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So könnten nach Schaeffler intelligente Mobilitätslösungen für eine nachhaltige Stadt der Zukunft aussehen.
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Report - Digitalisierung und Verkehrswende

Per Digitalisierung zur Verkehrswende?

Allen Forderungen und Empfehlungen von Lobby-Verbänden, Stadt- und Verkehrsplanern sowie Umweltexperten zum Trotz: Eine Mobilitäts- oder Verkehrswende scheint hierzulande nicht gerade zum Greifen nah. Die Digitalisierung kann und wird hier sicher einiges verändern. Mit Chancen, Risiken und Nebenwirkungen – auch für die Fahrradbranche.

Während sich Veränderungen in vielen Lebensbereichen früher eher in Jahrzehnten abspielten, macht sich heute eine neue Dynamik breit: Sowohl die technischen Innovationen selbst, wie auch der Druck durch internationale Vernetzungen und globale Entwicklungen beschleunigen die Veränderungsprozesse inzwischen in einem Tempo, das kaum jemand für möglich gehalten hätte. Und im Bereich Verkehr? Hier läuft doch alles wie gehabt. Oder kommen Veränderungen hier vielleicht schneller als erwartet?

Alte Mobilitätskonzepte in der Sackgasse

Das Festhalten der Automobilkonzerne, der Mehrzahl der Bevölkerung und der Politik an alten Verkehrskonzepten und dem Wunschdenken nach automobiler Freiheit, billigem Treibstoff und immer mehr Leistung ist nachvollziehbar. Letztlich aber unlogisch und wenig zielführend. Denn mit dem Denken in langfristigen Modellwechseln, mehr Hightech, Luxus, Kraft und immer größeren Autos werden die Grundprobleme, wie zum Beispiel verstopfte Straßen und Städte, hoher Energieverbrauch sowie klima- und gesundheitsschädliche Emissionen, nach Meinung von Experten nicht im Ansatz angegangen. Bestenfalls verlagert. Da hilft auch kein Elektroantrieb.
Auch die simplen Formen der Digitalisierung, wie »intelligente« Ampelschaltungen, die, so die wohlfeile Versprechung, den Verkehr verflüssigen helfen sollen, lösen die Probleme nach Expertenmeinung nicht. Erst recht nicht, wenn man von einer echten »Verkehrswende« spricht, also laut Definition von Wikipedia einem Prozess, der Verkehr und Mobilität auf nachhaltige Energieträger, eine sanfte Mobilitätsnutzung und eine Vernetzung verschiedener Formen des Individualverkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs umstellt.

Die Veränderungen kommen mit der Digitalisierung

Mit aktuellen Szenarien, Chancen, Hinderungsgründen und Risiken beschäftigen sich die Mobilitätsforscher Dr. Weert Canzler und Prof. Dr. phil. Andreas Knie in ihrem Buch »Die digitale Mobilitätsrevolution: Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten« (oekom-Verlag, München 2016). Ihre Erkenntnis: »Digitale Techniken eröffnen neue Möglichkeitsräume und erleichtern – im Fall des Verkehrs – eine einfache, günstige und zugleich ökologisch schonendere Mobilität, weil sie einen neuen Blick auf die materielle Wirklichkeit ermöglichen.« Dabei gehen die beiden Experten davon aus, dass durch die Nutzung der Smartphones die Wünsche und Bedürfnisse und mit ihnen das Konsumentenverhalten unbewusst verändert werden. Man entscheide sich nicht mehr primär für einen Verkehrsträger, eine Automarke oder einen Anbieter, sondern setze seine Prioritäten neu. Nach pragmatischen Kriterien und der unmittelbaren Verfügbarkeit. »Die ursprünglichen Entscheidungskriterien wie Marken oder spezifische technische Eigenschaften werden zurückgedrängt oder verschwinden ganz«, so die Autoren. Ein Effekt, der Nutzern der Free-Floating Carsharing-Systeme wie Car2go oder DriveNow sehr bekannt vorkommen dürfte. Die simple Logik: Reserviert wird einfach das nächstliegende Fahrzeug. Typ, Ausstattung, konventioneller oder E-Antrieb? Eher zweitrangig. Vor diesem Hintergrund scheint es nur logisch, dass sich auch für andere Mobilitätsformen, wie Schiene und ÖPNV, Bikesharing, Scooter, Tretroller und Fahrdienste wie Uber bislang ungeahnte Chancen und Optionen ergeben. Zukunftsmusik? Keineswegs. Die Technik ist längst da – und bei genauerer Betrachtung sind viele Umbrüche bereits heute deutlich sichtbar.

