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Radical Ralf
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Portrait - Schwalbe

Radical Ralf

Die Marke Schwalbe hat einen hohen Bekanntheitsgrad – selbst außerhalb der Fahrradszene. Wie erreicht man das mit einem Verschleißteil, das vor einigen Jahren noch als absolut austauschbar galt?

Wir konzentrieren uns ausschließlich auf die Produktion von Fahrradreifen!« Der Unternehmenschef, der diese Leitlinie 1973 in Deutschland ausspricht, muss Mut haben. Das Fahrrad ist Anfang der 70er-Jahre vor allem ein Spielzeug für Kinder, eine Gokart-Alternative für Teens, wie etwa das Bonanzarad. Wer als Erwachsener einen Führerschein und in der auslaufenden Wirtschaftswunder-Ära etwas Geld hat, setzt sich ins Auto. Wer jung ist, fährt Mofa. Der Reifen? Ein Verschleißteil, wie viele andere namenlose Komponenten. Robustheit und Langlebigkeit? Diese Eigenschaften assoziierte damals niemand mit dem Pneu fürs Rad.
Doch Ralf Bohle, der 1955 von seinem Vater und seinem Onkel in das Unternehmen geholt wird, das im Bergischen Land östlich von Köln Fahrräder und Fahrradteile aus Asien importierte und vertreibt, glaubt daran, dass Fahrradreifen auch als Qualitätsprodukt vermarktet werden können. Ein Reifen, der besser sein soll als andere; länger hält, weniger Pannen hat.
Das Familienunternehmen Bohle, bestehend seit 1922, und das koreanische Familienunternehmen Hung-A gehen 1973 eine Partnerschaft ein, die bis heute hält. Hung-A stellt Reifen her; vor allem Fahrradreifen. Die Marke Schwalbe wird geboren, das Fünf-Jahres-Ziel von drei Millionen Reifen pro Jahr bereits nach zwei Jahren erreicht.
Wer Frank Bohle, den Sohn von Ralf Bohle und heutigen CEO der Bohle-Gruppe fragt, was den Erfolg der Marke Schwalbe ausmacht, erhält die Antwort ohne Zögern: »Die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Familienunternehmen Hung-A. Wir arbeiten sehr effektiv zusammen – auf der Grundlage von Vertrauen. Wir besuchen uns viermal im Jahr.« Bohle wirkt, als spräche er von guten Freunden. Was wohl auch der Fall ist.
Ebenfalls ein Erfolgsfaktor: Als Familienunternehmen spielt Bohle intern seine traditionellen Vorteile aus. Persönlicher Bezug auch über Hierarchieebenen hinweg und daraus resultierend ein höheres Maß an Vertrauen untereinander – auch durch tendenziell lange Betriebszugehörigkeit. »Bei uns gibt es Mitarbeiter, die schon 40 Jahre oder länger im Unternehmen sind«, erzählt Bohle nicht ohne Stolz.

Und läuft und läuft und läuft

1983 bringt Schwalbe mit dem Marathon einen Reifen auf den Markt, der den Qualitätsvisionen der zwei Unternehmen schon nahekommt. Spezielle Gummimischungen, spezielle zusätzliche Einlagen. Er setzt damals einen Benchmark für Langlebigkeit. 1995 zieht die Bohle GmbH ins neue Vertriebszentrum in Reichshof um. Auch hier zeigt sich die Weitsicht des Seniorchefs: Das neue Firmendomizil hat 40.000 Quadratmeter Fläche. Viel zu viel Platz, damals. Nicht mehr heute. 2001 der Big Apple: Eigentlich eine Wieder-Erfindung, die aber sehr wohlwollend aufgenommen wird: Balloon-Reifen. 2003 dann der Clou in puncto öffentlicher Wahrnehmung: Start der »Unplattbar«-Ära. Der Marathon erhält ein »Plus«: einen zusätzlichen Pannenschutzgürtel unter der Lauffläche. Damit kann er ohne Defekt Reißzwecken überrollen. Das bringt ihn sogar in die Publikumsmedien. Es folgt Schwalbes MTB-Initiative, Publikumswirksam dank Namenspersonifizierungen wie »Fast Fred«, Rennrad-Reifen mit speziellen Langlauf- und Leichtlauf-Eigenschaften. Schließlich ein neues Tubeless-System im Rennrad-Bereich und mit Procore eine tatsächlich einzigartige Innovation in Sachen MTB-Bereifung.

