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Oliver und Stephanie Römer
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Portrait - Tout Terrain

Aus der Steppe in die Städte

Reiseradspezialist Tout Terrain sitzt im »Silicon Valley der deutschen Fahrradbranche«, wie ein Pressekollege die Gegend um Freiburg vor Kurzem nannte. Und in diese Gemengelage von Innovation, Networking und schwäbischer Präzision passt das Unternehmen ­bestens, wie unser Besuch bestätigt.

Wer zu Tout Terrain nach Freiburg-Gundelfingen reist, darf sich nicht aufs Navi verlassen. Wo angeblich das »Ziel erreicht« ist, findet sich die feine Stahlradschmiede mitnichten. Sie liegt gut versteckt eine Abzweigung und einige hundert Meter weiter in einem klassischen, eher kleinen Industriebau aus den Siebzigerjahren. Nicht, dass TT-Chef Oliver Römer einen Deal mit dem GPS-Satelliten hätte, aber es passt: Eine Firma, die man vor allem wegen ihrer Bikes für Expeditionen fernab der Zivilisation und des Radwegweisers kennt, muss man selbstständig ent­decken. Schon fast symbolträchtig.

In 169 Tagen um die Welt

Natürlich gibt’s drinnen noch viel mehr zu entdecken. Den noch recht neuen, minimalistisch-stilvollen Showroom zum Beispiel, den die Firma erst vor kurzem eingeweiht hat – ein guter Startpunkt für eine Firmenführung. Er wurde nötig, weil immer mehr Privatkunden sich melden und das komplette Angebot sehen wollen – oder gleich unangekündigt vor der Tür stehen. Neben der aktuellen Modellpalette präsentiert man hier auch viele der Preise, die die Freiburger im Laufe der Jahre eingeheimst haben – vor allem Eurobike- und andere Design-Awards. Und das Silkroad Xplore wurde vom Rat für Formgebung gerade erst für die Teilnahme am German Design Award 2014 nominiert – vielleicht sollte man bei den Freiburgern gleich noch nach einem weiteren Platz an der Wand suchen. Neben dem ersten Tout-Terrain-Rad und den aktuellen Modellen gibt es hier auch eine Line of Fame – zum Beispiel mit dem Rad, auf dem Julian Emre Sayarer 2010 den Weltrekord für die schnellste Weltumrundung aufstellte – inklusive Eintrag ins Guinness-Buch: ein schwarzes Silkroad mit Rohloff-Nabe. Und natürlich den rahmenfesten Gepäckträger, der alle Tout-Terrain-Räder auszeichnet. Womit wir auch schon ganz am Anfang wären – und vielleicht beim letztendlichen Grund dafür, dieses Unternehmen ins Leben zu rufen.
»Angefangen hat es mit einer Fahrradreise durch Asien, zusammen mit Steffi«, erzählt Römer, Wirtschaftsingenieur mit Fachrichtung Maschinenbau. »Das war eine tolle Reise, aber wir dachten uns danach: Komfort und Gepäcktransport kann man sicher noch viel besser machen.« Gesagt getan. Schnell entstand die Idee für das Panamericana. Und der Ingenieur, der gerade mal zwei Jahre beim Luftfahrtunternehmen EADS hinter sich hatte – auch hier ging‘s übrigens um Global Positioning – gründete eine Firma, die sich um deutlich bodenständigere Produkte kümmert: Tout Terrain. »Ich wollte endlich mal auch Ergebnisse meiner Arbeit in den Händen halten«, erklärt Römer ein zweites Argument für seine berufliche Neuorientierung. »Ich war damals beim Galileo-Projekt tätig – und da ticken die Uhren langsamer.« Die europäische GPS-Alternative Galileo ist schließlich entgegen aller Vorgaben immer noch nicht in Betrieb …
Bei Tout Terrain dagegen ging’s flott: Firmengründung bereits 2004, 2006 waren schon die ersten Räder da. Mit genannter Besonderheit, die immer noch das Alleinstellungsmerkmal der Firma mit dem gespiegelten »T«s ist: der rahmenfeste Gepäckträger.
Wenn man ein eigenes, integriertes Gepäckträgermodul entwickelt, kann das doch auch ein eigenes Design haben. Doch die typische Träger-Form ist Teil des Konzepts bei Tout Terrain. »Im Grunde ging‘s mir darum«, erklärt Römer, »bei klassischer Optik ein ­grandioses Fahrverhalten bieten zu können.« Und das hat er mit seinen Entwicklungen, glaubt man den zahlreichen Magazintests, durchaus erreicht.

