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Arbeitsmarkt - Quereinstieg

Die Chance liegt im Quereinstieg

Die Fahrradwirtschaft setzt bei der Suche nach Personal zunehmend auf den Quereinstieg. Politische Neuerungen unterstützen sie dabei. Gleichzeitig gibt es für Unternehmen und Betriebe einiges zu beachten, damit er gelingt.

Der Fahrradbranche in Industrie und Fachhandel fehlen auf allen Ebenen Arbeits- und Führungskräfte. »Der Arbeitsmarkt ist nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ leer gefegt«, stellt nicht nur Gunnar Fehlau, Geschäftsführer von Bootcamp.bike (bc.b), fest. Der Betreiber der Online-Fortbildungsplattform unterstützt deshalb auch die Fachkräftekampagne der Fahrradwirtschaft ( www.fahrrad-berufe.de ). Ähnlich schätzt auch Stephan Fuchs, Leiter der VSF-Academy und Mitglied der Geschäftsleitung, die Lage ein: »Der Arbeits- und Fachkräftemangel im Fahrradfachhandel ist auf absehbare Zeit die größte strukturelle Herausforderung. In allen Geschäftsbereichen fehlt gut ausgebildetes Personal – schon heute. Das Wachstum der Branche erhöht den Druck weiter.« Das Resultat einer Händlerumfrage, die der VSF zusammen mit Bike&Co Anfang 2022 unter ihren Mitgliedern durchführte, bestätigt diese These: »Demnach sind mehr als 18.000 Stellen allein im Handel unbesetzt.«
»Neben guten Quereinsteigerinnen und -einsteigern im Verkauf und in der Werkstatt brauchen wir gute Rechtsanwälte und Außendienstler, Marketing-, Kommunikations-, Personal- und Controlling-Profis, um nur einige Berufsgruppen zu nennen«, differenziert Fehlau. Die Liste könnte weiter fortgeschrieben werden, kürzer wird sie nur, wenn Arbeitskräfte über den Quereinstieg in die Branche kommen und dort auch bleiben.

Recruiting

Um Quereinsteigerinnen und -einsteiger anzulocken, sollten sich die Personalerinnen und Personaler bereits im Titel der Stellenanzeige direkt an diese wenden. Je präziser die Darstellung der Fähigkeiten, die vorhanden sein müssen beziehungsweise über Weiterbildungen erworben werden können, desto besser. Unerlässlich ist, die Suche auf allen Offline- und Online-Kanälen voranzutreiben.
»Unternehmen der Fahrradwirtschaft können sich sicher auch an innovativen Ansätzen aus anderen Branchen orientieren. Das deutsche Unternehmen Blume2000 etwa veranstaltet – ähnlich wie die Rewe Group – sogenannte Akquise-Tage, die sich bewusst an Quereinsteigerinnen und -einsteiger ohne Berufsabschluss wenden. Diesen wird angeboten, einen Berufsabschluss ›auf Kosten des Unternehmens‹ und wenn möglich modular ›Schritt für Schritt‹ nachzuholen und (erst) dann in den Betrieb einzusteigen. Vielfach übernehmen die Agenturen für Arbeit die Ausbildungskosten und auch Teile des Arbeitsentgeltes für die Zeit der Qualifizierung«, weiß Stephan Fuchs vom VSF.

Onboarding

Für Branchenneulinge bleibt der Einstieg in den Betrieb allerdings oft hinter ihren Erwartungen zurück. Schreibtische und To-do-Listen sind übervoll, Lösungen für seit Langem aufgelaufene Probleme sollen von ihnen schnell gefunden und alle Kniffe der Branche möglichst früh umfassend beherrscht werden. Für gutes Onboarding bleibt kaum Zeit, meist fehlt dafür auch das notwendige Know-how.

Branchenneulinge können in Weiterbildungen unbefangener fragen, wie die Branche »tickt«.

Die Folgen sind gravierend. 17,8 Prozent neu eingestellter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigen in den ersten 100 Tagen wieder, allerdings branchenübergreifend. Dies ist nur ein Ergebnis der Umfrage »Onboarding Reloaded 2022« der Softgarden E-Recruiting GmbH. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 waren es noch 11,6 Prozent. Ein deutlicher Anstieg also.
»Eine ausgeprägte Willkommenskultur brauchen alle Unternehmen, insbesondere wenn sie auf den Quereinstieg setzen«, weiß bc.b-Geschäftsführer Fehlau aus Erfahrung. »Schon einfache Dinge, wie das Vorfinden einer bereits eingerichteten E-Mail-Adresse am ersten Arbeitstag, können mitentscheidend sein, ebenso wie ein gegenseitiger Umgang auf Augenhöhe. Unternehmen sollten sich deshalb gerade beim Quereinstieg eine Einstellungsstrategie inklusive Onboarding-Checkliste erarbeiten. Dazu gehören auch Überlegungen zu der Frage ›Wann ist der Arbeitsplatz eigentlich erfolgreich besetzt?‹. Die Antwort darauf sollte dann in eine Arbeitsplatzbeschreibung münden.«

