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Die globalen Lieferketten gut geölt zu halten war in den vergangenen zwei Jahren eine große Herausforderung in fast jeder Branche. Strategien, wie sich eine solche Situation in Zukunft vermeiden lässt, brauchen Zeit in der Umsetzung, sind aber vorhanden.
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Beschaffung - Lieferkettenproleme vermeiden

Die Kunst, Lieferengpässe zu vermeiden

Die Probleme mit der Warenversorgung sind nach wie vor nicht behoben. Gleichzeitig arbeitet die Branche umfassend daran, eine vergleichbare Situation in der Zukunft zu vermeiden. Unternehmens-berater Marius Hoppensack erklärt, wie die jetzige Lage entstanden ist, welche Faktoren zusammenwirken und was getan werden kann, um einen solchen eklatanten Mangel an Ware abzuwenden.

Die Produktion wieder nach Europa zurückzuholen ist eine stark diskutierte und inzwischen auch häufig umgesetzte Option für Unternehmen, um wieder zu kürzeren Vorlauf- und schnelleren Reaktionszeiten zu kommen.  Ein mit Ware gut versorgter Händler ist auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Die Lieferkettenprobleme sind noch nicht behoben. 

Während der Pandemie erhielt das Fahrrad als zwischendurch letztes vorhandenes Freizeitvergnügen große Aufmerksamkeit, was die Nachfrage beflügelt hat. In dieser Phase sind leider zeitgleich auch die Abläufe in den Lieferketten ins Holpern gekommen. Der starke Fokus der Radbranche auf eine Ein-Lieferantenstrategie bei einigen Komponenten reduzierte dabei die Möglichkeiten für alternative Bezugsquellen. Herauszustellen ist hier, dass diese Strategie vorrangig nicht durch Einkäufer von Fahrradherstellern, sondern durch die Nachfrage der Endverbraucher nach den Anbauteilen von wenigen ausgewählten Marken getrieben wurde.

Wer die Peitsche schwingt

Ironischerweise hat gerade das Wissen über den Bullwhip-Effekt bei diesen Lieferanten zu einer verspäteten Reaktion und einem Anziehen der Produktionsmengen geführt. Der Bullenpeitscheneffekt beschreibt, wie eine Bedarfsspitze bei den Endverbrauchern zu der Annahme führt, dass ein grundsätzlicher Bedarfsanstieg vorläge und in der Folge das Lager aufgefüllt wird. Dieses Auffüllen des Lagers führt zu Mehrbedarfen bei den Lieferanten, die ebenfalls Lager auffüllen. Je weiter ein Lieferant in einer Lieferkette vom Kunden entfernt ist, desto größer sind die Ausschläge der Bedarfe, wenn das Wissen über den Bullwhip-Effekt fehlt. Dies führt zu extrem hohen Kosten und ineffizienten Lieferketten. Als Sinnbild gilt hier die Peitsche, wobei der Endverbraucher den Griff der Peitsche in der Hand hält und das Seil die Ausschläge der Lagerbestände nach oben und unten symbolisiert. Wenn wir die Ausschläge des Peitschenseils betrachten, stellen wir fest, dass diese immer größer werden, je weiter wir uns vom Griff der Peitsche entfernen – bis es schließlich am Ende knallt.
Dem Bullwhip-Effekt arbeiten Partner in einer Lieferkette entgegen, indem sie sich gegenseitig mit Prognosen darüber informieren, wie sich die Bedarfe in Zukunft entwickeln werden. Gerade am Anfang der Pandemie war ihr weiterer Verlauf und damit auch die Bedarfsentwicklungen in der Fahrradbranche ungewiss, sodass die Prognosen eher verhalten getroffen und dementsprechend die Steigerungen der Produktionsmengen erst versetzt weitergegeben wurden. Ein nachvollziehbares Verhalten, da das Aufstocken der Lagermenge als Investition zu verstehen ist. Damit sich Investitionen rechnen, muss man einschätzen, wie sich die Zukunft entwickelt. Sind die Entwicklungen in der Zukunft ungewiss, ist es sinnvoll, mit Investitionen konservativ umzugehen. Zusätzlich haben die Logistikprobleme durch den geringeren Flugverkehr und die Verlagerung der Bedarfe zwischen verschiedenen Branchen zu einem Engpass bei Rohstoffen geführt und behindern auch weiterhin die Nachproduktion.

