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Weniger Fahrrad-Unfälle durch Warnsysteme
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Schulung - Fahrassistenzsysteme

Weniger Fahrrad-Unfälle durch Warnsysteme

Im Jahr 2016 verunglückten in Deutschland 3901 Pedelec-Fahrer, davon 62 tödlich. Weitere 1087 wurden schwer und 2752 leicht verletzt. Im Vergleich zu 2015 ein Plus um 32,6 Prozent, allerdings stiegen im gleichen Zeitraum auch die Verkaufszahlen um 13 Prozent. Unfallursache war oft die erhöhte Geschwindigkeit. An der TU Kaiserslautern forscht derzeit ein Team an sicherheitsorientierten Fahrerassistenzsystemen für Pedelecs, kurz FAS genannt. Velobiz.de sprach mit Diplom-Ingenieur Nicolas Mellinger, der an den Projekten »SIFAFE« (Sicherheitsorientierte Fahrerassistenzsysteme für Elektrofahrräder) und »MARS« (Fahrzeugtechnische Maßnahmen zur Erhöhung der Radverkehrssicherheit) mitarbeitet.

{b}Welche Faktoren sprechen für sicherheitsorientierte Fahrerassistenzsysteme (FAS) an Pedelecs?{/b}
Durch die Unterstützung des Elektromotors werden durch Pedelecs und S-Pedelecs neue Nutzungsprofile, wie Überlandstrecken oder Lastentransporte, möglich. Ebenso werden neue Nutzergruppen angesprochen. Vor allem Fahrrad-Wiedereinsteiger und ältere Menschen, die aufgrund des Elektromotors einen zusätzlichen Anreiz zur Zweiradnutzung haben, greifen gerne auf das Pedelec zurück. Zusätzlich fahren bestimmte Nutzergruppen mit Pedelecs mit höheren Geschwindigkeiten als mit konventionellen Fahrrädern und kommen an ihre Grenzen des fahrerischen Könnens. Grundlegend neue Sicherheitskonzepte für Elektrofahrräder, wie Fahrerassistenzsysteme, bieten hier die Chance, Risiken für Pedelecfahrer und andere Verkehrsteilnehmer zu reduzieren.

{b}Welche verkehrswissenschaftlichen Aspekte müssen neben FAS mit bedacht werden, um Unfälle im Radverkehr zu reduzieren?{/b}
Die meisten Unfälle im Radverkehr passieren beim Ein- oder Abbiegen, Kreuzen oder im Längsverkehr. Unfallursache ist dann in der überwiegenden Anzahl an Fällen der Unfallgegner – häufig ein KFZ-Fahrer –, der den Vortritt des Fahrrades oder Pedelecs missachtet, die Geschwindigkeit unterschätzt, zu dicht überholt oder auffährt. Hinzu kommen die Allein-unfälle wegen Hindernissen oder Unebenheiten im Weg, aufgrund der Bauart des Pedelecs (Motorlage, Gewicht) oder wegen Gleichgewichtsproblemen beim langsamen Fahren, Auf- oder Absteigen. Fahrerassistenzsysteme können den Rad- oder Pedelec-Fahrer frühzeitig vor kritischen Situationen warnen, indem sie Hindernisse und andere Verkehrsteilnehmer erkennen. Letztendlich muss jedoch der Fahrer selbst reagieren und eingreifen. Um hier ein richtiges Handeln zu trainieren, werden vielerorts bereits spezielle Schulungen zum Umgang mit Pedelecs angeboten. Des Weiteren sollten die Autofahrer insofern sensibilisiert werden, dass sie unabhängig vom Alter oder der Sportlichkeit mit einer hohen Geschwindigkeit eines Pedelec-Fahrers rechnen müssen. Auch die Radinfrastruktur spielt eine große Rolle. Oft werden Radwege zugeparkt, nicht gepflegt oder entsprechen baulich nicht den Bedürfnissen der Nutzer. Durch eine richtige Instandhaltung und Pflege sind hier große Potenziale vorhanden, Radunfälle zu reduzieren.