Neue Mobilitätswelt per Smartphone

Das wohl größte Potenzial der Digitalisierung ist, komplexe Systeme für die Kunden einfach nutzbar zu machen und Informationen individualisiert bereitzustellen. Auf Anbieterseite können Daten zu Standorten von Fahrzeugen und Personen, Tarife und Routenauskünfte verknüpft und so neue, vernetzte Angebote geschaffen werden. »Auf Anwenderseite ist dabei vor allem die inzwischen erfolgte Durchdringung der Gesellschaft mit Smartphones, als Schnittstelle zum Menschen, wichtig«, betont die Journalistin und Fachbuchautorin Dagmar Rees im Gespräch. »Vor circa fünf Jahren wären die aktuellen Entwicklungen noch nicht denkbar gewesen.« Tatsächlich eröffnet das Smartphone inzwischen auch eine vollkommen neue Mobilitätswelt: Zusätzlich zu Free-Floating-Angeboten im Bereich Car- und Bikesharing etablieren sich inzwischen beispielsweise verschiedene Ridepooling-Systeme wie Rufbus, Allygator- und Clever-Shuttle oder Moia, bei denen Kunden sich Fahrzeuge »on demand« für den Weg teilen können.

Konkurrenz für bestehende Verkehrsträger

Dazu kommen immer mehr Fahrzeuge für unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse: von E-Vans (Moia), über E-Bikes (z.B. Uber Jump), E-Scooter (z.B. Coup, Emmy) bis hin zu Elektro-Tretrollern (z. B. Lime, Bird). Gerade Uber oder die Elektro-Tretroller sind – in anderen Ländern – ein großer Erfolg. »Die einfache Wahrheit lautet: Je bequemer etwas ist, desto eher wird es genutzt«, so die Autorin Dagmar Rees. So wundert es auch nicht, dass die beiden aus der kalifornischen Tech-Szene finanzierten Tretroller Sharing-Anbieter Lime und Bird laut Presseberichten zu den am schnellsten wachsenden Unternehmen aller Zeiten gehören. In 14 Monaten haben sie zusammen fast eine Milliarde US-Dollar eingesammelt und werden aktuell mit einer beziehungsweise zwei Milliarden US-Dollar bewertet. Die Rechnung ist dabei einfach: Dank niedriger Anschaffungs- und Wartungskosten lassen sich nach Schätzungen über den Verleih innerhalb der viermonatigen Lebenszeit eines Rollers 1.000 US-Dollar Gewinn erzielen – und das bei weltweiten Marktchancen. Aber die Pläne gehen noch weiter: Zusammen mit dem Verleih von E-Bikes, Tretrollern und weiteren Angeboten, wie zum Beispiel im Bereich Food Delivery, in die kräftig investiert wird, setzt Uber dazu an, zu einem zentralen Mobilitätsanbieter zu werden. Eine Rolle, die kaum zu unterschätzen ist: »Wenn man von neuen Mobilitätsdienstleistern spricht, dann ist es grundsätzlich so, dass diese nicht in Verkehrsträgern denken, sondern dem Kunden entsprechend seiner persönlichen Präferenzen immer das beste Angebot machen werden«, erläutert Dagmar Rees. So könnte künftig zum Beispiel auf einer App eingestellt werden, dass der Kunde Wegstrecken bis zu fünf Kilometern gerne mit einem Leihrad zurücklegen möchte – unter der Bedingung, dass es nicht regnet. Im Ergebnis würden so optimale Verbindungen vorgeschlagen. Im Zweifelsfall ohne eigenes Zutun und direkt aus dem Terminkalender heraus. »Für die Zukunft wird interessant sein, wer diese Mobilitätsanbieter sind«, so Rees.

Politik und Angebote hinken in Deutschland hinterher

Trotz aller Notwendigkeiten auf der einen und technischen Entwicklungen auf der anderen Seite: In Europa und speziell im Autoland Deutschland scheinen sich die Uhren deutlich langsamer zu drehen, wenn es um Änderungen in der Mobilität geht. Eine Verkehrswende, »was man darunter auch immer genau versteht«, ist nach der Überzeugung von Dagmar Rees »nur zum Teil eine Frage der Technologien, sondern eher des politischen Willens«. So könnten Schiene und ÖPNV zum Beispiel bereits heute fahrerlos fahren, wie seit über 10 Jahren die U-Bahn in Nürnberg und Metros in vielen Städten der Welt.
Im Hinblick auf die Tarifisierung gibt es in Heidelberg bereits seit 2015 durch den Verkehrsverbund eine Lösung per App. Fahrten werden nicht mehr zum Festpreis abgerechnet, sondern entfernungsabhängig je Kilometer Luftlinie (!) zwischen Start- und Zielhaltestelle. Gerade der ÖPNV und die Bahn haben enorme, bislang jedoch kaum genutzte Möglichkeiten durch bessere Informationen, Tarife und Buchungsmöglichkeiten, verknüpfte Angebote und vor allem die Mediennutzung im Fahrzeug. Bei Fahrtvermittlungs-Angeboten, wie von Uber, sperrt das Personenbeförderungsgesetz und bei E-Kickboards oder S-Pedelecs die StVO. Im Hinblick auf neue Ansätze dürfe nicht weiter blockiert werden, mahnt Prof. Dr. phil. Andreas Knie und fordert Experimentierfelder, um neue Lösungen im Praxistest erproben zu können. Die Kommunen hätten dazu im Rahmen der Gesetzgebung, die auch Experimentierklauseln enthielte, viele Möglichkeiten.

4. Februar 2019 von Reiner Kolberg
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