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Report // Spezialräder

"Diese Radgattung kommt erst noch richtig in Schwung!"

Wo steht eigentlich das Spezialrad? Gefühlt hat das »normale« E-Bike diese Nische in Bedrängnis gebracht. Doch das entspricht nicht den Realitäten. Die Nische hat sich gewandelt, ist mitgewachsen und vielleicht ist der Begriff sogar hinfällig.

Wer in Europa über Spezialräder spricht, kommt um den großen Kommunikator und Netzwerkbereiter für dieses Branchensegment seit 25 Jahren nicht herum: Die Spezi. Das »Frühlingsfest des besonderen Fahrrads« hat allerdings leider coronabedingt im April 2019 zum letzten Mal stattgefunden. Gefühlt ist es deshalb ruhig geworden um eine Nische, die sich währenddessen mehr oder minder leise gewandelt hat. Doch »die Nische ist existent und vielschichtig wie eh und je«, bekräftigt Hardy Siebecke, Gründer und Veranstalter der Spezialradmesse, die Ende April 2023 dann erstmals ich Lauchringen über die Bühne gehen soll velobiz.de berichtete . Der Ausstellerandrang sei für die nächste Ausgabe jetzt schon groß. »Wir reden da vor allem über Typen, über Innovationen. Über Vorausgehen. Weniger über die großen Fahrradhersteller.«

Das Pino von Hase Bikes ist ausdrücklich als »Pino Cargo« für Lasteneinsätze empfohlen. So will man das vielseitige Bike auch in der der Cargobike-Ecke positionieren.

Die hat die Spezialradmesse noch nie angezogen. Was vielleicht gut war, denn die Nische blieb so unter sich und ließ den Kleinen, Kreativen ihren Raum. Sie war schon immer sehr rührig und arbeitete mit sehr aktuellen technischen Entwicklungen. »Tatsächlich hat die Spezialradbranche den Motor schon lange vor dem E-Bike-Boom sinnvoll eingesetzt, vor allem im Reha-Bereich«, erklärt Siebecke, der bis vor wenigen Jahren in Germersheim auch einen Spezialrad-Fachhandel betrieb. »Und was durch den Motor erreicht worden ist, ist ja beispiellos in der Fahrradgeschichte. Der Nische Spezialrad hat er einen enormen Schub gegeben. Selbst in der Liegezweiradszene ist die Unterstützung nicht mehr wegzudenken. Was mich als Händler schon faszinierte: Der Motor hat auch beim Spezialrad alle Dämme in der Preisdiskussion gebrochen. Man muss nicht mehr endlos erklären, warum ein gutes Fahrrad so viel kostet.«

Für Siebecke ist die Nische gleich strukturiert, aber gewachsen. »Auch das Cargobike hat sich nicht abgekoppelt«, fügt er hinzu. »Unsere Spezi-Plattform ist für das Neue, das Innovative, das Entstehende. Und das war schon immer so.« Insofern sei die Spezialradmesse immer auch ein »Fitzelchen der Zukunft der Mobilität«, wie es in einer Besprechung zur Spezi einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gestanden haben soll.

Ob sich mittlerweile erwachsen gewordene Faltrad- oder Cargobikehersteller nicht doch auf den klassischen, großen Messen mittlerweile besser aufgehoben fühlen, kann erst das nächste Jahr zeigen. Für Siebecke jedenfalls gilt die Definition: Spezialräder sind das, was Innovation und neue Wege in die Fahrrad-Branche bringt.

Das Faltrad ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich ein vermeintliches Spezialrad im breiten Massenmarkt etabliert und zum »Normalrad« wird.

»Spezialräder haben sich etabliert«

»Klar gibt es noch viele Spezialräder, aber das Falt- und das Kompaktrad sind in der Mitte der Fahrradgesellschaft angekommen«, analysiert Uwe Weissflog, Geschäftsführer bei der Agentur InmotionMar, die sich unter anderem um die Vermarktung der Marke Tern kümmert. »Wir sind eta­bliert. Probleme wie Platzmangel und erhöhte Diebstahlgefahr werden durch Kompakt- und Falträder angegangen, die Intermodalität sowieso. Wie wichtig Kompakträder geworden sind, erkennt man schon an den vielen Standard-Marken, die jetzt solche Velos bauen. Dasselbe erleben wir bei den Longtail-Cargobikes, die vor fünf Jahren nur auf der Spezialradmesse anzutreffen waren.«

Bei Tern hat man über die letzten Jahre wahrgenommen, dass es einen Kritische-Masse-Effekt gibt. Ab einer gewissen Häufigkeit, in der Spezialräder in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, fallen sie in der Wahrnehmung nicht mehr als etwas Ungewöhnliches auf. »Und Ausdifferenzierung des Angebots ist für den Händler eine große Chance. Wenn er genau das Rad für den jeweiligen Bedarf bieten kann, fühlt sich der Kunde oder die Kundin verstanden.« Löst sich die Reha-Sparte auf?