Verschiebung der Machtverhältnisse

Das Resultat sind Lieferengpässe und Lieferanten, die sich aussuchen können, wen sie beliefern. So beliefert hier ein Lieferant vorrangig die Unternehmen weiter, mit denen bereits eine gute und reibungsfreie Lieferanten-Kunden-Beziehung besteht.


Ein mit Ware gut versorgter Händler ist auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Die Lieferkettenprobleme sind noch nicht behoben.

Durch die entstandene Verschiebung der Verhandlungsmacht zugunsten der Lieferanten haben einige Unternehmen einen großen Wert auf Beschaffungs-Marketing gelegt. Beschaffungs-Marketing beantwortet die Frage, wie ein Unternehmen seine Lieferanten positiv beeinflussen kann, um von ihnen zu besten Konditionen oder bei Lieferengpässen in größeren Mengen beliefert zu werden. Unternehmen werben also bei Lieferanten für sich als guten Kunden, was im Kontrast zum einseitigen »Lieferantenprügeln« à la José López steht, der in den 80er-Jahren Lieferanten in der Automobilindustrie durch zu harte Preisverhandlungen in die Insolvenz getrieben hat. In Zeiten, in denen Lieferfähigkeit und Produktqualität als selbstverständlich gegeben gelten, wird der Preis zur wichtigsten Kenngröße für gute Lieferanten. Genau in diesen Zeiten spielen Kunden ihre Verhandlungsmacht aus, mit dem Ziel, den bestmöglichen Preis für eine spezifische Leistung zu bekommen. In diesen Zeiten spricht man auch von einem Nullsummenspiel. Die Differenz zwischen allen Input-Faktoren in einer Lieferkette und dem Verkaufspreis der Produkte bilden den zu verteilenden Gewinn in einer Lieferkette ab. Wenn keine Effizienzsteigerungen durch engere Kooperationen durch Partner in einer Lieferkette angestrebt werden, kann jeder Akteur in der Lieferkette seinen Gewinn nur erhöhen, indem er günstiger einkauft und teurer verkauft. Dann werden vor Partnern möglichst alle Informationen zurückgehalten, die nicht für die Zusammenarbeit unmittelbar notwendig sind, um in Verhandlungen dem Gegenüber wenig Spielraum für Argumentationen zu geben.
Durch die derzeitigen Lieferengpässe rücken die Partner einer Lieferkette zumeist enger zusammen. Hier werden bestmögliche Prognosen an die Lieferanten weitergegeben, sodass diese ihre Ressourcen so effizient wie möglich nutzen können, damit mehr von der richtigen Ware im Markt ist.
In Einzelfällen wird der Lieferant durch seinen Kunden sogar dabei unterstützt, die Waren für deren Produktion zu beschaffen.
Nichtsdestotrotz haben Unternehmen den Anreiz, Hamsterkäufe zu tätigen, um die eigenen Lager zu füllen und eine höhere Lieferfähigkeit als die Konkurrenz zu erwirken. Hierbei führt jeder Warenkauf mit dem Ziel des »Parkens der Produkte« im Lager zu einer zusätzlichen Verschärfung der Lage und im schlimmsten Fall zu einer falschen Verteilung der Ware im Markt. So haben heute beispielsweise einige Händler die Waren, die ein anderer Händler bräuchte und um-gekehrt. Um dies zu entschärfen, bräuchte es ein anderes Verhalten.
Kunden in einer Kunden-Lieferanten-Beziehung sind angehalten, genaue Prognosen und Prioritäten für Bedarfe in den folgenden Monaten zu erstellen, diese ihren Lieferanten zur Verfügung zu stellen und genau nach diesen Prognosen die Waren abzurufen. Dadurch können für den Lieferanten eine bessere Planbarkeit erwirkt, die zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal genutzt und die Waren den Kundinnen und Kunden pünktlich zur Verfügung gestellt werden. Ein tiefgreifender Austausch über echte Bedürfnisse und »Nice-to-have´s« und der kooperative Umgang sowie der Austausch von Waren, die bereits am Markt verfügbar sind, ist hier das Ziel des Tuns, um gemeinsam die angespannte Situation bestmöglich zu bewältigen.

