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Risse im  Paradies
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Markt - Schweiz

Risse im Paradies

Die Schweiz gilt – nicht nur, aber auch – im europäischen Fahrradhandel als Land, in dem Milch und Honig fließen. Die eidgenössischen Radfahrer gelten als qualitätsbewusst und deutlich weniger preissensibel als beispielsweise ihre Gesinnungsgenossen in den Nachbarländern. Doch in den letzten Jahren haben sich einige Risse im Branchen-Paradies aufgetan.

Der Schweiz eilt der Ruf voraus, dass hier vieles einfacher und unkomplizierter gehandhabt wird, als im Rest von Europa. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Fahrradmarkt sind im Vergleich zu Deutschland zum Beispiel äußerst liberal. So wird der Konsumentenschutz deutlich weniger strikt ausgelegt als im deutschen Handel, und die VTS, das Gegenstück zur StVZO, lässt den Herstellern seit Jahren deutlich mehr Handlungsspielraum bei der technischen Ausrüstung von Fahrrädern, beispielsweise beim Einsatz von Batteriebeleuchtung oder bei den Regeln, wie schnell und stark Pedelecs und E-Bikes gebaut werden dürfen. Nicht umsonst ist die Schweiz dadurch auch zu einem Pionierland für Elektromotor-unterstützte Fahrräder geworden. Der Boom setzte in der Eidgenossenschaft rund drei Jahre früher als in Deutschland ein, Elektroräder besitzen bereits einen Marktanteil von mehr als 13 % in Stückzahlen und tragen im Fachhandel bereits zu mehr als einem Drittel des Verkaufsumsatzes bei. Mit dafür verantwortlich ist, dass dank der liberalen Zulassungsvorschriften jedes fünfte verkaufte Elektrorad der schnellen Kategorie mit Tretunterstützung bis 45 km/h und Motorleistung bis 1000 Watt zugeordnet werden kann. Für diese zugkräftigen Modelle wird nochmals deutlich tiefer in die Tasche gegriffen als für herkömmliche Pedelecs, bei denen eine Tretunterstützung bis 25 km/h und eine Motorleistung bis 500 Watt erlaubt ist.

Kaufkräftige Eidgenossen

Nicht nur Elektroräder sind den Eidgenossen etwas wert: Über alle nichtmotorisierten Kategorien hinweg lässt der Schweizer im Schnitt umgerechnet über 1000 Euro pro Fahrrad auf der Ladentheke liegen. Verschiedene internationale Markenhersteller bestätigen, dass sie in keinem anderen Land gemessen an ihrem Gesamtabsatz so viele hochwertige Modelle verkaufen. Zudem gilt der Schweizer Markt im Vergleich zu den Nachbarländern als verhältnismäßig preisstabil. Internationale Versender tun sich schwer mit Lieferungen in die Schweiz, weil das Land im Herzen von Europa nicht Teil der EU ist und dadurch der Warentransport und die Zahlungsabwicklung über die Grenze wesentlich komplizierter und teurer sind. Nur wenige einheimische Onlineshops konnten mit kompletten Fahrrädern bisher Fuß fassen, zum Qualitätsgedanken der Schweizer Kunden gehört auch, dass sie eine gewisse Sicherheit beim Service nach dem Kauf suchen. Bezeichnenderweise ist der Onlineanbieter simpel.ch mit seinen als besonders wartungsarm angepriesenen Citybikes seit Jahren der erfolgreichste Versender im Schweizer Fahrradmarkt.
In den letzten drei Jahren hat das paradiesische Bild allerdings Risse erhalten. 2011 erwies sich die eisern verteidigte eigene Währung für den gesamten Schweizer Detailhandel als Nachteil. Als der Euro wegen der Schuldenkrise ins Trudeln geriet, sackte dessen Wechselkurs zum Schweizer Franken innerhalb weniger Monate ab. Das Minus betrug zwischenzeitlich bis zu 20 %. Die Folgen für den Schweizer Fahrradhandel, der wie üblich einen großen Teil seines Saisongeschäfts saisonal einkauft und kalkuliert, waren dramatisch: Ohne feilschen zu müssen, konnten Schweizer Konsumenten in ein Fachgeschäft in Deutschland fahren und dort viel Geld sparen. Weil ihnen bei der ordentlichen Deklaration am Zoll noch die Mehrwertsteuerdifferenz von 11 % gutgeschrieben wurde, konnten sie identische Fahrräder um bis zu 40 % günstiger als im heimischen Fachhandel erwerben. Begünstigt wurde der Einkaufstourismus durch eine Kampagne in den Schweizer Tagesmedien, die über alle Einzelhandelsbranchen hinweg Preisvergleiche anstellten und nicht müde wurden, die Sparmöglichkeiten hervorzuheben. Zudem witterten auch verschiedene grenznahe deutsche Fachhändler das Geschäft mit den für sie unkomplizierten Schweizer Kunden und bewarben ihr preisattraktives Angebot aktiv über die Grenzen hinweg. Das wirkte: In einem zeitnahen Bericht des Schweizer Fernsehens ließ sich ein Fahrradhändler aus Konstanz damit zitieren, dass er in den Sommermonaten 2011 rund 20 % seines Umsatzes mit eidgenössischen Einkaufstouristen erzielte.

