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Report - Fahrradmarkt Schweiz 2022/2023

Spätfolgen der Covid-Pandemie wirken lange nach

Nach dem berauschenden Erfolg in den beiden Vorjahren brachte die Saison 2022 dem Schweizer Fahrradhandel eine große Ernüchterung. Lieferprobleme und nachlassende Kauflaune bremsten den Markt empfindlich aus. Die richtig große Belastungsprobe steht dem Schweizer Fahrradhandel aber noch bevor.

Covid prägte den Schweizer Fahrradmarkt 2022 zum dritten Mal in Folge. Die Pandemie hinterließ aber nicht mehr so direkte Spuren wie in den beiden Jahren zuvor, als Schutzmaßnahmen und Nachfrageboom das Tagesgeschäft stark beeinflussten. »Weniger direkt« bedeutete für den Schweizer Fahrradhandel aber nicht »weniger einflussreich«. Denn die covidbedingten Lieferprobleme der Fahrradindustrie schlugen sich 2022 erst richtig an der Verkaufsfront nieder.
Im ersten Covid-Jahr spielten Lieferengpässe zwar auch schon eine Rolle, doch weil der Einzelhandel und zahlreiche Importeure ihre Lager auflösten, beschränkte sich die Warenknappheit auf einzelne Produkte. Im zweiten Jahr erhielten die meisten Fahrradgeschäfte noch einen Großteil der Ware, die sie vorbestellt hatten. Und weil sie dank der hohen Nachfrage in der Saison 2020 über leere Lager und volle Kassen verfügten, langten sie tüchtig zu. Der Schweizer Fahrrad-Einzelhandel konnte dadurch 2020 und 2021 die höchsten Umsätze seiner Geschichte verzeichnen. Sie stiegen zum allerersten Mal über die Marke von 2 Milliarden Franken (rund 2,05 Milliarden Euro).

Verfügbarkeit und Konsumentenstimmung sacken ab

2022 verschlechterte sich die Verfügbarkeit dann rasant. Weil Konsumentinnen und Konsumenten im Vorjahr nochmals fleißig Fahrräder und E-Bikes gekauft hatten, konnten die Lager kaum wieder aufgefüllt werden. Und von der neuen vorbestellten Ware traf sehr viel erst nach dem eigentlichen Saisonhöhepunkt ein. Ein Blick in die offizielle Zollstatistik verdeutlicht dies: Vor der Pandemie trafen rund 60 Prozent aller in die Schweiz gelieferten Fahrräder in der ersten Saisonhälfte ein. 2022 waren es nicht einmal ganz 50 Prozent. Bei Pedelecs zeigte sich ein ähnliches Bild mit einem Verhältnis von 45 zu 55 Prozent (vor der Pandemie: 55 zu 45 Prozent). Auf den ersten Blick mögen diese Unterschiede nicht sehr groß erscheinen. An der Verkaufsfront wirkten sie sich aber vor allem im Fachhandel fatal aus. Denn dieser fokussiert sich stark auf hochwertige Räder, und diese waren wesentlich stärker von den Lieferverzögerungen betroffen als die preiswerten Modelle, die in der Schweiz hauptsächlich von Sport- und Baumärkten angeboten werden. Auch dies zeigt sich in der Importstatistik: Die Einfuhren von preiswerten Fahrrädern und Pedelecs aus bedeutenden Produktionsländern wie Bangladesch, China, Portugal oder Rumänien erreichten noch im ersten Halbjahr ihren Höhepunkt. Die Importe hochwertiger Fahrräder und Pedelecs aus Deutschland, Italien, Taiwan oder Vietnam trafen oft erst zu den Sommerferien oder sogar noch später ein.

Rekordpreise werten die Schlussbilanz auf

Erschwerend kam hinzu, dass sich die Kauflust 2022 deutlich abschwächte. Die Konsumentenstimmung brach zwar nicht so stark ein wie in Deutschland und anderen Nachbarländern, doch der Krieg in der Ukraine, steigende Lebenshaltungskosten und eine drohende Energiekrise für den Winter 2022/2023 drückten spürbar auf die Ausgabefreudigkeit. Dass der Fahrradhandel dennoch mit einem blauen Auge die verkorkste Saison 2022 abschließen konnte, verdankt er mehreren Faktoren. So lockte das anhaltend schöne Wetter vom späten Frühjahr bis in den frühen Herbst viele Leute in den Sattel. Das entschärfte einerseits die Kaufzurückhaltung und verschaffte andererseits den Werkstätten Höchstumsätze. Denn die 2020 und 2021 verkauften Fahrräder wurden 2022 auch rege genutzt, was zu einem erhöhten Service-Bedarf führte. Die Aufschläge bei den Preisen sorgten dafür, dass die durchschnittlichen Verkaufspreise für Fahrräder und Pedelecs im Schweizer Markt nochmals kräftig wuchsen.

Traumhaftes Sommerwetter und hochwertige SUV-Pedelecs waren die raren Lichtblicke des Schweizer Fahrradhandels 2022.

Die ohnehin schon europaweit einzigartig hohen Werte im Schweizer Fahrradmarkt stiegen 2022 auf umgerechnet 1531 Euro für Fahrräder und 4575 Euro für Pedelecs. Beflügelt wurde diese Preissteigerung auch davon, dass sich besonders hochwertige Gravelbikes, E-Mountainbikes und sogenannte SUV-Pedelecs steigender Nachfrage erfreuten. Auch die Nachfrage nach Cargobikes legte auf tiefem Niveau zu. Mit einem Marktanteil von weniger als 2 Prozent des Gesamtmarkts ist diese zukunftsweisende Kategorie immer noch weit entfernt vom Erfolg in Deutschland.