Knappsackproblem als Aufgabe

Gleichzeitig ist auch der Lieferant getrieben, seine Gewinne zu maximieren. Während in Zeiten ohne Lieferengpässe ein Staffelpreis üblich ist, der mit zunehmender Menge immer weiter fällt, kann nun eine Änderung der Preisgestaltung sinnvoll werden. Nehmen wir zunächst den üblichen Fall an: Ein Lieferant hat gewisse Kosten je produzierte Einheit, die vereinfacht immer gleich sind. Dazu kommen Transaktionskosten für die Abstimmung mit dem Kunden und das Rüsten für den Auftrag. Da die Transaktionskosten mit der Ausbringungsmenge höchstens unterproportional steigen, fällt der Preis pro Einheit mit einer steigenden Bestellmenge.


Die Produktion wieder nach Europa zurückzuholen ist eine stark diskutierte und inzwischen auch häufig umgesetzte Option für Unternehmen, um wieder zu kürzeren Vorlauf- und schnelleren Reaktionszeiten zu kommen.

Resultat ist der übliche Staffelpreis, wobei der Gewinn je Einheit üblicherweise geringer mit zunehmender Menge wird.
In Zeiten von Lieferengpässen löst der Lieferant das sogenannte Knappsackproblem. Das Knappsackproblem beschreibt das Sinnbild eines Rucksacks, der zu einer Wanderung mitgenommen wird. Der Rucksack hat nur ein begrenztes Fassungsvolumen. Die Utensilien, die zur Auswahl stehen, um mitgenommen zu werden, benötigen jeweils ein gewisses Volumen und weisen einen individuellen Nutzen auf. Das Ziel ist es, den Rucksack so zu packen, dass er voll ist und gleichzeitig die Utensilien mitgenommen werden, die den größten Nutzen bieten. Analog dazu hat der Lieferant eine gewisse Ausbringungsmenge anstatt des Volumens in einem Rucksack. Statt Utensilien hat er mehrere Kunden zur Auswahl, mit jeweils individuellen Vorzügen in Form von Gewinn und strategischem Nutzen. Der Lieferant versucht demnach, die Kunden in der Form zu beliefern, dass er den bestmöglichen Nutzen hat. Auch in diesem Fall gibt es Transaktionskosten und Kosten je Einheit. Da nun aber die Ausbringungsmenge begrenzt ist und der Lieferant seinen Gewinn maximieren möchte, möchte er am liebsten je Einheit mehr Gewinn machen und zudem seine Ware auf möglichst viele Kunden streuen, um das Ausfallrisiko zu minimieren. Das Resultat ist, dass sich die unterschiedlichen Staffelpreise annähern und geringere Sprünge üblich werden. Zudem fokussiert sich der Lieferant auf den Verkauf der margenstärkeren Produkte. Diese sind in der Radbranche vereinfacht das E-Bike als margenstärkstes Produkt, dann Fahrräder und als margenschwächstes Produkt die Ersatzteile.