{b}Fahrerassistenzsysteme sind in PKWs schon länger serienmäßig eingebaut. Lassen sich ihre fahrzeugtechnischen Konzepte auch auf Pedelecs übertragen? Wenn nicht, wo liegen die Schwierigkeiten?{/b}
Bei manchen Systemen, wie einer Hinderniswarnung, erscheint die Adaptierung aufs Rad prinzipiell sinnvoll, andere Systeme, wie beispielsweise ein Parkpilot, sind ausschließlich für den Automobilsektor entwickelt. Grundsätzlich können Systeme vom PKW nur mit entsprechenden Anpassungen aufs Fahrrad oder Pedelec übertragen werden. Die größten Unterschiede zwischen Fahrrad bzw. Pedelec und PKW liegen neben der unterschiedlichen Anzahl an Rädern und der Bauform in der Fahraufgabe. Hier können drei Ebenen betrachtet werden. Die Ebene der Navigation unterscheidet sich noch geringfügig vom PKW. Hier geht es darum, eine geeignete Route zum Erreichen des Ziels zu finden. Die Führungsebene zeigt wesentliche nötige Anpassungspunkte der Systeme auf, da sich Aufgaben, wie Beschleunigen, Bremsen, Lenken sowie Schalten oder Blinken beim Rad sehr vom PKW unterscheiden. Durch die Betrachtung der Stabilisierungsebene ergeben sich weitere Anpassungspunkte. Beim Fahrradfahren muss das Gleichgewicht gehalten werden, sowohl im Stillstand als auch während der Fahrt, was beim PKW entfällt.
Assistenzsysteme müssen an die Fahraufgabe beim Radfahren angepasst werden. Ein Beispiel für eine sinnvolle Übertragung ist ein ABS-System fürs Pedelec: Ähnlich wie beim PKW greift es beim Bremsvorgang ein, um ein blockierendes Rad zu verhindern. Vorausschauende Systeme zum Beispiel sind ebenfalls übertragbar, müssen bei der Entwicklung durch entsprechende Algorithmen jedoch lernen, mit Neigungen oder hektischen Lenkbewegungen umzugehen. Eingreifende Systeme, wie ein Notbremsassistent, sind aufgrund der Gleichgewichtsproblematik nicht unmittelbar auf das Fahrrad übertragbar. Im Rahmen des SIFAFE-Projekts an der TU Kaiserslautern beschränken wir uns daher ausschließlich auf warnende Systeme.

{b}Welche FAS sind bereits umgesetzt und wovor schützen sie?{/b}
Am Markt sind bereits diverse Systeme, wie Lichtassistenten, Radar-Warngeräte oder ABS-Systeme für Pedelecs, erhältlich. Das SIFAFE-Versuchspedelec ist mit mehreren käuflich erwerbbaren sowie selbst entwickelten Assistenzsystemen ausgestattet, um sie im Rahmen einer Probandenstudie zu testen. Zur Ausstattung gehören Markierungs- und Bremsleuchten, die die Aufmerksamkeit der PKW-Fahrer erhöhen sollen. Darüber hinaus gibt es am Markt befindliche sowie im Rahmen des Projekts entwickelte Fahrtrichtungsanzeiger, also Blinker, um die Sicherheit des Radfahrers zu erhöhen, indem beide Hände am Lenker bleiben können, sowie ein rückwärtiges Radar-Warngerät, das wie eine Art »digitaler Rückspiegel« Anzahl und Abstand von sich nähernden Fahrzeugen in Form von Punkten auf einer Einheit am Lenker anzeigt. Die Lichtsysteme sowie das Radar-Warngerät funktionieren nach Anschalten selbstständig, der Fahrtrichtungsanzeiger wird über einen Schalter am Lenker bedient.
Im Rahmen des SIFAFE-Projekts wurden noch zwei weitere Systeme entwickelt. Die Systeme werden über eine App gesteuert, das Smartphone wird am Lenker befestigt. Das erste System ist eine LIDAR-basierte Frontkollisionswarnung, die vor Hindernissen und anderen Verkehrsteilnehmern vorausschauend warnt. Nach Anschalten per App läuft die Kollisionswarnung automatisch. Sobald ein Hindernis erkannt wird, wird eine Warnung in Form eines Signalbildes und -tons am Smartphone sowie durch Vibrationen in beiden Griffen ausgegeben. Das System greift dabei nicht direkt in die Fahraufgabe ein. Die Warnung soll Radfahrer dabei unterstützen, kritische Situationen frühzeitig zu erkennen, sodass rechtzeitig ein Bremsvorgang eingeleitet werden kann. Das zweite System ist eine Spurverlassenswarnung, die über eine Kamera die Fahrspur vor dem Rad erkennt und ein mögliches Abweichen davon durch Vibrationen in demjenigen Griff ankündigt, zu der Seite der Radfahrer abzuweichen droht. Das System läuft nach Anschalten automatisch und soll Radfahrer, die die Spur zu verlassen drohen, vor einem Sturz wegen beispielsweise einer Gehwegkante sowie vor einer Kollision mit anderen Verkehrsteilnehmern bewahren.