Qualifizierung – das A und O

Um den Quereinstieg zu erleichtern und Kündigungen zu vermeiden, wenden sich Bike-Unternehmen vor allem mit diesem Anliegen an Gunnar Fehlau: Er solle Neulingen vermitteln, wie die Branche »tickt«: »Was wir machen, ist mit einem interkulturellen Training vergleichbar. Auch im Bike-Handel gibt es Codes, die man anderswo, wie zum Beispiel in der Auto- oder Chemiebranche, nicht kennt und die dort auch nicht verstanden werden. Selbst der Kleidungsstil kann einen Quereinsteiger auf einer Bike-Messe zum Exoten werden lassen. Wir eröffnen den Neulingen einen ›Safe Space‹, wo sie alles fragen können, damit sie am Ende mit einem guten Gefühl und umfänglichem Wissen, auch über die brancheneigene Kultur, dort gut ankommen können.« Unwissenheit über die Branche büßen Branchenfremde oft mit einem Vertrauensverlust, sogar in Hinsicht ihres Fachwissens ein. Im schlimmsten Fall bildet sich eine »künstliche« Hierarchie heraus. In der Industrie, in der die Remote-Arbeit nach der Corona-Pandemie zunahm, sind diese Fehlentwicklungen heute häufiger als früher anzutreffen.
Auch im Handel steht die Einarbeitung von Quereinsteigerinnen und -einsteigern ganz oben auf der Tagesordnung. Viele Händlerinnen und Händler versuchen, diese »on the Job« zu qualifizieren. »Händlerinnen und Händler sind aber keine Weiterbilderinnen und Weiterbilder und sollten das auch nicht sein. Sie haben andere Aufgaben«, so Fuchs vom VSF. »Gleichzeitig ist die Qualifizierung der Neulinge unabdingbar. Wir wissen von unseren Mitgliedern, dass diese Mitarbeitenden dann gerade in arbeitsteilig arbeitenden Betrieben sehr schnell eine spürbare Entlastung bringen.« Der VSF blickt hierbei auf Erfahrungen mit Weiterbildungen beim Hersteller Riese & Müller zurück. »Die berufsbegleitende Qualifizierung von Quereinsteigerinnen und -einsteigern kann hervorragend gelingen. So haben unlängst rund 85 Prozent der Teilnehmenden des VSF-Kurses 2023/24 die Externenprüfung zum Monteur/zur Monteurin bestanden. Für den Fahrradfachhandel denken wir zu 100 Prozent an modular aufgebaute Angebote, damit sie für alle Beteiligten zur Win-win-Situation werden. ›Von der Stange‹ war gestern. Wir müssen individuelle und praxis­orientierte Angebote machen«, so Stephan Fuchs zur bewährten Qualifizierungskonzeption.

Schritt für Schritt zum Berufsabschluss

Für Händlerinnen und Händler, die über den Quereinstieg Fachkräfte gewinnen möchten, bietet sich aktuell auch das Projekt »Chancen nutzen! Mit Teilqualifikationen Richtung Berufsabschluss« an, kurz »Teilqualifikationen (TQ)«, das seit Oktober 2023 läuft und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird und durch zahlreiche weitere Institutionen auch sonst sehr breit aufgestellt ist.

»Wer auf das TQ-Konzept setzt, sollte seine Stellenangebote so formulieren, dass das Konzept für die Quereinsteigerinnen und -einsteiger transparent ist.«