Bleibender Nachfrageanstieg und Reshoring

Mittlerweile gehen viele Unternehmen davon aus, dass die Nachfrage in der Radbranche grundsätzlich angestiegen ist, sodass Produktionsressourcen in den Lieferketten langfristig aufgebaut werden. Hierzu müssen neue Mitarbeiter, neue Prozesse und teilweise sogar neue Partner etabliert werden, womit erste Abstimmungen, Bemusterungen und ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess einhergehen. All dies führt zunächst zu einer größeren Schwankung in der Produktqualität, der sich die Radbranche derzeit gegenüber sieht.
Angesichts dieser Entwicklung ist das Thema Reshoring immer interessanter geworden. Europa hat im Gegensatz zu Asien den offensichtlichen Vorteil, dass die Ware vom Produzenten schneller am Absatzmarkt Europa ist. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass für die meisten Hersteller große Absatzmärkte weiterhin außerhalb von Europa liegen. Angesichts der höheren Lohnkosten und des Fachkräftemangels geht die Entwicklung in der Branche zum Aufbau von hoch automatisierten Produktionsstraßen, was ein Reshoring erst wirtschaftlich sinnvoll macht. Der große Nachteil bei einer hohen Automatisierung ist die geringere Flexibilität im Vergleich zur manuellen Fertigung. Aus diesem Grund sind für das Reshoring vor allem Produkte interessant, die im Baukasten-Prinzip hergestellt werden. Das Baukasten-Prinzip wird vor allem in der Automobilbranche eingesetzt, damit beispielsweise die gleichen Motoren in einer Vielzahl von Fahrzeugen verbaut werden können. Dadurch werden die Anzahl der herzustellenden Motorenvarianten und die Rüstkosten in der Produktion reduziert. Analog dazu können Rahmen hergestellt werden, die bei verschiedenen Rahmengrößen vorrangig weiterhin die gleichen Grundelemente enthalten, wie es einzelne Hersteller wie Canyon bereits in ihrem GeoBend-Konzept-Bike vorgestellt haben. Trotzdem bleibt zu erwarten, dass die Kosten der Produktion in Europa für die meisten Produkte zunächst höher sein werden als in Asien. Aus diesem Grund werden sich zunächst nur ausgewählte Unternehmen für das Reshoring entscheiden und Produktionen nur in Joint-Ventures gegründet werden können, um die Abnahmen sicherzustellen. Jedoch sieht auch Asien einen Fachkräftemangel durch die Ein-Kind-Politik und den damit einhergehenden demografischen Wandel auf sich zukommen. Hinzu kommen der öffentliche Druck zu nachhaltigen Lieferketten sowie die Lieferkettengesetze, die den Standort Europa langfristig interessanter werden lassen, sodass Reshoring in einigen Jahren immer mehr Thema werden wird.

Partnerschaft zur Problembewältigung

Um Situationen wie die aktuelle Lieferproblematik zu bewältigen, ist es nötig, dass innerhalb einer Lieferkette zusammengerückt wird. Die Kunden-Lieferanten-Beziehung wird idealerweise zu einer Partnerschaft, um gemeinsam die Effizienz zu steigern und die vorhandenen Kapazitäten am gewinnbringendsten zu nutzen. Gleichzeitig gilt es, langfristig größere Kapazitäten aufzubauen, was Investitionen seitens der Lieferanten notwendig macht, die mit langfristigen Rahmenverträgen abgesichert werden können, um eine Abnahme für den Lieferanten sicherzustellen. Zudem ist der langfristige Aufbau von alternativen Lieferquellen für Unternehmen in der Radbranche notwendig, wenn erneute Krisensituationen vermieden werden sollen. Alternativen können der Aufbau und die Qualifikation von neuen Lieferanten über Joint-Ventures bis hin zur Eröffnung eigener Produktionen sein. Eine Multi-Source-Lieferantenstrategie schafft zwar zusätzlichen Aufwand in der Lieferantenbetreuung, verteilt das Ausfall- oder Engpassrisiko bei Lieferunfähigkeiten jedoch auf mehrere Lieferanten.
Auch in Zukunft kann es zu Lieferengpässen kommen. Aktuell entwickeln sich etwa Rohstoffengpässe bei seltenen Erden, wodurch steigende Preise zu erwarten sind. Die Lieferanten werden auch hier die Kunden und Branchen beliefern, mit denen sie langfristig die größten Gewinne erzielen können. Durch die herausragende Entwicklung der Radbranche konnte sich das Fahrrad im Vergleich zu Substituten sehr gut positionieren. Unter anderem stieg die Zahlungsbereitschaft der Kundinnen und Kunden in den letzten Jahren. Preissteigerungen für Rohstoffe und Logistik seit Beginn der Pandemie konnten auf diesem Wege zu großen Teilen abgefangen und Lieferanten weiterhin bezahlt werden.
Dass es immer wieder zu unvorhersehbaren Black-Swan-Ereignissen kommen kann, zeigt gerade wieder die Ukraine-Krise. Es gibt für Unternehmen also sehr gute Gründe, langfristige Lösungsansätze zu spielen, um bestmöglich vorbereitet zu sein. Wer in diesen Situationen richtig reagieren kann, sichert sein Geschäft und die Zukunft des Unternehmens.

7. April 2022 von Marius Hoppensack
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