Die Entdeckung des Verbrauchers

Der Kunde soll in den Fachhandel gehen und ein ganz konkretes Produkt verlangen können – und dazu muss er es und seine Einzigartigkeit zunächst einmal kennen.
Sponsoring-Engagements für Weltreisende stellten den Einstieg in die Öffentlichkeitsarbeit für Schwalbe dar. Das Segment der Alltagspendler war jedoch Ende der 80er-Jahre noch äußerst überschaubar. Aber Familien, die sich am Wochenende beim gemeinsamen Radeln ins Grüne nicht den Spaß verderben lassen wollen, greifen zum Marathon.
Mit dem Big Apple erreichte man schon eine sehr breite Öffentlichkeit. Kein Wunder: Seine Optik sorgte beim Verbraucher für Aufmerksamkeit – und die erste Schwelle, sich auch für die funktionalen Vorteile des Reifens zu interessieren, ist genommen. Werbung, auch in Verbrauchermagazinen, bringt das Balloon-Bike voran.
Auch das ist nötig: Ein verlässlicher, von Vertrauen geprägter Zugang zur Branche. Denn je nach Variante des Big Apple benötigten die Rahmen der Räder deutlich breitere Durchläufe an Gabeln und Hinterbauten. Die Hersteller spielten mit, und genau betrachtet, passierte etwas sehr Ungewöhnliches: Eine neue Art von Fahrrad wurde gebaut, nur weil ein Reifenhersteller besondere Reifen entwickelt hatte. Im deutschen Fahrrad-Komponentenmarkt ist diese Herangehensweise lange Zeit einzigartig.
Für den Marathon Plus schließlich gibt es sogar Radio-Werbeclips. »Das war ein bewusster Schritt, die Maßnahmen zur Bekanntheit weiter hochzufahren«, erklärt auch Doris Klytta, bei Schwalbe zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing. Auch sie hat, wie viele im Unternehmen, die Leidenschaft fürs Radfahren im Blut, war jahrelang im deutschen Straßenteam der Frauen. Dass man in diesen Reifen große Hoffnungen setzte, verrät auch der Aufwand, ein eigenes Kunstwort zur wichtigsten Eigenschaft des Reifens zu kreieren: Unplattbar. Der Ausdruck ist geschützt, kein anderer Hersteller darf ihn benutzen – und sollte das auch nicht, will er Schwierigkeiten vermeiden.
Nicht zu vergessen: Die Ausstattung für den Fachhändler. Der bekommt zum Beispiel ein Querschnittmodell des Marathon Plus mir Reißzwecken. »Für den Händler ist der Marathon Plus der größte Umsatzträger überhaupt im Ersatzteil-Verkauf«, sagt Bohle stolz. »Er ist unser wichtigster Reifen, und die Marathon-Familie eindeutig unser Firmen-Rückgrat.«

