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Rekorde ohne Jubel
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Markt - Schweiz

Rekorde ohne Jubel

Man stelle sich vor, John Degenkolb gewinnt die Frühjahresklassiker in Serie und bei keinem deutschen Radsport-Fan würden die Korken knallen. Obwohl schwer vorstellbar, trifft dieser Vergleich gerade sehr gut die Situation im Schweizer Fahrradmarkt. Denn trotz fantastischer Wachstumszahlen ist niemandem richtig zu Feiern zumute. Der Druck auf einzelne Fachgeschäfte ist zuletzt in verschiedenen Bereichen stark angestiegen.

Anlass zur Freude wären die aktuellen Branchenkennzahlen. Für die Saison 2018 können diese mit gutem Recht als historisch bezeichnet werden. Denn im vergangenen Jahr hat der eidgenössische Fahrradhandel gleich mehrere bedeutende Rekorde gebrochen und psychologisch wichtige Grenzen überschritten. So hat die Fahrradbranche im Einzelhandel einen Umsatz von umgerechnet rund 1,5 Mrd. Euro erwirtschaftet. Dies ist nicht nur der höchste je verzeichnete Umsatz mit Fahrrädern, Ersatzteilen, Zubehör und Service-Arbeiten im Schweizer Markt, mit diesem Rekordwert hat die Fahrradbranche erstmals auch mehr Umsatz erzielt als der Schweizer Sporthandel mit dem Verkauf und der Vermietung in allen andern Sportarten zusammen. Zudem stieg der Durchschnittspreis aller verkauften Räder auf den neuen Höchststand von umgerechnet 1855 Euro.

Wachstumsmotor ­E-Mountainbike

Für beide Entwicklungen gibt es einen gemeinsamen Hauptgrund, und der heißt E-Bike. Das Fahrrad mit Hilfsmotor erfreut sich im Pioniermarkt Schweiz auch nach zehn Jahren E-Bike-Boom nach wie vor stark wachsender Beliebtheit. So wurden 2018 bereits über 153.000 Stück in den eidgenössischen Markt geliefert, was einem Plus von 28 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Dank diesem neuen Höchstwert steigt der Marktanteil von Elektrofahrrädern aller Kategorien auf 30,2 % an. Lässt man noch die Kinderräder weg, ist bereits mehr als jedes dritte neu angebotene Fahrrad in der Schweiz (35,3 %) mit einem Zusatzantrieb ausgestattet. Die hohen Durchschnittspreise der E-Bikes haben dadurch den Branchenumsatz in den vergangenen Jahren kontinuierlich nach oben getrieben: 2018 übertraf das Marktvolumen von E-Bikes in Franken erstmals das der motorlosen Fahrräder. Mit einem Durchschnittspreis von umgerechnet 3594 Euro – auch dies ein neuer Spitzenwert - füllten sie 2018 die Kassen des Schweizer Fahrradhandels tüchtig.
Zu dem Wachstum beigetragen hat wesentlich das anhaltend fahrradfreundliche Wetter von April bis in den Herbst hinein. Traditionell spielt mildes und trockenes Wetter für den Saisonerfolg der Schweizer Fahrradbranche eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt die Tatsache, dass das E-Mountainbike unterdessen bei ­vielen Fahrradfreunden Anklang findet und entsprechend rege gekauft wird. 2018 wurden über 54.000 Stück davon in den Schweizer Markt geliefert, was eine Steigerung von über 50 % gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Viele Schweizer Gelegenheitsfahrer, die im letzten Jahr vom schönen ­Wetter in den Sattel gelockt wurden, leisteten sich nun ein geländetaug­liches Pedelec.

