteile halten können?

Der Fachhandel wird weiterhin eine wichtige Rolle spielen und nicht alle Bereiche sind gleich betroffen. Besonders gefährdet sind Flächenmärkte mit wenig Profil, die Einstiegspreislagen bedienen, aber im Marketing nicht mit großen Playern mithalten können. Diese verlieren Marktanteile, weil die Wettbewerber zunehmend attraktive Angebote platzieren – auch im Leasing-Segment und zunehmend im Sportbereich.
Weniger betroffen sind Nahversorger und spezialisierte Händler mit klarer Positionierung, hoher Beratungsqualität und nachhaltigem Geschäftsmodell. Entscheidend wird sein, wie gut sich der Fachhandel digital aufstellt, sein Sortiment plant und seine Stärken in Beratung und Service ausspielt. Wer das schafft, kann auch künftig erfolgreich sein – trotz wachsender Konkurrenz und Konsolidierung im Markt.

Wo sehen Sie gerade die größten Baustellen bei der Bewältigung des sich auflösenden Krisengeschehens? Wo können Sie mit Ihrer Arbeit ansetzen? Wo muss man hinfassen?

Kurzfristig sehe ich die größte Herausforderung darin, dass große Marktteilnehmer weiterhin gezwungen sein könnten, erhebliche Warenmengen zu stark reduzierten Preisen anzubieten. Solche Aktionen destabilisieren den Markt und erschweren eine nachhaltige Erholung.
Langfristig liegt die zentrale Aufgabe darin, die Customer Journey besser zu verstehen. Die Branche muss den Endverbraucher und seine Bedürfnisse genauer analysieren, Zielgruppen differenzierter betrachten und ihre Angebote entsprechend ausrichten. Ich bin weniger optimistisch als viele andere, was die zukünftigen Absatzzahlen betrifft – aber mit einem klaren Fokus auf Zielgruppen und Sortimentsplanung lassen sich auch in einem stagnierenden Markt gute Geschäfte machen.

Wie findet der kleinere bis mittelständische Handel seine Rolle, die auch langfristig tragfähig ist?

Der kleinere und mittlere Fachhandel liegt mir besonders am Herzen, weil ich selbst aus diesem Bereich komme. Damit diese Betriebe langfristig bestehen können, brauchen sie ein stabiles Geschäftsmodell, das auf ihre Stärken setzt: persönliche Beratung, lokale Verankerung und Glaubwürdigkeit.
Zudem braucht es mehr Produkte in Einstiegspreislagen. Nicht jeder Kunde kann und will sich ein E-Bike für 4000 Euro leisten. Die Herausforderung besteht darin, diese Lücke zu schließen, ohne auf Masse oder Qualität zu verzichten. Der Handel wird aufgrund der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung niedrigere Preissegmente bedienen müssen. Hier hat der Markt Lücken gelassen. Für diese Themen gibt es bereits konkrete Lösungsansätze, die bald im Markt sichtbar werden.

Sie standen lange Zeit an der Spitze der Bico. Wie sieht ihre Verbindung zum Verband künftig aus?

Da muss man scharf differenzieren zwischen der Person Jörg Müsse und dem Fahrradhändler Fahrrad Böttgen, dessen alleiniger Gesellschafter ich bin, der aber von zwei Geschäftsführern geleitet wird. Die Verbindung zur Bico bleibt über mein Unternehmen bestehen. Fahrrad Böttgen ist Gründungsmitglied und wird auch weiterhin aktiv mit dem Verband zusammenarbeiten. Das ist mein ausdrücklicher Wunsch, da der Betrieb auch sehr profitiert von der Mitgliedschaft in der Bico. Ich selbst werde, soweit absehbar, jedoch keine operative Rolle mehr im Fahrradladen übernehmen.
Das Kapitel meiner persönlichen Funktion bei Bike&Co. ist abgeschlossen – vertraglich geregelt und ohne Groll. Mein Wunsch ist, den freundschaftlichen Kontakt zu den Händlerkollegen zu pflegen, aber als Person werde ich im Verband keine Rolle mehr spielen. //

23. Oktober 2025 von Daniel Hrkac

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