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Volles Haus: Mit rund 800 Teilnehmern war der Kongress bestens besucht.
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Radpolitik - NRVK 2019 - Radverkehrskongress mit »Fahrradminister« Scheuer

PR-Aktion oder Wende?

Der 6. Nationale Radverkehrskongress (NRVK) am 13. und 14. Mai in Dresden war eine positive Überraschung. Oder doch eher eine orchestrierte PR-Aktion, wie beim Besuch der Kanzlerin auf der Eurobike im Jahr 2013? Wir waren dabei und vom Aufbruchcharakter beeindruckt.

Er war nicht nur einfach da, er kam auch mit der Bahn, legte die letzten Kilometer vom Hauptbahnhof zur Dresdner Messe auf dem Leihrad zurück und suchte sichtbar den Kontakt – auch zu Verbänden wie dem ADFC: Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, zeigte sich auf dem Kongress, der alle zwei Jahre durchgeführt wird, bodenständig, nahbar, gut gelaunt und offensichtlich bestens präpariert. Genau das Gegenteil von der Person, die sonst von Medien und Kabarett als »Autominister« und »Cheflobbyist der Automobilindustrie« gezeichnet wird. Inhaltlich machte er sich in seiner Begrüßungsrede mit markigen Worten für die Steigerung der Attraktivität und mehr Sicherheit beim Radverkehr stark und präsentierte – auch das ein Novum – gleich acht konkrete Leitziele.

Teilnehmer und Verbände freuen sich über starkes ­Signal

Allein die Rekordzahl von über 800 Teilnehmenden beim NRVK seien bereits ein starkes Signal dafür, dass der Radverkehr in Deutschland stark an Bedeutung gewonnen habe, betont Albert Herresthal, Geschäftsführer des Verbund Service und Fahrrad e.V. (VSF). Vor dem Hintergrund, dass seit 2013 kein amtierender Verkehrsminister mehr beim NRVK anwesend war, begrüße der VSF den Auftritt des Ministers. Deutlicher fielen die Worte einiger hochkarätiger Teilnehmer hinter vorgehaltener Hand aus. Mit seinem Auftritt, seinen Worten und konkret angekündigten Maßnahmen habe der Minister ein klares Zeichen gesetzt und allen, die mit dem Thema Radverkehr befasst sind, den Rücken gestärkt. Ohne Flurschäden in erheblichem Maß sei ein »Zurückrudern« jetzt kaum möglich, und demnach wohl auch unwahrscheinlich. Beeindruckt und für die Zukunft positiv gestimmt zeigte sich auch ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork: »Minister Scheuer hat verstanden, dass es ohne mehr Platz und Wegequalität für den Radverkehr nicht geht. Er hat bei vielen von uns das Gefühl hinterlassen, dass man den Radverkehr in Zukunft nicht mehr gegen einen CSU-Minister vorantreiben muss, sondern jetzt vielleicht mit ihm.«

Verkehrsministerium unter Handlungsdruck

»Mehr Radverkehr« war ebenso wie »mehr Elektroautos« ein über die Jahre hinweg genauso oft wie folgenlos wiederholtes Mantra der Bundesregierung. Aber inzwischen drängt die Zeit: Klima- und Verkehrsexperten sehen ein großes Problem in der Lücke zwischen Zielen und Verpflichtungen auf der einen Seite und fehlenden konkreten Maßnahmen und Erfolgen auf der anderen. Klar ist, auch im Verkehrssektor müssen die CO2-Emissionen sinken. Sonst drohen der Bundesregierung nicht nur Gesichtsverlust, sondern – und das ist neu – auch Strafzahlungen in Milliardenhöhe an die EU.
In der Zwickmühle befindet sich der Verkehrsminister auch, weil er im Wahlvolk unbeliebte Vorschläge der eigens eingesetzten Expertenkommission aus der »Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität« zu Beginn des Jahres abschmetterte. Erste Überlegungen der Kommission zu höheren Spritsteuern, einem Tempolimit oder einer Quote für Elektroautos hatte er schroff zurückgewiesen und von völlig überzogenen, realitätsfernen Gedankenspielen gesprochen, die »gegen jeden Menschenverstand« gerichtet seien: »Forderungen, die Zorn, Verärgerung, Belastungen auslösen oder unseren Wohlstand gefährden, werden nicht Realität und lehne ich ab«, so Scheuer in den Medien. Mit der frühen Einschränkung der Handlungsoptionen steigt logischerweise der Druck, auf den anderen Handlungsfeldern schnell erfolgreich zu sein.
Insofern passen die medialen Auftritte des Ministers, die ein wiedererwachtes Interesse nicht nur am Radverkehr, sondern auch an der lange Zeit vernachlässigten Bahn zeigen, ins Konzept.

