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Report - Customizing

Customizing – Eine Idee zieht Kreise

Die Zubehörbranche holt derzeit mächtig aus, um den Kunden Wünsche zu erfüllen, die bisher nicht zu realisieren waren. Gerade an den Kontaktpunkten zum Fahrrad beschreiten kleine Spezialisten und auch die Big-Player der Fahrradbranche neue Wege, die nach Ansicht von so manchem Branchenbeobachter die Art und Weise, wie in ­Zukunft Fahrräder und Zubehör verkauft werden, gravierend beeinflussen werden.

Noch nie gab es so viele Möglich­keiten, ein individuelles, auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenes Fahrrad zusammenzustellen. Gleichzeitig ist die Branche aber gerade erst im Begriff, Strukturen aufzubauen, mit denen ­Customizing optimal und für ein breites Pub­likum umgesetzt werden kann.
Darf es ein angepasster Radschuh sein, der für eine optimale Kraftübertragung sorgt? Oder ein maßgefertigter Sattel, der die größten Druckspitzen mindert? Ergonomische Lenkergriffe speziell für die eigene Hand- und Körpergröße? Inzwischen ist all das und vieles mehr machbar. Noch allerdings sind die Händler, die sich diesem ­Themas intensiv annehmen, eine ­Minderheit. Dabei könnte Customizing in absehbarer Zeit ein Pflichtthema für den Fachhandel werden.

Anbieter locken mit ­verschiedensten Ansätzen

Gegenwärtig konzentrieren sich die Anstrengungen der Zubehör-Customizer auf die Kontaktpunkte zum Fahrrad: Sattel, Lenkergriffe, Pedale und Schuhe sind die Produkte, für die es in der Zubehörwelt inzwischen eine bemerkenswerte Lösungsvielfalt gibt.
Dabei ist es nicht gerade leicht, den Überblick über die verschiedenen Anpassungsmöglichkeiten zu behalten. Ob Mass-Customization, bei der die eigentlich nicht zusammenpassenden Begriffe Massenproduktion und Individualisierung vereint werden, oder eine individuelle Lösung, bei der ein komplett maßgefertigtes Produkt produziert wird: Die Bandbreite der Ansätze ist enorm. Und je nach Zielsetzung können viele Wege zum Erfolg führen. »In der Anatomie ist alles möglich«, zitiert etwa Tobias Hild vom Ergonomie-Experten SQlab seine Entwicklungspartner aus der Medizin, »von daher können andere Ansätze auch funktionieren. Daher stammt ja auch die Diskussion, wer das beste Konzept hat.«
Dessen ungeachtet kann man nicht übersehen, dass in Deutschland noch einiges an Basisarbeit zu verrichten ist, wenn es darum geht, auch dem Durchschnittskunden das Thema schmackhaft zu machen. Andere Länder sind da mitunter schon bedeutend weiter.
Daniel Schade ist Produktmanager bei Gebiomized in Fulda, wo unter anderem maßgefertigte Sättel hergestellt werden, und entsprechend tief mit der Materie vertraut.


Für die Auswahl des rich­tigen Sattels (hier bei Gebiomized) braucht es umfassendes Know-how, für das der Kunde auf den Händler ­angewiesen ist.

Er stellt fest, dass in Belgien das Thema schon deutlich weiter oben auf der Agenda rangiert und auch von den Kunden stärker wahrgenommen wird: »Circa 20 Bikefitting-Werkstätten verkaufen dort keine Räder, sondern nur ihre Dienstleistungen. Viel mehr Kunden können dort damit etwas anfangen.«
Angesichts einer solchen Entwicklung sieht er auch hierzulande noch viele brachliegende Chancen. »Bei Kunden und insbesondere beim normalen Bike-Händler sehe ich großes Entwicklungspotential.


»In der Anatomie ist alles möglich«, sagt Toby Hild von SQlab.

