
Debatte - Streitpunkt Lastenrad
Zwischen Klischee und Realität
Bei X, in Talkrunden und Interviews stürzen sich konservative und rechte Politiker aufs Lastenrad wie ein Pitbull auf seinen neuen Kauknochen. Für sie ist das Rad mit der Transportbox der Inbegriff grüner Klientelpolitik. »Mit dem Lastenrad lässt sich keine Zukunft gestalten«, wetterte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kürzlich auf X. Friedrich Merz spottete im Handelsblatt-Interview: »Sollen die Urlauber zukünftig mit dem Lastenrad nach Mallorca fahren?« Und selbst Lastenradbesitzer und Welt-Autor Marcel Leubecher, nennt es »Das Arschgeweih des Alnatura-Adels« und keilt damit kräftig gegen die eigene Ehefrau, die die »E-Wuchtbrumme«, den »Stromkoloss«, das »Eisenschwein« unbedingt haben wollte.
Das Lastenrad hat das Fahrrad als Feindbild der Konservativen abgelöst. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, schießen CDU-, CSU- und FDP-Politiker gegen das Rad mit Transportbox. Das überrascht, denn mit gerade mal rund 1,1 Millionen Exemplaren sind Lastenräder in Deutschland immer noch eine Randerscheinung. Auf den Straßen sind deutlich mehr Mopeds (1,7 Mio.) unterwegs, Motorräder (5 Mio.), Autos (48 Mio.) und Fahrräder (84 Mio.) Doch anders als Moped und Motorrad stehen Lastenräder für einen Wandel im Verkehr. Aber reicht tatsächlich schon der Anflug von Veränderung, um Konservative derart aufzubringen? Und welche Angriffsfläche bieten Hersteller den Lastenradkritikern?
Lastenrad als Projektionsfläche
»Die Polemik richtet sich eigentlich nicht speziell gegen das Fahrrad«, stellt Stefan Gössling fest, Professor für Verkehr und Nachhaltigkeit und Autor des Buches »The Psychology of the Car«. Das Lastenfahrrad diene eher als Projektionsfläche für eine diffuse Wut in Teilen der Bevölkerung, als Feindbild des Progressiven. Denn es ist bewiesen, dass Lastenräder Autofahrten ersetzen, Staus vermeiden und Emissionen senken. »Da rationale Argumente gegen das Lastenrad fehlen, wird eine emotionale Rhetorik genutzt«, sagt Gössling.
»Da rationale Argumente gegen das Lastenrad fehlen, wird eine emotionale Rhetorik genutzt.«
Stefan Gössling, Professor für Verkehr und Nachhaltigkeit
»Das Fahrrad taugt schon lange nicht mehr als Zielscheibe, weil inzwischen fast jeder im Alltag oder in der Freizeit mit Rad oder E-Bike unterwegs ist«, erklärt der Wissenschaftler. Selbst Söder inszenierte sich 2021 in einem Wahlwerbespot mit E-Bike in bayerischer Natur. Allerdings verändere der Verkehr sich in einigen Kommunen massiv, sagt Gössling. Zwar dominiere das Auto weiterhin den Straßenraum, aber in vielen Städten wachse der Anteil des Fahrrads am Gesamtverkehr. Städte bauten geschützte Radspuren in Kfz-Spurbreite und Autoparkplätze werden in Lastenradstellplätze umgebaut. Das ärgert viele Autofahrer.
»In der Wahrnehmung der Autofahrer verlieren diese real an Platz«, sagt Gössling, »verstehen allerdings nicht, dass ein Lastenrad im Vergleich zum Auto weniger Fläche beansprucht.« Außerdem müssen sie Rücksicht nehmen und sich an den komplexer werdenden Verkehr anpassen. Das sei anstrengend. Und nun kommen auch noch die Lastenräder: massig, präsent, schnell. Sie werden echte Konkurrenten auf der Straße. »Nichts ärgert Autofahrer mehr als jemand, der schneller ist, denn die höhere Geschwindigkeit ist ja auch eine Rechtfertigung für das Auto«, weiß Gössling.
Hinzu kommt: Lastenräder sind Lastenesel. Sie transportieren Kinder und sperrige Gegenstände. »Damit entfällt für viele Menschen noch eine Ausrede, warum sie das Auto brauchen«, sagt Gössling.
Doch etwas anderes bringt Autofahrer noch mehr auf die Palme: »Lastenradfahrer wirken oft entspannt und gut gelaunt, wenn sie mit ihren Kindern durch die Stadt fahren und sich dabei unterhalten«, sagt Gössling. Fast scheint es so, als meisterten sie das Leben leichter. Zu dem Ärger über die Neuen geselle sich also auch noch Neid. »Das triggert Autofahrer und Politiker«, sagt er.
Das vermeintliche Familienglück der Lastenradfahrer ist für den Kommunikationsexperten Matthias Riegel ein zentraler Reizpunkt. »Das Lastenrad riecht für viele nach Luxus, nach Prenzlauer Berg und Latte macchiato«, sagt er – nach den Gutverdienern, die nicht nur ein Lastenrad besitzen, sondern auch ein Auto haben und eine Photovoltaikanlage auf dem Dach.
Lifestyle versus Alltagstauglichkeit
Die Branche befeuert dieses Klischee mit ihrer Bildsprache. »Lastenradwerbung zeigt überwiegend glückliche Familien in der Natur oder im Urbanen«, sagt Riegel. Es gehe vor allem um Lifestyle und weniger um Alltagstauglichkeit. Menschen wie seine Eltern oder selbst seine Schwester, die jeden Tag mit ihrem E-Bike zur Arbeit fahre, werden mit dieser Werbung nicht unbedingt angesprochen. »Man muss schon sehr aufgeschlossen und fahrradaffin sein, um sich überhaupt fürs Lastenrad zu interessieren«, stellt Riegel fest.