Staat und Branche steuern gegen

Zur Saison 2012 beruhigte sich die Situation an der Währungsfront wieder etwas. Zum einen hatte die Nationalbank Maßnahmen zur Stabilisierung der Wechselkurse ergriffen, zum andern hatten Hersteller und Importeure mit wenigen Ausnahmen ihre Preise deutlich nach unten korrigiert. Die mediale Kampagne des Vorjahres hatte aber Spuren hinterlassen. In praktisch allen Einzelhandelssparten stellen Marktexperten fest, dass die Konsumenten deutlich preissensibler geworden sind und selbstbewusster auftreten. Wenn sie schon bereit sind, viel Geld auszugeben, so wollen sie dafür auch etwas geboten bekommen. Und sie scheuen sich weniger, den Preisvergleich als Druckmittel im Verkaufsgespräch anzuwenden. Die Umsätze, welche alleine durch die Preissenkungen schon um rund 12 % zurückgingen, gerieten durch die zusätzlichen Rabattforderungen weiter unter Druck. Was der Fahrradhandel so in zähen Verhandlungen wieder vom Ausland zurückgewinnen konnte, machte ihm das Wetter wieder zunichte: Der Saisonstart 2012 fiel buchstäblich ins Wasser und dämpfte die Lust auf neue Räder spürbar. 2013 kam es sogar noch schlimmer. Von Januar bis Ende Mai wurden in der Schweiz rund die Hälfte der normalen Sonnenstunden gezählt, so wenige wie nie zuvor in 50 Jahren. Gemäß ersten Schätzungen von Brancheninsidern ging der Fahrradabsatz im ersten Halbjahr 2013 um weitere 10 bis 15 % gegenüber dem bereits unbefriedigenden Vorjahr zurück. Die Folgen können auch in der Importstatistik der eidgenössischen Zollverwaltung abgelesen werden: 2012 gingen die Importe von Fahrrädern ohne Hilfsmotor um 15,5 % zurück. Weil Pedelecs nochmals leicht mehr Käufer fanden und die einheimischen Hersteller mit ihrem bescheidenen Marktanteil von 8,4 % erfolgreicher wirtschafteten als der Gesamtmarkt, ging der Gesamtmarkt nicht ganz so dramatisch zurück. Das Schweizer Branchenmagazin Cyclinfo errechnete aufgrund der Zollzahlen und eigener Markterhebungen einen Rückgang der Inlandanlieferung um 12,5 % auf 434.500 Fahrräder mit und ohne Hilfsmotor. Ein Teil des Rückgangs dürfte auch damit zu erklären gewesen sein, dass der Schweizer Handel Anfang 2011 großzügig eingekauft hatte und im Folgejahr noch zahlreiche Lagerbestände abgebaut wurden.