Konkurrenz aus den eigenen Reihen

Diese Tatsache ist bereits ein Hinweis darauf, warum in der Schweizer Fahrradbranche trotz anhaltendem E-Bike Boom nicht richtig Freude aufkommen will. Denn wer sich 2018 ein Elektrofahrrad leistete, verzichtete oft auf den Kauf eines motorlosen Fahrrades. Das zeigt sich deutlich darin, dass die Marktanlieferung von Fahrrädern trotz stolzem Wachstum im Pedelec-Segment um bescheidene 1,3 % auf eine Gesamtzahl von rund 507.000 Stück anstieg. Der Verkauf von Fahrrädern ohne Hilfsmotor ging gegenüber dem Vorjahr um 7,2 % zurück. Dieser Rückgang ist umso bemerkenswerter, wenn man das fahrradfreundliche Wetter der Saison 2018 in Erinnerung behält. Aus diesem Wachstum im Pedelec-Segment auf der einen und dem zeitgleichen Rückgang in den motorlosen Segmenten auf der anderen Seite kann also mit hoher Wahrscheinlichkeit gefolgert werden, dass das E-Bike dem herkömmlichen Fahrrad Marktanteile wegnahm. Für den Schweizer Markt ist dies eine neue Entwicklung. Bis 2017 war diese brancheneigene Konkurrenz für motorlose Fahrräder noch kaum von Bedeutung, die Verkäufe blieben trotz wachsender Nachfrage nach Pedelecs einigermaßen stabil. Das geringe gesamte Wachstum des gesamten Marktvolumens zeigt auch, dass es der Fahrradbranche trotz bester Rahmenbedingungen und einem offensichtlich attraktiven Produkt wie dem Pedelec 2018 kaum gelang, neue Kunden zu gewinnen.

Viel gearbeitet, wenig ­verdient

Auf den ersten Blick könnte der rekordhohe Branchenumsatz über diesen Umstand hinwegtrösten. Diese Sicht ist aber kurzfristig. Denn ohne zusätzliche Kunden zeichnet sich für die Fahrradbranche eine sehr harte Landung ab, sobald alle Radfahrer aufs Pedelec umgesattelt haben und eine Marktsättigung eintritt. Nimmt man hinzu, dass die Schweizer Bevölkerung auf eine Überalterung hinsteuert, ist ein rückläufiges Geschäft ohne neue Kundengruppen in absehbarer Zeit so sicher wie das Rad rund ist. Viel unmittelbarer getrübt wird die Freude am Spitzenergebnis aber durch die abnehmende Rentabilität. Für viele Fahrradhändler, aber auch ihre Zulieferer stieg 2018 der Geschäftsaufwand massiv an. Als zeitraubende Herausforderung entpuppte sich im Rekordjahr die unberechenbare Verfügbarkeit von Pedelecs. Vor allem E-Bikes und sportliche Fahrräder der gehobenen Kategorie waren früh ausverkauft oder konnten nur mit langen Wartezeiten nachgeordert werden. Selbst Vororder-Räder waren in der letzten Saison oft nicht zum angepeilten Zeitpunkt in den Geschäften. Vor allem auf die populären E-Mountainbikes und Elek­troräder mit integriertem Akku musste teils monatelang gewartet werden. Der Aufwand, den Überblick zu behalten und für Kaufinteressenten allfällige Alternativen zu organisieren, stieg dadurch in vielen Fachgeschäften sprunghaft an.
Immer aufwändiger gestalten sich auch Garantie- und Aftersales-Service. Zahlreiche Geschäfte, Importeure und Hersteller litten unter Produkt- und Montagefehlern der komplexeren, empfindlicheren Technik von Pedelecs und Highend-Sporträdern. Einzelne Händler berichteten, dass beinahe jedes vierte angelieferte Rad nachgearbeitet werden musste, damit es einwandfrei an den Endkunden übergeben werden konnte. Verschärft wird dieses Problem noch durch den akuten Personalmangel in der Fahrradbranche. Zum Saisonhöhepunkt waren 2018 schweizweit rund 260 Stellen im Fahrradhandel nicht besetzt. Etwa jedes sechste Fachgeschäft suchte im Laufe der Saison Verstärkung fürs Team, hauptsächlich für die Werkstatt. Viele schrieben aber ihre offenen Stellen gar nicht mehr aus, weil sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, auf diesem Weg noch geeignete Leute zu finden. Unter dem Mangel an Fachkräften litt die Schweizer Fahrradbranche schon zuvor, doch mit dem brummenden Geschäft der Saison und dem steigenden Aufwand erreichte das Problem einen neuen Höhepunkt.
Als weitere Herausforderung sieht sich der Handel mit sinkenden Margen konfrontiert. Besonders fällt das bei Elektrofahrrädern ins Gewicht, wo die Handelspannen üblicherweise geringer sind als bei motorlosen Fahrrädern und wo der Aufwand für Beschaffung und Aftersales-Service besonders stark anstieg. „Viel gearbeitet, wenig verdient“, lautete entsprechend die Schlussbilanz vieler Fachgeschäfte, Zum selben Schluss kamen aber auch zahlreiche Zulieferer, die letztendlich mit denselben Herausforderungen kämpften wie ihre Geschäftspartner im Einzelhandel.

