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Radverkehr - Ampelsteuerungen

Schneller Grün per App

Smarte Lösungen können auch Radfahrenden leicht eine Grüne Welle verschaffen. In den Niederlanden sind sie längst Alltag. In Deutschland ist ihr Einsatz noch die Ausnahme.

Von einer grünen Welle träumen viele Radfahrerinnen und Radfahrer. In Deutschland winken Verkehrsplaner bei dieser Forderung jedoch schnell ab. Schließlich hat laut Straßenverkehrsordnung der motorisierte Autoverkehr Vorrang vor allen anderen Verkehrsteilnehmern. Das ist in den Niederlanden anders. Dort werden längst verschiedene Systeme genutzt, um Fahrradpendlern lästige Stopps an jeder Kreuzung zu ersparen. Sie heißen »Flo« und »Schwung« und sind in verschiedenen Städten im Einsatz. In Deutschland sind diese smarten Lösungen noch die Ausnahme.

Hase oder Igel? Radfahrer bekommen beim Fietsflo-System angezeigt, was sie an der nächsten Ampel erwartet und wie sie in die Pedale treten müssen, um flüssig die nächste Grünphase zu erreichen.

Dabei gehörte die Unistadt Marburg auf diesem Gebiet zu den Vorreitern. 2016 hat sie in einem Pilotversuch die SiBike-App getestet. In der Praxis sieht die Grüne Welle so aus: Sobald Radfahrer mit aktivierter App auf die Ampel zufährt und eine virtuelle Auslöselinie passiert, erhält der Verkehrsrechner von der App ein Signal und sendet einen Priorisierungswunsch an die Ampel. Im besten Fall bekommt das Fahrrad sofort Grün. Alternativ schaltet sie bis zu sechs Sekunden früher auf Grün oder verlängert die Grünphase. »Für den Verkehrsingenieur, der die Lichtsignalanlage programmiert, ist der Aufwand gering«, sagt Michael Hagenbring von der Marburger Straßenverkehrsbehörde. Er muss nur das Software-Modul aktivieren, das Siemens Mobility standardmäßig bereitstellt, die zusätzlichen Sekunden eingeben und die virtuellen Auslöselinien vor der Ampel programmieren. Inzwischen sind 17 Kreuzungen für SiBike freigeschaltet, und mit jedem fälligen Ampeltausch werden es mehr.

Effektive Verbesserung der Verkehrssituation

Der Effekt für den Radverkehr ist groß. Die Verkehrsforscher der Technischen Universität München haben festgestellt: Auf der 700 Meter langen Teststrecke verringerten sich die Stopps an den sieben Kreuzungen um bis zu 44 Prozent. Dadurch waren die Radler und Radlerinnen um bis zu 31 Prozent schneller. Selbst der motorisierte Verkehr profitiert von SiBike. Während der Hauptverkehrszeit sank seine durchschnittliche Fahrzeit um rund 28 Prozent. In Gegenrichtung, wo kaum Fahrzeuge unterwegs waren, erhöhte sie sich dagegen um etwa 47 Prozent. Einen ähnlichen Effekt beobachteten die Wissenschaftler auch in der Nebenverkehrszeit. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich, den Verkehrsforscher Georgios Grigoropoulos, der das Pilotprojekt betreut hat, wundern die Zahlen nicht. »Bei wenig Verkehr sind die Autos dort deutlich schneller unterwegs und ein Stopp wirkt sich stärker aus«, erklärt er. Dieser Effekt fließt in die Bewertung ein. Trotzdem zeigen die Untersuchungsergebnisse laut Grigoropoulos: »SiBike hat die Verkehrssituation für den motorisierten Individualverkehr im Marburg nicht signifikant verschlechtert.«
Die Planer und die Politik in Marburg hat das Ergebnis überzeugt. Zu den vorhandenen 17 Kreuzungen, die für SiBike freigeschaltet sind, sollen weitere hinzukommen. Die einzige Einschränkung ist die Infrastruktur. »Damit SiBike eingerichtet werden kann, muss an den Knotenpunkten ein Radweg oder Radfahrstreifen vorhanden sein oder markiert werden dürfen«, sagt Hagenbring. Im kalifornischen Fremont und im schwäbischen Reutlingen ist die SiBike-App nun ebenfalls im Einsatz.
In den Niederlanden ist die Grüne Welle schon vielerorts Alltag. Wie in Deutschland wächst auch dort der Gesamtverkehr stetig. Deshalb entwickeln und testen die Städte immer wieder neue Systeme, um den Radfahrenden das schnelle Passieren der Knotenpunkte zu erleichtern. In Utrecht, Eindhoven und Antwerpen zeigen Displays am Radweg den Fahrradfahrern an, wie stark oder verhalten sie in die Pedale treten müssen, um die nächste Ampel bei Grün zu erwischen. Dazu erfassen Sensoren hundert Meter vor Ampel ihre Geschwindigkeit.
In ’s-Hertogenbosch, 80 Kilometer südlich von Amsterdam, wurde 2018 mit »Schwung« ein Pendant der SiBike-App eingeführt. In der 155.000 Einwohner-Stadt sind seitdem alle 50 Kreuzungen, die mit Fahrradampeln arbeiten, für die Schwung-App freigeschaltet. Anders als in Marburg bekommen Radfahrer dort selbst für vier Sekunden Grün, wenn der Überweg kurz ist und der Verkehr es zulässt. In Eindhoven, Dordrecht, Almere und Emmen wurde die Schwung-App bereits ebenfalls eingeführt.