Neue Rolle des Fahrrads als Verkehrsträger

Über Jahre hinweg wurde das Radfahren immer wieder als wichtig betont. In der Praxis ging es dabei aber bei vielen politisch Handelnden, wie auch den Verkehrsplanern, eher um den Gebrauch in der Freizeit und im Tourismus. Verkehr wurde gerne gleichgesetzt mit Autoverkehr. Genau das scheint sich gerade zu ändern. Nicht nur in den Fachforen des NRVK, in denen es beispielsweise um Infrastruktur wie Radschnellwege, Citylogistik per Rad, Intermodalität, Bikesharing, Chancen für eine urbane Verkehrswende und die Neuverteilung von Flächen und Raum ging, sondern auch innerhalb der »Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität« manifestiert sich inzwischen ein ganz neues Verständnis. Eine wesentliche Funktion kommt dabei der im September letzten Jahres ins Leben gerufenen, neuen nationalen Plattform der Bundesregierung und ihren Arbeitsgruppen zu, die sich mit dem Thema »bezahlbare, nachhaltige und klimafreundliche Mobilität« befassen.
»Mehr Mobilität und bessere Luft in den Städten sind kein Widerspruch. Neue Antriebsformen, neue Mobilitätskonzepte für unsere Städte und die ländlichen Regionen, das ist unsere Zukunft«, so hieß bei der Gründung von Andreas Scheuer. Der erste Zwischenbericht der Arbeitsgemeinschaft Klimaschutz, der auch der ADFC angehört, zeigt die Einsparmöglichkeiten im Bereich CO2 bei einer Verlagerung auf den Radverkehr und betont, dass die Potenziale im Radverkehrsbereich bei weitem nicht ausgeschöpft seien. Dazu empfiehlt er konkrete Maßnahmen und Ziele.
Entsprechend folgerichtig ist damit der Auftritt von Andreas Scheuer als verantwortlichem Minister auf dem NRVK, die Vorlage von acht Zielen sowie die Ankündigung eines Nationalen Radverkehrsplans »NRVP 3.0« unter Beteiligung der Länder, Kommunen, Verbände und allen Interessierten.
Dazu Burkhard Storks Einschätzung zur Eröffnungsrede: »Der Minister fordert durchgängige Radwegenetze, höhere Strafen für das Zuparken von Radwegen, grüne Welle für den Radverkehr – und dass das Radfahren eine reine Lust statt ein Kampf ist. Das ist alles vollkommen richtig und entspricht unseren langjährigen Forderungen.«

Etappenziel erreicht – jetzt heißt es dranbleiben

Ein wichtiges Etappenziel scheint erreicht – oder zumindest in greifbarer Nähe. Aber nur Etappenziele wären ein fraglicher Erfolg. Albert Herresthal vom VSF betont, dass der Minister mit der Vorstellung seiner acht Leitziele positiv überrascht habe. »Aber wir sind auch nicht naiv. Entscheidend ist, was in nächster Zeit vom BMVI an konkreter Politik für den Radverkehr umgesetzt wird.« Es gebe Anzeichen, dass der Minister jetzt erkannt habe, dass er mit dem Thema Radverkehr punkten kann. Zugleich scheine es aber auch so, dass er den Radverkehr noch nicht ganz erfasst hätte, was sich durch die Überbetonung einzelner Themen (z.B. Fahrradhelme) bei gleichzeitiger Ignoranz anderer (z.B. Tempo-30 als innerörtliche Regel­geschwindigkeit) verdeutliche. Der Minister habe jetzt einige Gelegen­heiten zu zeigen, dass es ihm ernst mit dem Radverkehr sei. »Dazu gehört zum Beispiel die anstehende StVO-Novelle, die ja bereits im Koalitionsvertrag verankert war, aber auch die Erhöhung der Bußgelder für Radwegparker.« Auch Burkhard Stork vom ADFC wird dranbleiben und sieht weiteren Handlungsbedarf: »Jetzt kommt es drauf an, im Bundeshaushalt höhere Budgets für den Radverkehr herauszuholen – und das Verkehrsrecht fahrradfreundlich zu reformieren. Dann könnte es klappen, mit der neuen Lust am Fahrrad!«
Unter zukunft-radverkehr.bmvi.de können sich Interessierte übrigens direkt am neuen Nationalen Radverkehrsplan NRVP 3.0 beteiligen. Auch das ein Novum, wie das Ministerium bet