Druck auf einzelne Anbieter wächst

Die schwache Rentabilität des Geschäfts ist nicht nur frustrierend, sie kann sich längerfristig zu einem ernsthaften Problem entwickeln. Denn der Schweizer Fahrradhandel steht vor großen Herausforderungen für die Zukunft, und um diesen begegnen zu können, sollte er Kapital für Investitionen bereit haben. Mit etwas Verzögerung macht sich unterdessen die Digitalisierung auch im Schweizer Fahrradhandel bemerkbar. Händler, die ihr Angebot nicht mehr zeitgemäß im Netz präsentieren können, tun sich zunehmend schwer, neue Kunden zu gewinnen. Und auch in der realen Welt sind die Ansprüche der Kundschaft an den Verkaufspunkt gestiegen. Das klassische Quartiergeschäft, das seit Jahrzehnten existiert und dem man sein Alter auch auf den ersten Blick ansieht, genügt immer weniger den Erwartungen der Radfahrenden an einen Ort, an dem sie mehrere Tausend Franken für ein teures E-Bike ausgeben möchten.
Der Handlungsbedarf ist dabei in den letzten Jahren stark angestiegen, weil verschiedene, hauptsächlich jüngere Player im Markt mit einem umfassenden Internetauftritt und ansprechenden Verkaufsstellen um die Gunst der Schweizer Fahrradkäufer buhlen. Dazu gehört unter anderem die Elektrorad-Kette M-Way oder auch der Direktvertreiber Ego Movement. Steigenden Druck auf die traditionellen Verkaufskanäle üben auch weitere expandierende Anbieter aus, wie die französische Ladenkette Veloland, die Anfang 2019 zwei weitere großflächige Geschäfte in der Schweiz eröffnete, die Fahrradfirma Colag, die ihre eigenen Marken Cilo und Allegro über ein wachsendes Netz eigener Verkaufsstellen verkauft oder der Discounter Décathlon, der im Laufe der letzten Monate die 23 Filialen des Schweizer Sportfachmarkts Athleticum übernahm und in eigene Geschäfte umbaute.

Gemischte Zwischenbilanz für 2019

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Zahlen von 2018 nicht mehr so leicht halten oder sogar übertreffen lassen. Die Fahrradsaison 2019 begann in der Schweiz zwar deutlich früher als im Vorjahr, eine ungebrochen hohe Nachfrage nach Pedelecs und höhere Verfügbarkeit gefragter Modelle sorgte ab Februar dafür, dass viele Händler schon mit einem Plus ins neue Jahr starten konnten. In den wichtigen Monaten April und Mai zog das Wetter dem Fahrradhandel aber einen Strich durch die Rechnung, und manche Händler mussten empfind­liche Einbrüche gegenüber dem Vorjahr verzeichnen. Ob diese bis Ende der Saison wieder aufgeholt werden können, lässt sich momentan noch nicht mit Bestimmtheit sagen und ist auch stark von der individuellen ­Situation der einzelnen Geschäfte abhängig. Fest steht aber bereits jetzt, dass der Schweizer Fahrradmarkt 2019 kaum nochmals mit so hohen Raten wachsen wird wie im Vorjahr. Und damit ist auch unsicher, ob der Handel in der Lage sein wird, mehr Kapital für seine Erneuerung beiseite zu legen.

27. August 2019 von Urs Rosenbaum
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