{b}Welche weiteren FAS sind kurz-, mittel- und langfristig praktisch umsetzbar?{/b}
Praktisch umsetzbar sind alle Systeme, die den Fahrer vor bestimmten Situationen warnen. Beispielsweise könnte insbesondere Abbiege- und Kreuzungsunfällen vorgebeugt werden, wenn das Fahrrad oder Pedelec mit anderen Verkehrsteilnehmern oder der Infrastruktur kommunizieren kann, z.B. über Lichtsignalanlagen, Warnleuchten usw., und über Informationen zu Standort und Geschwindigkeit anderer verfügt sowie eigene weitergibt. Durch die Kommunikation oder durch eigene Assistenten würden die PKW-Fahrer so über die Anwesenheit des Rad- oder Pedelecfahrers informiert. Auch eine Erweiterung der Frontkollisionswarnung ist vorstellbar, dass neben Hindernissen auch Schlaglöcher und tiefe Senken erkannt werden können.

{b}Welche Erkenntnisse konnten Sie aus Ihren Befragungen zum Nutzerbedarf und zur Nutzerakzeptanz bereits gewinnen? Was wünschen sich Pedelec-Fahrer bezüglich FAS?{/b}
Aus der Nutzerbefragung konnten Nutzungsmuster von Pedelecs, Unfalldaten und Erkenntnisse zur Entstehung von Alleinunfällen gewonnen werden. Des Weiteren wurden Kenntnisse und Wünsche bezüglich Fahrerassistenzsystemen erfragt. Die Studie hat ergeben, dass Alleinunfälle vor allem wegen rutschigem Untergrund, Hindernissen im Weg oder querenden und abbiegenden PKWs entstehen. Die Entwicklung der Assistenzsysteme zielt daher besonders darauf ab, diese Arten von Unfällen zu verhindern. Die Frage nach der allgemeinen Kenntnis von Assistenzsystemen haben 95 Prozent der Teilnehmer positiv beantwortet, die Hälfte davon nutzt selbst bereits welche im PKW. Am Fahrrad oder Pedelec konnten 13 Prozent angeben, dass sie bereits Fahrerassistenzsysteme – v.a. Lichtsysteme –am Rad nutzen, weitere 57 Prozent sind einer Nutzung nicht abgeneigt. Wünschenswerte FAS sind nach Auswertung der Befragung ein ABS für Pedelecs, Lichtsysteme und Blinker, ein Notbrems- und Spurwechselassistent sowie Abstandssensoren zur Hinderniswarnung. Bei Detektion einer kritischen Situation sollte die Warnung immer durch Elemente am Pedelec, nicht am Fahrer geschehen. Optische und haptische Warnung (Vibration) wurden hier am meisten gewünscht.

{b}Werden Pedelec-Fahrer durch die FAS nicht noch zusätzlich abgelenkt?{/b}
Dazu sind noch keine Forschungsergebnisse bekannt. Durch intelligente Programmierung und lernende Algorithmen sollen die entwickelten FAS kritische Situationen frühzeitig erkennen und dem Fahrer so einen zeitlichen Sicherheitsgewinn zum Reagieren und Entschärfen der Situation verschaffen. In den kommenden Wochen startet an der TU eine Probandenstudie, bei der genau diese Fragestellung beantwortet werden soll. Es wurde ein Konzept zur Evaluation der Systeme entwickelt. Im Ergebnis wird sich zeigen, welches System einen Sicherheitsgewinn bringt, welches keine Wirkung hat und welches die Situation durch hohe Ablenkung verschlechtert. Interessierte können sich gerne bei mir ( nicolas.mellinger@bauing.uni-kl.de , Tel. 0631-2054261) melden.

4. Juni 2018 von Dorothea Weniger
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