Unser Partner, der Händler

»Die Händler waren zuletzt nicht immer zufrieden mit uns«, sagt Frank Bohle offen. Schwalbe hat in den letzten Jahren jeweils einen Umsatzsprung im zweistelligen Prozentbereich gemacht. Die Folge waren häufiger Lieferengpässe. Doch gerade bei den Neuheiten kam man schwer mit dem Liefern hinterher. »Das wird jetzt ganz anders«, verspricht der Unternehmer. Und mit dem neuen Werk, das er mit seinem koreanischen Geschäftspartner in Vietnam gebaut hat, gibt es Grund, das zu glauben. Im großen ersten Werk im indonesischen Jakarta kann man sich nun wieder voll und ganz auf die Produktion von Schwalbe-Reifen konzentrieren, während in Vietnam vor allem die Zweitmarke Impac und die preiswerteren Schwalbe Active-Line-Reifen herbestellt werden. »Impac lief in den letzten Jahren nur noch auf ganz kleiner Flamme. Aber es gibt einen Markt für sehr günstige Reifen, die nur auf die ‚Basistugenden’ von Schwalbe Reifen setzen« erklärt Bohle, »und ich kann mich dem globalen Markt nicht entziehen«, fügt er fast entschuldigend hinzu.
Schwalbe Reifen sind nur über den Fachhandel zu haben. Und der Weg dorthin führt grundsätzlich über den Großhandel. Diese Jahrzehnte alte Struktur wird auch in Zukunft erhalten bleiben, da ist Frank Bohle sicher. Auch im Großhandels-Bereich gibt es bekanntermaßen Konzentrationstendenzen. Die Großen schlucken die Kleinen. »Da schmerzt mir auch das Herz, wenn ich sehe, dass manche kleinen Großhändler im Wettbewerb nicht bestehen können«, so der Unternehmer.
Mit dem Shop-Konzept, das Schwalbe in den 90er Jahren einführte – auch das eine eher ungewöhnliche Verfahrensweise für einen Komponentenhersteller, fährt das Unternehmen weiterhin gut. »Bei Hilfsmitteln am Point of Sale werden wir noch zulegen«, kündigt Bohle an. Der Verkauf in Deutschland macht bei Weitem den größten Anteil des Gesamtumsatzes aus; zusammen mit den Niederlanden liegt er bei 65 Prozent, dann folgen Großbritannien, Frankreich, Italien und die Schweiz. In England und den Niederlanden und mittlerweile auch in den USA gibt es eigene Logistikzentren.

Rein und raus am gleichen Tag

»Zwei bis drei große 40-Fuß-Container voll mit Reifen werden hier pro Tag angeliefert«, Frank Bohle zeigt auf das offene Tor zur Laderampe, als wir durch das Herzstück des Logistikzentrums gehen. Hier gibt es vier Lagerhallen mit je 2.300 Quadratmetern. Die Kommissionshalle in deren Mitte hat nochmals knapp 4.000 Quadratmeter. Derzeit ist nicht mehr allzu viel Platz. »Im Moment haben wir hier eine gute Auslastung; wir sind voll in der Vorbereitung für die nächste Saison.«
Fast alle Schwalbe-Reifen, die in Asien produziert werden, kommen an diesem Umschlagplatz an – teilweise auch Reifen, die wieder nach Asien gehen. »Und manchmal geht die Ware am gleichen Tag schon wieder raus«, bestätigt Bohle.

Nicht dran bleiben – vorne sein

Vom Marktführer wird erwartet, dass er die technische Entwicklung mitbestimmt. Chefentwickler Markus Hachmeyer arbeitet eng mit Chemikern, Compoundern und sonstigen Fachleuten in Indonesien zusammen. »Natürlich ist ein guter Reifen immer ein Kompromiss«, sagt er. »Gewicht und Rollwiderstand werden minimiert, Haftung, Grip, Robustheit und Komfort maximiert. Wirklich perfekt kann ein Reifen in allen Eigenschaften nie sein!«
Der E-Bike-Reifen-Sektor wurde gerade kräftig ausgebaut: 44 verschiedene ECE-R75-zugelassene Reifen bietet Schwalbe 2016 an – eine Investition in die Zukunft, denn diese Norm ist für schnelle E-Bikes nötig, und die sind heute auf den Straßen noch eher rar. Doch OEMs vertrauen auf die psychologische Wirkung beim Kunden, wenn sie Schwalbe-Reifen mit der Kennzeichnung E-Bike-Ready bis 25 km/h aufziehen.
Im Rennrad-Bereich wird Schwalbe 2016 versuchen, tubeless auszubauen. Nicht einfach: Profis und ambitionierte Hobbyfahrer schwören vielfach auf den Schlauchreifen, für viele Hobbyfahrer ist der Umstieg vom konventionellen System aus Schlauch und Reifen zu teuer. „Doch Vorteile wie geringerer Rollwiderstand, höhere Pannensicherheit und mehr Komfort“, so Hachmeyer, sprachen dafür, dass auch die eher konservativ orientierten Rennradfahrer sich immer mehr überzeugen ließen.