Die Schwung-App kommuniziert mit angeschlossenen Fahrradampeln. Das System steuert dann möglichst effektiv den Radverkehr.

Laut Apong Boogaard, Sprecherin von Vialis, einem niederländischen Unternehmen, das die Schwung-App mitentwickelt hat, sollen in diesem Jahr noch weitere Städte folgen.

Moderner Radverkehr geht mit und ohne App

Alexander Hunger, Mobilitätsexperte am Deutschen Institut für Urbanistik, zieht die Grüne Welle per Infrastruktur allerdings jeder App-Lösung vor. »Eine moderne Radinfrastruktur, die sicher und barrierefrei ist, liefert die Grüne Welle durch kleine Kreisverkehre oder separat geführte Velorouten gleich mit«, sagt er.

»Die Standardhaltung ist hier immer noch ›Auto first‹, alles andere muss sich unter-ordnen«

Stephanie Krone vom ADFC zur Radverkehrssteuerung
in Deutschland

Sie sei für alle verfügbar und nicht von Apps abhängig. Noch sind solche Vorrangrouten für Radfahrerinnen und Radfahrer in den Innenstädten allerdings eine
Seltenheit. Standard sind Ampelschaltungen, die für Straßenbahn und Auto-verkehr optimiert sind, wie der stadtauswärts führende Straßenzug Mollstraße/Landsberger Allee in Berlin. »Radfahrende müssen hier an fast jeder Ampel halten«, sagt Hunger.
Er ist dort regelmäßig unterwegs. Im Normalfall braucht der trainierte Alltagsradler für eine Strecke von fünf Kilometern zwischen 10 bis 15 Minuten. In der Landsberger Allee muss er oder sie für diese Entfernung – mit 17 Ampeln – mindestens 10 Minuten mehr einplanen. Dabei gilt das Fahrrad auf dieser Distanz in den Zentren als unschlagbar schnell. Sein Potenzial kann das Fahrrad auf dieser Straße aber nicht entfalten. Das wäre nur mit einer stationären oder dynamischen Grünen Welle für Radfahrerinnen und Radfahrer möglich.
In Amsterdam wollten die Verkehrsplaner 2019 mit einem vierwöchigen Feldversuch die problematischen Situationen für Radfahrer und Radfahrerinnen möglichst umfassend erfassen. Dazu haben sie mit dem Fahrradverband Fietsersbond 700 Radfahrer und Radfahrerinnen mit Ping-Buttons von Bike Citizens ausgestattet. Das ist ein Meldesystem, über das Radfahrer und Radfahrerinnen während der Fahrt Problemstellen in der Stadt markieren können. 44.000 Stellen haben die Teilnehmer in der Stadt identifiziert, darunter war eine Vielzahl an Kreuzungen. Die Planer reagierten schnell. Noch im selben Jahr wurden auf einer der Hauptrouten Amsterdams an zwei Knotenpunkten die Grünphasen für den Radverkehr zulasten des Autoverkehrs verlängert.
Immer wieder nutzen die Niederländer auch exotische Wege, um Radler sicher und schnell durch die Stadt zu lotsen. In Groningen bekommen an einer besonders unfallträchtigen Kreuzung alle Radfahrer aus allen Richtungen gleichzeitig Grün, während alle Autos warten müssen. Untersuchungen zeigen, dass mit dieser Lösung deutlich mehr Radfahrer über die Kreuzung kommen als zuvor. Ein weiterer Effekt: Die Radfahrer werden nicht nur schneller, sondern sie werden auch vor Abbiegeunfällen mit Autos geschützt.

Passgenaue Lösungen sind bereits heute verfügbar

Diese Flexibilität in der Verkehrsplanung ist nur möglich, weil in den Niederlanden der Radverkehr dem Autoverkehr gleichgestellt wird. Diese Gleichberechtigung macht es den Planern möglich, Radfahrer auf den schnellsten Weg durch die Stadt zu lotsen. Smarte Konzepte mit Apps, Sensoren oder Chips liefern dafür passgenaue Lösungen.
In Deutschland ist die Priorisierung des Radverkehrs immer noch schwierig. »Die Standardhaltung ist hier immer noch ›Auto first‹, alles andere muss sich unterordnen«, sagt die verkehrspolitische Sprecherin des ADFC, Stephanie Krone. Aus ihrer Sicht kann das so nicht weitergehen. »Im Fahrradland, das die Bundesregierung anstrebt, muss sich dieses Paradigma wandeln.« Damit das Pendeln mit Fahrrad oder E-Bike richtig attraktiv werde, müssten die Radfahrer und Radfahrerinnen ohne ständiges Abbremsen durch die Stadt kommen. Bis es so weit ist, müssen Radfahrerinnen Zeit mitbringen ­­‑ das Stopp and Go kann ihre Fahrzeit auf der Strecke immer noch leicht verdoppeln.

8. Juli 2021 von Andrea Reidl
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