Neue Marktteilnehmer ­drängen in die Branche

Erschwerend kam in den letzten drei Jahren für den eidgenössischen Fahrradhandel hinzu, dass der Wettbewerb auch unabhängig von Einkaufstourismus und Wetterpech härter wurde. Angelockt von den positiven Marktbedingungen in den Vorjahren und dem Elektrorad-Boom drängten zahlreiche neue Unternehmen auf allen Handelsstufen auf den Markt. Aktuell buhlt eine Rekordzahl von über 180 Fahrradmarken um die Gunst des Fachhandels, im Elektrorad-Segment explodierte die Zahl der Anbieter innerhalb von drei Jahren gemäß einer Zählung der Branchenberatungsfirma LBU Schweiz von knapp 50 auf über 110. Verschiedene Quereinsteiger drängten während dieser Zeit in den Fahrradmarkt, allen voran die Migros. Der größte Schweizer Handelskonzern stieg mit seiner Elektromobilitätskette M-Way in den Markt ein, die in 36 Monaten acht Zweigniederlassungen eröffnete. Beteiligt ist die Migros zudem auch am Onlinewarenhaus galaxus.ch, das innerhalb weniger Monate ein viel beworbenes Fahrrad- und Teileangebot aus knapp 20.000 spitz kalkulierten Markenprodukten aufbaute. Beflügelt von der gestiegenen Preissensibilität der Schweizer Kunden schalteten auch verschiedene kleinere Internethändler neue Onlineshops auf. Diese arbeiten teilweise so preis­aggressiv, dass sie bei Zubehör und Komponenten gemäß eines Vergleichs des Konsumentenmagazins K-Tipp sogar bekannte deutsche Discounter ausstechen.
Doch auch unter den traditionellen Fachhändlern beginnt der Verdrängungswettbewerb stärker zu werden. Zahlreiche Fahrradfachgeschäfte ergriffen seit 2010 die Flucht nach vorne und eröffneten teilweise unabhängig, teilweise mit Unterstützung ihres wichtigsten Fahrradlieferanten neue, großflächigere Verkaufslokale. Zu einem Teil wurde damit ein Investitionsrückstand aufgeholt. Denn im Vergleich zum deutschen Handel sind die Schweizer Berufskollegen nach wie vor sehr kleinräumig organisiert. Aktuell werden die landesweit acht Millionen Einwohner von rund 1800 meist kleineren Fahrradfachhändlern bedient. Prägend für die Fachhandelslandschaft sind kleine Geschäfte mit weniger als 250 Quadratmetern Gesamtfläche, die einer bis drei Fachkräften Arbeit bieten, Inhaber mit eingerechnet. Die Rechnung der ausgebauten, doppelt bis viermal so großen Fachgeschäfte kann logischerweise nur aufgehen, wenn sie auch mehr Umsatz erzielen. Und da dieser aktuell nicht durch ein Wachstum des gesamten Marktvolumens erzielt werden kann, läuft diese Entwicklung zwangsläufig darauf hinaus, dass sie zulasten von anderen Markteilnehmern gehen wird.
Von einer Marktbereinigung ist bis jetzt im Schweizer Fahrradfachhandel aber noch wenig zu spüren. Zwar stieg in den letzten drei Jahren die Verunsicherung und Anspannung im Handel, doch Verkäufe und Konkurse haben bisher das langjährige Mittel noch nicht auffällig überschritten. Zu einem Teil verdankt das der Schweizer Fachhandel seinen überschaubaren Strukturen: Händler mit geringeren Personalkosten haben mehr Spielraum, um eine längere Durststrecke zu überstehen. Zudem können viele traditionelle Fachhändler ihre Fixkosten tief halten, weil sie das Geschäft in einer eigenen Liegenschaft betreuen. Und nicht zuletzt funktionieren auch die teilweise jahrzehntealten Geschäftsbeziehungen mit den Lieferanten noch ausgezeichnet. Diese hatten oft zu Lasten ihrer eigenen Rendite die Preise gesenkt oder Preiserhöhungen der Hersteller nicht an den Markt weitergegeben, um die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Handels im internationalen Vergleich wieder herzustellen. Besonders die Fahrradlieferanten ließen ihre treuen Stützpunkthändler nicht hängen und zeigten sich in vielen Fällen bei der Auslieferung der Vororder oder bei den Zahlungszielen hilfsbereit. Sie übernehmen damit zwar kurzfristig ein größeres Risiko, sichern sich aber längerfristig eine gewisse Verbundenheit der Handelspartner, die sich schon im Frühjahr 2014 auszahlen kann, wenn dann endlich der Saisonstart nicht mehr im Regen ertrinken sollte.

17. August 2013 von Urs Rosenbaum
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