Selbstverständlich kann man für eine solche Beratung auch einen Preis verlangen. Es ist eine große Leistung, die richtige Position zu ermitteln.« Dabei geht diese moderne Form des Bikefitting weit über die erste Einstellung des neu ge- bzw. verkauften Fahrrads hinaus.

»Es ist eine große Leistung, die richtige Position zu ermitteln«

Daniel Schade, Gebiomized

Dass eine individuelle Anpassung sinnvoll ist, wird kaum jemand bestreiten wollen. So legt nicht nur eine aktuelle Studie der Sporthochschule Köln nahe, dass individuell angepasstes Material zu deutlichen Leistungssteigerungen führen kann (in diesem Fall getestet an Carbon-Einlegesohlen in Radschuhen), auch die gegenwärtigen Bedingungen des Fahrradmarktes machen Customization mitunter zur Pflichtübung. Das legt Andreas Schuwirth dar, der als Geschäftsführer des Unternehmens Body Scanning maßgeblich an der Weiterentwicklung des Customization-Themas mitarbeitet: »Der gleiche Sattel ist an kleinen 48-cm-Rahmen wie an großen 62-cm-Rahmen zu finden. Da macht Customizing Sinn – ich muss im Grunde customizen, aber der Produktmanager hat da eigentlich keine Chance.«
Der Handel kann diese Lücke sehr erfolgreich und zu seinem eigenen Vorteil schließen, wie Schuwirth anhand eines Händlers illustriert, der sich bereits mit Customizing intensiv auseinandersetzt: »Der Händler verkauft jährlich rund 1000 Fahrräder. Davon erhalten 70 Prozent eigens spezifizierte Sättel – also verkauft er nun 700 Sättel extra.«

Beratung entscheidet über den Erfolg

Dem stationären Fachhandel wird es als ein Vorteil erscheinen, dass sich eine Produktanpassung nicht über das Internet abwickeln lässt. Der Kunde muss den Laden betreten und erhält dort im Idealfall eine Beratung, die ihn auch später noch an das Geschäft bindet. Doch diese Beratungsleistung hat es durchaus in sich. Die Ansprüche an den Händler sind nicht gerade trivial. Das nötige Know-how rund um die individuelle Anpassung ist jedenfalls nichts, das man sich mal ebenso aneignen könnte.
Die Herausforderung an den Händler steigt auch dadurch, dass die Kunden ohne Anleitung in aller Regel überfordert ist zu entscheiden, welche Lösung für ihre Situation optimal ist. »Consumption needs guidance«, erklärt etwa Tobias Hild. »Der Konsument braucht eine Hilfe, um die beste Lösung bei der Anpassung zu erreichen.« Die Werte einer Druckmess­folie am Testsattel etwa kann der Kunde nicht entsprechend interpretieren.
»Deswegen kommt dem Händler vor Ort eine wichtige Rolle zu. Er muss erstens richtig beraten und zweitens das richtige Produkt heraussuchen«, bestätigt Schuwirth.
Entsprechend groß ist die Rolle, die den Schulungsprogrammen der Anbieter zukommt, um die Händler vorzubereiten. Tatsächlich verzichtet kein Unternehmen auf eine umfassende Schulung der Handelspartner, die zum Teil sogar jährlich stattfindet und Wissen vertieft und erweitert.
»Ohne Schulung kein Verkauf«, lautet die Devise bei dem Ansatz von a misura, wie Johannes Steuerwald erklärt. Das Münchner Unternehmen will in Kürze seine Erfahrungen im Maßschuh-Segment auch auf Radschuhe übertragen. »Wir haben eine sogenannte Akademie, für die der Handelspartner mindestens zwei Personen benennen muss, die das System bedienen werden. Diese werden dann jährlich für zwei bis drei Tage geschult. Es ist sehr umfangreich, was man sich an Wissen aneignen kann und muss.« Belohnt wird die Mühe dann später nicht nur mit einem eigenen Biking-Schuhfitter-Zertifikat, sondern vor allem auch mit erfolgreichen Verkaufsgesprächen.