Innovationen auf dem Prüfstand

Die Entwicklung braucht den Test. Drei Experten arbeiten im Schwalbe-eigenen Labor. Hier herrscht ein Stechen, Kratzen und Platzen, dass es des Entwicklers Freude ist. Ein Dutzend oft digital gesteuerte Prüfstände sind immer wieder in Aktion, in den letzten zehn Jahren hat man deutlich zugelegt. Die Bandbreite geht vom Rollwiderstand-Test bis hin zum Prüfstand für Tubeless-Reifen – hierbei wird zum Beispiel gemessen, wie viel Druck der Reifen aushält, bis er aus dem Felgenbett springt. Meist geht es aber nur mittelbar um die tatsächlichen numerischen Werte; »Wir vergleichen. Die Reifen werden den Wettbewerbern oder hauseigenen Produkten gegenübergestellt« so Hachmeyer. Der Aufwand ist teilweise hoch – nicht nur in der Messtechnik. In Kürze soll es sogar eine Straßenasphalt-beschichtete Trommel geben, worauf der Grip von Reifen getestet wird.
Welchen Unterschied die Laborsituation macht, lässt auch ein Abriebtest erahnen, bei dem Reifen auf Stahltrommeln laufen – einmal im Labor, einmal unter freiem Himmel, direkt neben dem Hauptgebäude. »Unter dem Einfluss von Wetter und Ozon kommen gleich ganz andere Ergebnisse zustande«, sagt der Entwickler. Apropos Ozon: Auf dem grünen Dach des Gebäudes gibt es zwei Ständer mit Reifendecken. Ohne, dass sie irgendwelcher mechanischer Belastung ausgesetzt wären, belegen die Pneus die zerstörerische Wirkung des Gases: Bei einfach aufgebauter Massenware zeigen sich nach spätestens zwei Wochen Rissen im Gummi der Seitenwand.
Auch mit Recycling-Ideen kommt Schwalbe immer wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit. Butyl, das Material, aus dem alle Schläuche des Unternehmens sind, lässt sich sehr gut recyceln. Heute schon besteht jeder Schwalbe-Schlauch zu 20 Prozent aus recyceltem Material. Fahrradhändler können die Schläuche sammeln und kostenlos nach Reichshof schicken. Hier werden sie gesammelt und dann nach Indonesien geschickt, wo die Schläuche devulkanisiert und ihre Bestandteile wieder dem neuen Produkt zugeführt werden. Schon vor 20 Jahren gab es ein Reifen-Recyclingsystem: Aus abgefahrenen Pneus wurden Fußmatten für besonders beanspruchte Räume – wie Fahrradwerkstätten – gefertigt. Zwar kamen die Matten beim Händler gut an, doch war das System zu kompliziert und kostspielig, die Nachfrage außerhalb der Branche zu gering, um das Verfahren auf Dauer beizubehalten. Auch beim E-Bike-Boom demonstriert Schwalbe Marktmacht. Viele OEMs setzen auf Reifen mit der Schwalbe-Kennzeichnung E-Bike-ready 25. Sie drückt die Tauglichkeit für die laut Unternehmen höhere Belastung auf dem Pedelec aus. Wichtig oder nicht: Der Verbraucher nimmt’s gern auf.
Trends aufnehmen und Trends ­setzen, liegen in diesem Fall eng zusammen.

20. Dezember 2015 von Georg Bleicher

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