»Oft ist ›Reha‹ oder ›nicht Reha‹ einfach eine Altersfrage«, sagt Alexander Kraft, von HP Velotechnik. »Irgendwann will man nicht mehr so tief sitzen beziehungsweise von so tief aufstehen, und dann ist ein Trike mit höherem Sitz fällig. Das hat nichts mit der Einstufung als Reha-Fahrzeug zu tun!« Der Pressesprecher des Krifteler Spezialrad-Unternehmens spricht damit einen wesentlichen Punkt an: »Die Grenze zwischen Reha-Trike und Alltags-Dreirad ist fließend.« Gibt es sie überhaupt noch? Vielleicht ist sie dort, wo der normale Pedalantrieb durch Handantrieb ersetzt wird? »Wir fahren jedenfalls seit etwa zehn Jahren zweigleisig«, sagt Kraft. Unterschiedliche Altersgruppen hätten unterschiedliche Bedürfnisse. Da kann das Bedürfnis nach Fahrdynamik nachlassen und von dem nach mehr Übersicht im Verkehr wenigstens teilweise ersetzt werden.

»Der E-Spezialradmarkt ist in den letzten Jahren kontinuierlich, aber nicht sprunghaft gewachsen«, meint Kraft. »Wir haben schon vor Corona bis zu 60 Prozent E-Bikes gebaut. Daher waren die Ausschläge der Entwicklung unserer Verkäufe zu Corona-Zeiten nicht so sprunghaft wie im sonstigen E-Bike-Markt. Klar hatten wir damals wegen der Lieferkettenprobleme auch schwierige Zeiten, aber uns hat das nicht so stark getroffen wie viele andere.« Grundsätzlich glaubt man bei HP Velotechnik, dass manche, die während der kontaktarmen Zeit das Radfahren wieder für sich entdecken wollten, sich auf dem normalen Zweirad nicht mehr wohl fühlten. So entdeckten sie für sich das dennoch sportliche Trike mit Liegesitz, auf dem man keine Angst vor Umkippen in Gefahrensituationen haben muss.

Man ist also froh, dass man trotz Lieferkettenproblematik eine durchweg gute Entwicklung hatte. »Im Moment sind die Umsatzentwicklungen stabil und der Zugewinn wird wohl auch in nächster Zukunft deutlich sein. Wenn auch nicht so extrem wie im Cargobike-Bereich.« Darin wird man in Kriftel wohl in naher Zukunft kein Player: »Das passt nicht so gut zu unserem Trike-Konzept. Man braucht ganz andere Gewichtsvorgaben, die Bremsen müssen ganz anders dimensioniert sein.« Eine der Vorgaben für die Radmodelle des Unternehmens sei nach wie vor ein vielfältiger Einsatzbereich.

Doch »die Cargobikes geben uns Windschatten«, ist Kraft überzeugt. Sie öffnen immer mehr auch beim »normalen« Fahrradfahrer den Blick für das Spezialrad.
Und noch eine Prognose gibt Kraft ab: »Spezialrad wird sich ausweiten.« Vor diesem Hintergrund muss man die wichtigste Neuheit aus dem Unternehmen sehen. HP Velotechnik stellte zur Eurobike das erste als S-Pedelec eingestufte Liege-Zweirad vor. Gedacht ist das schnelle, dynamische Bike als Pendlerrad für längere (Arbeits-)Strecken. »Schnell fahren konnte man damit immer schon, jetzt auch noch lange schnell«, scheint man sich bei HP gedacht zu haben. Die Speedmachine durchlief für ihre Zulassung kein Einzelverfahren: Sie und das Scorpion-S-Pedelec, ein Trike, haben nun eine Typenzulassung, was bedeutet, dass HP Velotechnik nun wie ein Automobilhersteller gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt auftritt.

Der Elektromotor hat auch bei Spezialrädern zu einem deutlichen Nachfrageschub geführt.

»Der Boom kommt erst noch«

Auch Kevin Wank, Geschäftsführer von Pfautec, einem der größten Hersteller von Reha-Bikes und klassischen Aufrecht-Dreirädern, kann bestätigen: »Der E-Motor hat das Thema Dreirad deutlich angekurbelt. Wir haben in den letzten Jahren immer um die 20 Prozent zugelegt.« Das Unternehmen Pfautec entstand 1999. Mit dem damaligen Partner Kynast wurden in Lizenz Dreiräder und Reha-Räder entwickelt und gebaut. Nach der dritten Kynast-Insolvenz wurde Pfautec eigenständig. Als Vertriebsunternehmen wird zusätzlich die Pfiff GmbH gegründet. Heute haben die Unternehmen etwa 80 Mitarbeiter.