Innovationskleinode

In den gerade einmal neun Jahren seines Bestehens hat sich das Unternehmen fruchtbar wie zielstrebig entwickelt, auch wenn Römer bescheiden meint: »Wir sind nicht die großen Revolutionäre und entwickeln unsere Modelle eher per Feinschliff über die Jahre weiter.« Doch immerhin gab es nach dem Panamericana mit dem Silkroad bald ein »Hardtail«-Reiserad. Mittlerweile gibt es auch noch eine ganze City-Palette bei den Freiburgern. Kennzeichen: der bei allen Urban-Modellen erhältliche Riemenantrieb. »Ich schwöre drauf«, sagt Römer kurz und klar. Sein erstes Argument ist die saubere und unbeschädigte Hose. Wartungsarmut und Robustheit gibt’s obendrauf, Probleme mit dem Riemenhersteller Gates dagegen gar nicht – man hat in Freiburg beste Kontakte in die USA. Für den Carbon-Strang müssen die Stahlrahmen nicht nur extrem genau gearbeitet sein, sondern auch mit der teilbaren rechten Hinterbaustrebe ausgestattet sein. Überhaupt gibt man sich in Sachen Antrieb bei Tout Terrain fortschrittlich: Von Römer und seinen Mannen gab es das erste tatsächlich lieferbare Pinion-Fahrrad, das Silkroad Xplore. Sicher kein einfaches Unterfangen, denn das Pinion-Rad braucht ja einen ganz eigenen Rahmen zur Aufnahme des Getriebes.
Aber man ist auch auf ganz anderem Terrain kreativ: Mit dem USB-Stromversorger The Plug bewies Römer 2009, dass sich Stahlrad und elektronisches Hightech nicht ausschließen. Hier kann der Extremreisende sein GPS-Gerät oder der City-Junkie sein Smartphone laden. Die Energie kommt vom Nabendynamo – oder, bei E-Bikes, an dem The Plug auch nutzbar ist, von der Batterie. Das auf dem Steuerkopf sitzende Gehäuse ist rundum versiegelt, sodass kein Wasser eindringen kann – und bietet damit auch eine wesentlich aufgeräumtere und elegantere Optik als das Konkurrenzprodukt. Für die Entwicklung und den Feinschliff – mittlerweile gibt es den noch effizienteren Plug II – baute sich Römer kurzerhand selbst einen Prüfstand.
Apropos Stahlrad: Das Material und sein Renommee passt natürlich bestens zur Extrem-Radreise-Klientel und dem Image des Besonderen, das man bei TT pflegt. Hier schätzt man insbesondere die Dauerhaltbarkeit. Doch eine heilige Kuh ist der Stahl für Römer nicht: »Wenn wir einen technischen Grund sehen würden, der gegen Stahl spricht, hätte ich kein Problem damit, etwas anderes zu verwenden«, sagt er.

Handmade International

Selbstredend wird bei einer Highend-Schmiede extrem viel Wert auf die Materialqualität gelegt. Das Gros der Rahmen wird nach strengen Vorgaben in Europa gefertigt. Die Rohre der High-End-Modelle wie der Pinion-Rahmen, der des Panamericana und des Grand Route kommen aus Italiens Edel-Schmiede Dedacciai.
Doch woher stammt die Konzeption? Für die Entwicklung betreibt Römer seit 2008 zusammen mit Thomas Harter, der vorher unter anderem bei Scott Räder gezeichnet hatte, auch noch das Ingenieurbüro Seed, das ebenfalls in den Räumen von Tout Terrain firmiert. Auf diesem Reißbrett entstehen aber nicht nur Tout Terrains: Die Kundenpalette ist bunt; zu den Referenzen zählen unter anderem Storck (Carbon-Triathlon-Rad Aero II), die Carbon-Linie von USA-Hersteller Intense und eine E-Bike-Modelllinie von Stevens.
Die Prototypen und Muster für TT werden direkt im hauseigenen Musterbau gelötet. Auch hierfür sitzt in Gundelfingen ein bestbeleumundeter Spezialist: Kai Bendixen, der auch mit seiner eigenen Marke Bendixen Bikes Stahlfans das Herz höher schlagen lässt. Neben dem Musterbau ist er auch für die Sonderanfertigungen zuständig.
Apropos Finish: Besonders stolz ist man in Freiburg auf die neue Lackiererei. Tout Terrain pulvert alle Räder und Anhänger selbst. Die ankommenden Roh-Rahmen werden ausgepackt und qualitätskontrolliert – jeder einzelne. Danach werden sie aufwendig mit sehr feinem Granulat sandgestrahlt – für besondere Haltbarkeit des Lacks – grundiert und umweltfreundlich gepulvert und mit Klarlack versehen.
Grundsätzlich werden Tout Terrain-Räder in ein bis drei Standard-Farben angeboten, sind aber auch in anderen Farben lieferbar – genauso, wie der anspruchsvolle City- oder Reiseradler sich spezielle Komponenten oder Anlötteile wünschen kann.
Neben der Fahrrad- ist da noch die Hängerproduktion – »eigentlich war der Singletrailer das erste Produkt von Tout Terrain«, erinnert sich Römer. Und da kommt wieder ein rennomierter Bewohner des süddeutschen Silicon Valley ins Spiel: der Rahmenbauer Florian Wiesmann. Er entwickelte und verkaufte ursprünglich den gefederten Kinderanhänger fürs Gelände, bevor er den Vertrieb und die Weiterentwicklung seinem Freund und Kollegen Römer abtrat und sich ausschließlich um seine Fahrradprojekte kümmerte. Das waren zuerst 30 Stück im Jahr, mittlerweile kommt man auf 400 verkaufte Hänger – bei einem Basispreis von 1200 Euro. »Der Gepäckanhänger war dann nur noch die logische Konsequenz«, so Römer. Mit dem Streamliner, einen Quasi-Anhänger zum Mittreten, brachte man das Trailerbike ins Gelände – eine Heckfederung sorgt für Stock-und-Stein-Tauglichkeit wie bei den Großen. Und mit dem Streamliner+, der »besseren Hälfte« dazu, hat man das fehlende Vorderrad in einer hochwertigen Federgabel, damit der Kleine auch eigenständig durchs Gelände holzen kann.
Rund wird das reisespezifische Angebot durch den Vertrieb der Arkel-Gepäcktaschen. Sie stellen zwar keinen großen Umsatzschwerpunkt dar, »allein schon deshalb, weil der große Mitbewerber in den Läden unglaublich präsent ist, « erklärt Römer. »Händler, die Arkel führen, verkaufen sie aber auch gut.« Auch wenn sie konservativ anmuten, für viele Extremreisende sind diese Taschen perfekt auf ihren Einsatz zugeschnitten.