Moderne 3D-Scanner (hier von a misura GmbH) erlauben eine Messgenauigkeit und Datentiefe, die vor wenigen Jahren in dieser Form noch nicht denkbar war.

»Eine enge Kommunikation ist notwendig, aber nicht so sehr zwischen Inhaber und Hersteller, sondern mit denjenigen, die das Gerät bedienen. Entscheidend ist, wie die Person, die das Verkaufsgespräch führt, den Scan macht und die Anforderungen definiert.«
So umfangreich das Thema sein mag, so sollte es doch für den interessierten Fachhandel zu bewältigen sein. »Wer offen ist, sollte sich auch einarbeiten können. Wir sind noch an keinem Händler und seiner Kompetenz gescheitert«, berichtet Daniel Schade. Durch Schulungen und Seminare wird den Händlern das nötige Rüstzeug vermittelt.

Kann man mit Zubehör-­Customizing heute schon Geld verdienen?

Bei Shimano kann man bereits auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen, wenn es um die Anpassung von Radschuhen geht. Die High-End-Radschuh-Modelle für Rennrad und Mountainbike können von Händlern über Vakuumpumpe und Ofen direkt im Laden an die Füße des Fahrers angepasst werden. »In spezialisierten Läden, die auf Rennsport fokussiert sind, funktioniert es auch sehr gut«, erklärt Michael Wild vom Shimano-Generalisten Paul Lange. »Bei unserer jährlichen Schulungsreihe ist Custom-Fit immer ein Thema.« Bisher spreche das Thema angesichts der Preislage ab 250 EUR aber vor allem die Wettkampffahrer an. Inzwischen würden jedoch immer öfter Tourenfahrer die Vorzüge von Custom-Fit erkennen. »Diese Produkte bieten einen echten Komfortgewinn, den die Kunden sonst eventuell nicht bekommen könnten.«
Bei diesen Anforderungen ist auch klar, dass Customizing, in diesem Fall von Schuhen, kein Nebenher-Produkt ist.

»Das Thema muss man sich erarbeiten und sich einen Namen machen«

Johannes Steuerwald, a misura
»Wenn man die Entscheidung trifft, dann ist das eine langfristige Investition, denn das Thema muss man sich erarbeiten und sich einen Namen machen«, unterstreicht Steuerwald. »Es bedarf Engagement, Investitionen für Schulung, Scanner und Software und es erfordert auch viel Zeit.« Um sich in diesem Bereich zu etablieren, braucht es Geduld, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen: »Es kann schon im zweiten Jahr gut funktionieren und der Händler verdient gutes Geld. Aber man muss sich darauf einstellen, dass es auch länger dauern kann.«
Auf der anderen Seite erzielt der Händler auf der kaufmännischen Seite auch einige Vorteile durch einen starken Customization-Ansatz: »Er hat keine Vororder mehr, kein Lagerrisiko, keine Abschriften, keine Rabattdiskussionen, muss keine Schuhe ins nächste Jahr mitschleppen und hat damit insgesamt wesentlich weniger kaufmännische Risiken.«


Maßgefertigte Radbekleidung und individualisierte Prints (hier von Sugoi) waren der Anfang von modernem Customizing. Inzwischen ist das Tor aufgestoßen zu nahezu grenzenloser Individualisierung von Fahrradprodukten.

Die Tendenzen auf kaufmännischer Seite wie auch im Verkaufsgespräch können auch als Ausblick verstanden werden auf das, was der Branche an Veränderungen bevorsteht.