»Für sie ist Elektromobilität vor allem etwas für Reiche – für Anwälte und Ärzte.«Nico Jungel, Geschäftsführer Velofracht
Abschreckend findet er auch die Fahrzeugbezeichnung: Lastenrad, Transportrad oder Cargobike. »Das klingt schwerfällig und nach Arbeit«, sagt er. Ganz anders das E-Bike: Der Begriff wirkt modern, leicht, innovativ. Allerdings war auch beim E-Bike der Start holprig. In den Anfangsjahren sprach man in Deutschland von Pedelecs, während der Rest der Welt E-Bikes sagte. Aber das zeigt immerhin: Veränderung und Nachjustieren sind möglich.
Niedrigschwellige Angebote fehlen
Riegel vermisst jedoch die niedrigschwellige Kontaktaufnahme zum Lastenrad im Alltag. Seine erste Fahrt fand im Urlaub auf Ameland auf einem Leihrad statt. »Wer einmal mit seinen Kindern Lastenrad gefahren ist, will vermutlich nie wieder anders unterwegs sein«, sagt er lachend. In Deutschland sei das Ausprobieren im Alltag jedoch nur schwer möglich.
In einigen Städten wie Hamburg können die Bewohner Lastenräder inzwischen über das städtische Verleihsystem mieten. Die Initiative »Forum freies Lastenrad« bietet mittlerweile in über 100 Städten 450 Räder für kostenlose Fahrten an. Außerdem gibt es immer mehr Baumärkte und Discounter, die ihren Kunden Lastenräder zum Transport des Einkaufs anbieten, und die Cargobike-Roadshow tingelt jedes Jahr durch verschiedene Kommunen. Aber all diese Angebote sind ebenfalls eher die Ausnahme und nicht die Regel und finden häufig im urbanen Umfeld statt. Ein einfacher Zugang für alle sieht anders aus. Das gilt allerdings auch für viele andere Angebote jenseits des Privatwagens.
Dennoch ist das Stadt-Land-Gefälle ein relevantes Problem. Nico Jungel, Geschäftsführer von Velofracht, erlebt die Diskrepanz, wenn er im ländlichen Brandenburg mit Nachbarn und Bekannten spricht. »Für sie ist Elektromobilität vor allem etwas für Reiche – für Anwälte und Ärzte«, sagt er. Außerdem etwas, das in der Stadt funktioniere, aber nicht auf dem Land. Dort sei aus ihrer Sicht der Diesel für Landmaschinen, Lkw und Autos unverzichtbar, in der Vergangenheit und in Zukunft. »Das Lastenrad wird nicht als leichtes Elektromobil oder weitere Möglichkeit wahrgenommen«, sagt er. Es fehle der Bezug des Fahrzeugs zur Lebenswelt seiner Nachbarn und Freunde.
17 Prozent der Deutschen ziehen den Kauf eines Lastenrads in Erwägung.
Jungel, dessen Firma Aufbauten für Lastenräder entwickelt, kann ihre Haltung in Teilen nachvollziehen. »Politiker fürchten den Wählerfrust und Unternehmer treffen auf Blockadehaltung ihrer Mitarbeitenden – so kann oftmals der Transporter nicht durch das Lastenrad ersetzt werden«, sagt er. Obwohl Studien zeigen, dass es in den Innenstädten, auf kurzen Distanzen und vollen Straßen, die bessere Wahl sei. »Es fehlen häufig das Wissen und der Mut zum Wechsel«, sagt er. »Und so wird trotz unproportionalem Ressourcenverbrauch und einer Klimakrise wider besseres Wissen an der Vergangenheit festgehalten.«
Allerdings gibt es auch Vorreiterstädte wie Hamburg, die es bereits anders machen. Dort sind seit Jahren in der Innenstadt rund um den Jungfernstieg Lastenräder statt Transporter unterwegs. Für Politiker, Einzelhändler und Zusteller ist das Lastenrad dort eine echte Alternative.
Damit Spott und Häme der Konservativen aufhören, muss das Lastenrad seinen Exotenstatus verlieren. »Wenn die Medien nicht mehr über den ›exotischen‹ Bestatter berichten, der den Sarg mit dem Lastenrad zur Beerdigung bringt, ist die Wende geschafft«, sagt Riegel.
Um das zu erreichen, braucht das Lastenrad laut Riegel aber deutlich mehr Reichweite und mehr Berührungspunkte mit der Bevölkerung. Gäbe es noch »Wetten, dass …?«, könnte eine absurde Wette mit dem Lastenrad als Hauptdarsteller helfen. »Oder ein Auftritt im nächsten James Bond, wenn Bond mit der Heldin in der Transportbox den Schüssen der Verfolger entkommt«, sagt er.
Aber trotz aller politischen Debatten zeigt der Blick in die Statistik: Das Lastenrad rollt langsam, aber stetig Richtung Mitte der Gesellschaft. Fast jeder fünfte Deutsche (17 Prozent) zwischen 14 und 69 Jahren zieht zumindest den Kauf eines solchen Rads in Betracht. Laut dem Fahrradmonitor 2023 des Sinus-Instituts ist das Interesse im »konservativ-gehobenen Milieu« sogar größer als im »neo-ökologischen Milieu«. Also die Gruppe, die konservative Politiker wie Merz und Söder eigentlich ansprechen und deren Interessen sie vertreten wollen.
Vielleicht kutschiert Ministerpräsident Söder in ein paar Jahren in einem Wahlwerbespot die Enkelkinder im Lastenrad durch die bayerische Natur. Spätestens dann ist das Lastenrad in der Bevölkerung angekommen. //
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