Integriertes Wachstum

13 Mitarbeiter kümmern sich heute auf den 2.500 Quadratmetern des Unternehmens – 400 davon sind Bürofläche – um Tout-Terrain-Produkte.
»Nach und nach konnten wir uns vergrößern«, so der Chef, »indem wir frei gewordene Räume im Gebäude dazunahmen.« Römers Frau Stephanie ist seit 2008 mit im Boot. Als zweite Geschäftsführerin kümmert sie sich um Marketing, Vertrieb und die leidige Buchhaltung, immerhin ist sie die BWLerin der beiden. Sie sitzt schon seit »nahezu immer« auf dem Fahrrad, war im Cube-MTB-Rennteam unterwegs, fuhr viele Marathons. Und dann eben Radreisen. Die Arbeitsstrecke legt sie grundsätzlich mit dem Rad zurück – wie viele der Kunden. »Der Großteil der Silkroads, die wir verkaufen, wurde schon immer im urbanen Bereich genutzt«, weiß auch Römer. »Aber egal, ob auf Reise oder im Alltag in der Stadt: Wir bekommen viel Feedback von den Kunden – auch Anregungen. Und einiges davon kann bei späteren Umsetzungen wieder berücksichtigt werden«, so Stephanie Römer.
Kommuniziert wird unter anderem auch über einen Blog auf der Homepage des Unternehmens. Hier werden vor allem für den (potenziellen) Kunden wichtige Termine, aber auch Geschichten wie die von Pinion-Radlern auf Sizilien vorgestellt. Und natürlich werden hier neue Kommunikations-Formate verlinkt, wie die sehr lifestylige Microsite der Firma zum Thema Urbanes Leben. Ganz im Sinne von Web 2.0 fragt da das Unternehmen: »Welcher Style passt zu dir?« Die Antwort gibt der Styleguide in Form von drei hippen Testimonials, die auf ihre ganz individuelle Art ihr Tout-Terrain-Rad mit Belt Drive nutzen. Der neue Urban Style passt jedenfalls bestens zum Stil des Unternehmens.
Der Verkauf läuft über Partnerhändler; etwa 50 sind es in Deutschland,
10 in Frankreich und sogar 15 in der Schweiz – sicher auch ein Effekt der grenznahen Lage am Dreiländereck.
Auch fast alle anderen Mitarbeiter haben eine Fahrradvergangenheit – mancher gar eine berühmte: Felix Mücke, zum Beispiel, Trial-Biker und als solcher jahrelang in der Nationalmannschaft, konnte schon 2008 in Wetten, dass ...? und in einer ähnlichen Sendung im Chinesischen Fernsehen beweisen, dass man ganz locker zehn Meter weit mit dem Trial Bike über Bierflaschen fahren kann. Wie die meisten anderen Mitarbeiter von Tout Terrain wird er flexibel eingesetzt, macht aber hauptsächlich Anhänger- und Laufradbau.

Electro Terrain?

Bleibt, gerade für einen Hersteller mit wachsendem Urban-Anteil, die Frage nach elektrischer Unterstützung. »Unsere Kompetenz im Reise- und Urbanen Bereich schreit eigentlich nach E-Bikes aus dem Hause Tout Terrain«, räumt auch Römer ein. »Im ­Reisesektor«, könnte sich Stephanie Römer vorstellen, »wäre das aber, wenn überhaupt, kein klassischer Pedelec-Antrieb, sondern eine indi­viduelle Entwicklung, etwas wie eine Unterstützungslösung für schwierige oder steile Passagen.« Wir sind ge­­spannt, was es wird – aber mit indi­viduellen Entwicklungen hat man in Freiburg ja gute Erfahrungen gemacht.

27. Juni 2013 von Georg Bleicher

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