Customization-Idee führt zu tiefgreifenden Veränderungen

Ein Großteil der Produktion für die Fahrradbranche findet heute in Fernost statt. Doch die dortigen Märkte entwickeln sich rapide mit teilweise nicht abschätzbaren Folgen für die Produktionsprozesse und insbesondere -kosten. Diese Entwicklung spielt dem Customization-Thema in die Hände, wie Schuwirth am Beispiel der Bekleidungsindustrie erklärt: »Derzeit sind wir in Gesprächen mit der Bekleidungsindustrie, die größere Zukunftssorgen hat. Dort interessiert man sich sehr für digitale Bedruckungsverfahren, die nach Bedarf eingesetzt werden können. Die Stoffe werden dann ausgelasert und dem Laser ist es egal, ob er Konfektion oder Körpermaße lasert. Wir digitalisieren die Körpermaße und übermitteln sie. Später kann ohne Handarbeit und on demand vor Ort produziert werden. Diese Dinge werden wie ein Tsunami über uns kommen, und die Fahrradindustrie denkt darüber noch nicht nach.«
Die Effekte einer solchen Fertigung sind signifikant: »Wir reden von Reduzierung des Warenbestandes, Vertikalisierung des Marktes, Customer driven value creation und Supply Chain Management – aus der Idee des Customizing entsteht ein ganz neuer Produktionsprozess.«
Derzeit gäbe es die ersten, zarten Ansätze, solche Ideen auch in der Fahrradbranche zu verwirklichen. So geht BMC mit dem »Impec«-Projekt in diese Richtung, bei dem ein (derzeit nur maßvoll) angepasster, rahmengemuffter Carbonrahmen innerhalb weniger Stunden entsteht, gefertigt in der Schweiz. »Heute ist das noch teurer«, sagt Schuwirth, »aber in fünf Jahren vielleicht nicht mehr. Im Fahrradbereich sieht noch keiner, was da läuft.« Dass die Produktion von Fahrrädern einmal wieder stärker in Europa stattfinden könnte, scheint jedenfalls keine Utopie mehr zu sein.

Die Grenzen des Custimizing

Der Fahrradfahrer von heute hat also umfassende Möglichkeiten, sein Rad an seine persönlichen Bedürfnisse anzupassen. Das zieht die Frage nach sich, ob es auch Grenzen der Anpassung gibt. Technisch, so scheint es, sind noch längst keine Grenzen ausgelotet.
Johannes Steuerwald sieht die Grenze am ehesten in den Köpfen der Kunden: »Wenn ich mit einem Custom-Made-Versprechen an den Kunden trete, dann weckt das extrem hohe Erwartungen, die manchmal auch nicht erfüllbar sind. Man muss sagen, was er erwarten kann und was nicht.« Dies gelte sowohl für die Produktgestaltung als auch die körperlichen Befindlichkeiten beim Kunden. »Ein Skischuh etwa bleibt ein Skischuh und ist kein Hausschuh. Der Kunde hat zwar keine Druckstellen mehr, aber er wird immer noch die Schale spüren. Man muss den Endverbraucher durch den Prozess führen. Und es gibt immer wieder auch Fälle, in denen man sagen muss: ›Tut mir leid, wir können nicht helfen, weil wir keine Orthopäden sind.‹ Man muss den Endverbraucher auf die richtige Ebene herunterholen.« Für den Großteil der Kunden könne Customizing dann aber sehr wohl Lösungen schaffen, die der Konfektionsware überlegen sind.
Customization mag damit insgesamt vielleicht noch nicht der kurzfristige, aktuelle Trend sein, der den Umsatz im Laden auf die Schnelle beflügelt. Das Thema wirkt aber bereits heute auf verschiedensten Ebenen und hat sehr wohl das Potential, die Art und Weise, wie Fahrräder und Zubehör in Zukunft verkauft werden, maßgeblich zu verändern. Der engagierte Fahrradhändler, der bereits jetzt seine Kunden mit echtem Know-how, umfassender Beratung und einer individuellen Anpassung nach dem Kauf überzeugt, befindet sich vermutlich auf einem guten Weg.

1. August 2012 von Daniel Hrkac

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