Wenig Freude trotz drittbestem Ergebnis

Dank dieser Marktrends konnte der Schweizer Fahrrad-Einzelhandel 2022 seinen Umsatz knapp über der 2-Milliarden-Grenze halten. Gegenüber dem Vorjahr ging er aber um 10,1 Prozent zurück auf 2,05 Milliarden Franken (ca. 2,1 Milliarden Euro). Dies ist das drittbeste Ergebnis der Fahrradbranche nach den Jahren 2020 und 2021. Der Wert liegt damit auch immer noch etwas über dem Niveau von 2019, der letzten Fahrradsaison ohne Covid-Einflüsse. Dabei kamen aber bei Weitem nicht alle Schweizer Fahrradverkäufer gleich gut durch die Saison. Viele Fachhändler erlitten einen Umsatzrückgang von 15 bis 20 Prozent. Einzelne mussten sogar noch höhere Umsatzeinbußen in Kauf nehmen, abhängig von der Lieferfähigkeit ihrer Handelspartner. Auf der anderen Seite gibt es Geschäfte, die selbst in diesem schwierigen Marktumfeld noch zulegen und ihre Rekordumsätze der beiden Vorjahre nochmals übertreffen konnten.
Nach den zwei fetten Vorjahren hätte der Schweizer Fahrradhandel wohl sehr gut mit dem durchwachsenen Ergebnis des Geschäftsjahres 2022 leben können. Hätte, weil das vergangene Geschäftsjahr sehr stark das laufende beeinflusst. Am stärksten wirken dabei die verzögerten Lieferungen nach: Sehr viele Fahrräder und Pedelecs wurden 2022 so spät geliefert, dass diese bei Schweizer Händlern und Importeuren nicht mehr im gleichen Jahr abgesetzt werden konnten. Die Lagerbestände, die beim Übergang von 2021 auf 2022 noch praktisch bei null waren, schossen zum Übergang von 2022 auf 2023 innerhalb weniger Monate zum Saisonende hoch auf mehr als ein Viertel der gesamten Inlandanlieferung: 2022 wurde die Rekordmenge von 623.700 Fahrrädern und Pedelecs importiert oder von einheimischen Herstellern gebaut. Davon blieben zum Saisonende noch rund 175.000 Stück in den Lagern der Schweizer Branche hängen.

Saisonstart 2023 fällt ins Wasser

Allein diese Menge belastet den Handel stark, denn sie bringt nicht nur die Lagerkapazitäten an ihre Grenzen, sondern sie belastet auch die Liquidität, die nach den unerwartet schwachen Verkäufen der Saison 2022 bereits ordentlich strapaziert ist. Zum Saisonstart 2023 verschärfte sich die Lage zusätzlich, weil nun von vielen Herstellern bereits großzügig die Vororder 2023 nachgeschoben wurde. Diese wiederum kämpfen selbst mit übervollen Lagern und knapper Liquidität. So kam es, dass zum Beginn des Frühlings zahlreiche Fachgeschäfte bereits einen ganzen Jahresbedarf an Fahrrädern und Pedelecs an Lager hatte, statt der zu diesem Zeitpunkt üblichen 50 bis 60 Prozent.
Und als wäre das alles nicht schon genug, blieben die Verkäufe in den ersten Monaten der Saison 2023 weit unter den Erwartungen sowie deutlich unter den Zahlen des Vorjahres. Zwar erholte sich die Konsumentenstimmung zum Jahreswechsel spürbar. Ein außerordentlich kühles und nasses Frühjahr mit wenigen Sonnenstunden an den Wochenenden dämpfte die Lust auf neue Fahrräder wesentlich. Erst ab Pfingsten stiegen die Temperaturen und die Sonne zeigte sich zum ersten Mal seit Ende Februar während mehrerer Tage in Folge. Damit bleibt dem Handel ein ziemlich kurzes Zeitfenster bis zu den Sommerferien, um die Rückstände des Frühjahrs noch aufzuholen. Die Ferienzeit gilt traditionell als Ende der Hochsaison. Was danach kommt, kann das Jahresergebnis in der Regel nicht mehr komplett drehen.

Auf dem Weg in den perfekten Sturm

Der Schweizer Fahrradbranche droht damit das Szenario eines perfekten Sturms, bei dem mehrere unglückliche Umstände sich gegenseitig verstärken. In konkreten Fall sind das die mäßig erfolgreichen Verkäufe in der Saison 2022, die hohen Lagerbestände, mit denen in die Saison 2023 gestartet wurde und die nochmals niedrigere Nachfrage im laufenden Jahr. Alles zehrt an der Liquidität des Fahrradeinzel- und -großhandels. Selbst wenn die einzelnen Unternehmen nicht finanziellen Schiffbruch erleiden, dürften die Folgen dieses perfekten Sturms sie noch mindestens zwei weitere Jahre beschäftigen. Vor Ende 2025 dürfte es schwierig werden, Lager und Liquidität wieder ins Lot zu bringen. Die Covid-Pandemie, die ganz am Anfang dieser Entwicklung stand, hinterlässt dann während sechs Jahren in Folge ihre Spuren in der Fahrradbranche. //

27. Juni 2023 von Urs Rosenbaum
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