Die acht Leitziele des Verkehrsministers

Auf dem NRVK 2019 hat Bundesminister Scheuer seine acht Leitziele mit Beispielen für mögliche Maßnahmen vorgestellt:

Ziel 1: Lückenloser Radverkehr in Deutschland
Radwege sollten nicht mehr plötzlich an einer Kreuzung enden. Neben den Kommunen hat sich das Bundesverkehrsministerium (BMVI) zum Ziel gesetzt, möglichst viele Radwege an Bundesstraßen und Wasserstraßen zu bauen. Bei Neu- und Ausbau von Bundesstraßen soll in Zukunft deshalb immer geprüft werden, ob auch gleich ein begleitender Radweg gebaut werden kann. In Fällen, in denen das nicht der Fall ist, sollte dies künftig begründet werden.

Ziel 2: Vision Zero im Radverkehr
Wir brauchen breite, sichere Radwege, die im Idealfall auch klar vom Autoverkehr abgetrennt sind. Bei der Breite müssen wir daran denken, dass auch ausreichend Platz für neue Formen der Mobilität wie etwa Elektrokleinstfahrzeuge benötigt wird. Das BMVI plant höhere, wirksame Bußgelder für das unerlaubte Parken auf Schutzstreifen sowie für das Parken in zweiter Reihe.

Ziel 3: Urbaner Lastenverkehr wird Radverkehr
Experten schätzen, dass 20 Prozent des Lieferverkehrs per Rad abgewickelt werden können. Das sollte unser Ziel sein. Das heißt z.B. Platz für Lastenräder. Die Kommunen können aber auch Verteilzentren einrichten, von denen aus die letzte Meile zum Kunden per Lastenfahrrad gefahren wird.

Ziel 4: Deutschland wird Fahrrad-Pendlerland
Der Bund stellt 25 Millionen Euro jährlich für breite und sichere Radschnellwege bereit. Der Bund wird hier mit den interessierten Kommunen und Ländern pragmatische Lösungen finden, wenn die Hürden dort möglicherweise für zu hoch erachtet werden. Denn Angebot schafft Nachfrage. Wenn wir erst breite, schnelle und lange Radstrecken haben, werden auch mehr Pendler aufs Fahrrad steigen.

Ziel 5: Deutschland wird Fahrradstandort
Das BMVI wird z.B. zum Wintersemester 2020 erstmals Hochschul-Professuren fördern, die sich mit Radverkehrsthemen beschäftigen. Ziel ist es, Fachkräfte auszubilden, die ihr Know-how dann vor Ort in den Kommunen einbringen.

Ziel 6: Radverkehr wird intelligent, smart und vernetzt
Räder könnten in Zukunft einen Sender haben, über den sie mit den Ampeln und Fahrzeugen in der Umgebung kommunizieren können. Im Idealfall ist dann auf bestimmten Strecken eine grüne Welle für Radfahrer möglich und Autos können Radfahrer nicht mehr übersehen.

Ziel 7: Radverkehr erobert Stadt und Land
Darunter fallen auch die neuen Leuchtturmprojekte des BMVI, die in diesem Jahr erstmals mit insgesamt 20 Millionen Euro in den Kommunen gefördert werden können. Kommunen können sich noch in diesem Monat bewerben. Denkbar sind z.B. längere kreuzungsfreie Radverkehre in der Stadt mit Tunneln oder Brücken eigens für Radfahrer.

Ziel 8: Das Fahrrad im Zentrum moderner ­Mobilitätssysteme
Das BMVI arbeitet an einer Novelle der Straßenverkehrs-Ordnung, die den Radverkehr nutzerfreundlicher und damit noch attraktiver machen soll. Geplant ist z.B. ein Halteverbot auf Schutzstreifen. Das BMVI arbeitet außerdem daran, die Regelwerke und Handlungsempfehlungen zu überarbeiten, damit wir einheitliche und bessere Standards beim Radwegebau bekommen.

3. Juni 2019 von Reiner Kolberg
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