Antje Baier, TQ-Projektleiterin bei der DHIK Service GmbH

Teilqualifikationen (TQ) für die Ausbildungsberufe Verkäufer/in, Kaufmann/frau im Einzelhandel, für Büromanagement und E-Commerce gibt es schon länger. Anfang März dieses Jahres wurden nun die bundesweit einheitlichen TQ für Fahrradmonteur/innen veröffentlicht. Inhaltlich sind die TQ aus anerkannten Ausbildungsberufen abgeleitet. Zudem basieren sie auf den verbindlichen Ausbildungsordnungen.
Ziel des Projekts ist die schrittweise Nachqualifizierung junger Erwachsener über 25 Jahren, die bislang keine Berufsausbildung abschließen konnten. Laut »Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2023« des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) waren 2021 17,8 Prozent (2,64 Mio.) der jungen Erwachsenen im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne Berufsabschluss. Eine enorme Zahl, die seit 2014 stetig ansteigt. Doch auch Un- und Angelernte, Menschen aus anderen Berufsfeldern, Arbeitslose, Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte will das TQ-Projekt erreichen, denn auch hier liegt ein enormes Fachkräftepotenzial.
Schließen Quereinsteigerinnen und -einsteiger alle TQ erfolgreich ab, steht ihnen nach zwei bis drei Jahren der Zugang zur externen Berufsabschlussprüfung offen. Pflicht ist diese allerdings nicht. Es können auch einzelne TQ besucht werden, wobei jede für sich drei bis sechs Monate dauert. »Gerade diese Aufteilung aus Praxis im Betrieb und TQ-Qualifizierungen über einen längeren Zeitraum könnte für die Fahrradbranche ein interessantes Konzept sein: So könnten Quereinsteigerinnen und -einsteiger in der Hochsaison im Betrieb stehen und in den ruhigeren Monaten die Module der TQ bei externen Bildungsträgern besuchen«, erläutert Antje Baier, TQ-Projektleiterin bei der DIHK Service GmbH, das Konzept und ergänzt: »Die Quereinsteigerinnen und -einsteiger bekommen normales Gehalt. Die Förderung der Arbeitgeber übernimmt die Agentur für Arbeit.« Die TQ kann aber auch berufsbegleitend absolviert werden. Die IHK vor Ort unterstützt die Betriebe bei der Umsetzung. Voraussetzung für die Betriebe ist, dass sie ausbildungsfähig sind. Die IHKen bieten außerdem an, die Kompetenzfeststellung nach Abschluss einer TQ-Einheit zu
übernehmen und erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen ein IHK-Zertifikat zu überreichen. Weiterbildungsträger übernehmen die Vermittlung der Inhalte. Der Arbeitgeberservice der BA informiert Händlerinnen und Händler und fördert das Angebot über das Qualifizierungschancengesetz. Außerdem übernimmt die BA in der Regel 100 Prozent der Qualifizierungskosten und zahlt in der Fortbildungsphase einen Entgeltzuschuss, maximal 100 Prozent bei kleinen Betrieben.
Sowohl die Mitarbeitenden als auch der Fahrradfachhandel profitieren davon. »Praxisbeispiele aus anderen Branchen zeigen, dass Beschäftigte, die diesen Weg einschlagen, motivierter sind. Sie identifizieren sich schneller mit dem Betrieb und bleiben diesem in aller Regel lange treu«, berichtet Antje Baier von der DIHK.

Geplantes Gesetz stärkt den Quereinstieg

Das neue Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG), das am 22. März im Bundesrat verhandelt wurde, soll den Quereinstieg in den Fahrradfachhandel ebenfalls erleichtern. Auf seiner Grundlage sollen künftig über einen einheitlichen und formalen Prozess Kenntnisse, aber auch Lücken bei Quereinsteigerinnen und -einsteigern ermittelt werden, um im Nachgang mit der richtigen Teilqualifizierung beginnen zu können. DIHK und Deutscher Gewerkschaftsbund begrüßten das Gesetz, wünschten sich aber, dass es erst auf Bewerberinnen und Bewerber, die über 25 Jahre alt sind, angewendet wird, damit die duale Ausbildung nicht unterminiert wird. Denn Berufsschulen fördern neben dem Fachwissen auch andere wichtige Kompetenzen, wie die Handlungs-, Selbst-, Sozial-, Methoden- und Lernkompetenz sowie die kommunikative Kompetenz. Zudem stehen in den Lehrplänen Fächer wie Politik und Gesellschaft, Deutsch und Ethik. Mitbestimmung, Gesundheits- und Arbeitsschutz sind weitere relevante Bildungsinhalte, auf die auch der VSF bei der Ausbildung von Monteur/innen im Quereinstieg zurückgreift: »Wir befassen uns selbstverständlich mit allen Themenfeldern, die der Rahmenlehrplan vorgibt. Sozial- und Wirtschaftskunde gehören beispielsweise fest zum Kursplan und sind auch prüfungsrelevant. Bei der Gewichtung richten wir uns immer wieder neu an dem aus, was unsere Kursteilnehmenden mitbringen und was eine erfolgreiche Abschlussprüfung erfordert. Viele ›unserer‹ Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen sind nicht in Deutschland zur Schule gegangen beziehungsweise sozialisiert. Darauf und auch auf sprachliche Hürden müssen wir reagieren.« //

Heute um 08:00 von Dorothea Weniger

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