Ungewöhnlich ist, dass Pfautec die Rahmen selbst in Deutschland entwickelt und baut. »Das hat uns in den letzten zwei Jahren viel geholfen«, sagt Wank. »Ein Teil der Lieferprobleme blieb uns damit erspart. Außerdem haben wir nun auch eine eigene Laufrad-Produktion mit einem Hollands-Mechanics-Einspeichautomaten. Das begünstigt uns zusätzlich, aber natürlich sind auch wir an Lieferketten gebunden. Wenn Bosch-Akkus gerade nicht lieferbar sind, spüren wir das natürlich genauso. Im Großen und Ganzen können wir aber gut liefern.«

Die Produktpalette und die Handelspartner haben sich rasant geändert: »Wir verkaufen immer mehr über den normalen Fahrradhandel, richten uns immer mehr an die breite Masse. Oft ist beim Kunden der Wunsch nach dem Dreirad verbunden mit einem verminderten Gefühl fürs Gleichgewicht. Der allgemeine E-Bike-Boom erleichtert auch den Zugang zu Dreirädern. Es ist nicht mehr schambehaftet, Unterstützung in Sachen Balance oder Kraft nötig zu haben.«

»Je mehr Dreiräder durch die Gegend fahren, desto bekannter und akzeptierter wird für den Kunden das Dreirad«, erklärt Wank. Auch bei Pfautec ist der Anteil an E-unterstützten Rädern stark gewachsen. Derzeit hat man vor allem den Export im Fokus. 25 Prozent sollen es in naher Zukunft werden, derzeit liegt man bei 18, wobei das deutschsprachige Ausland schon sehr gut bedient wird. Eher nebenher läuft das Lastenrad-Portfolio für Industriekunden.
Die Zukunft scheint rosig: »Während der Boom beim Normal-E-Bike etwas zurückgeht, hat ihn das Dreirad mit Motor noch vor sich«, ist sich Wank sicher. Und die Preisentwicklung spielt hier eine noch untergeordnetere Rolle: »Wer seine verlorene Mobilität zurückgewinnt, ist gern bereit, dafür zu bezahlen.«

Demografischer Wandel fördert das Spezialrad

»Die Tendenz ist, dass das Spezialrad in der Wahrnehmung immer mehr zum Normalrad wird«, sagt auch Marec Hase, Gründer des Waltroper Unternehmens Hase Bikes. »Die Räder, die man im öffentlichen Raum wahrnimmt, werden immer unterschiedlicher, und das ist gut so.« Das Spezialrad erobert sich seinen Raum nach und nach auch selbst. So ist zu erklären, dass das Lepus, ein seit langen Jahren erhältliches und immer wieder aktualisiertes Hase-Bikes-Modell für Alltag und komfortable Touren, nicht mehr als Rad für Personen mit Einschränkungen angesehen wird. Es ist einfach ein Komfortrad, vielleicht die logische Folge auf den Tiefeinsteiger mit zwei Rädern. »Der demografische Wandel führt dazu«, so Hase, »dass der Bedarf an solchen Rädern steigt.«

Das derzeit einzige Zweirad des Herstellers, das Tandem Pino, hat seit jeher eine echte Fangemeinde. Seit einigen Jahren kann es nach wenigen Handgriffen und dem Anbringen einer großen Tasche auch als Lastenrad benutzt werden. In Zeiten des Lastenrad-Booms ist diese »potenzielle Transportversion« vielleicht zu wenig auffällig. Daher bietet Hase das Rad nun auch dezidiert als »Pino Cargo« an, als ein Lastenrad, das auch als Familienrad genutzt werden kann. »Das Pino soll von der Wahrnehmung her noch besser in die Cargobike-Ecke passen und auch so wahrgenommen werden«, erklärt Hase den verlagerten Kommunikations-Schwerpunkt. Dass das Pino durch die Verstellbarkeit des Rahmens gut zu transportieren ist, hebt das Rad im Cargobike-Sektor deutlich heraus.

»Dabei versuchen wir, mit unseren Rädern so einfach und eingängig wie möglich zu bleiben«, erklärt Hase. »Der Kunde muss auch das Spezialrad verstehen, sonst wird er es nicht kaufen!«

Die Vision für die nächsten Spezialradjahre? »Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Spezialrad immer mehr in anderen Bereichen aufgeht. Vor allem auch in Mobilitätsnischen, in denen viele Start-ups unterwegs sind. Es wird immer vielfältiger, und die Kreativität, die eine Spezialradnische schon immer hatte, unterstützt das nur. Die beginnende Mobiliätswende führt außerdem dazu, dass jetzt auch große Firmen lernen und die Sache kreativer angehen.«

Stärkt Autofahren den Spezialrad-Markt?

Blickt man auf die Nachbarn, hat gerade in Fahrrad-Hochburgen wie Holland und Belgien das Spezialrad bei Weitem nicht so viel Marktanteil wie in Deutschland, das Lastenrad einmal ausgenommen. Liegt es daran, dass das Spezialrad in diesen Ländern nicht so »nötig« ist, da beispielsweise die Infrastruktur schon immer auch auf das Velo ausgelegt war und Fahrradmitnahme in den öffentlichen Verkehrsmitteln in vielen Fällen und für fast alle Strecken selbstverständlich ist? Dass es dort normal ist, auch ein ausgewachsenes Fahrrad komfortabel im Haus oder in einem sicheren Unterstellplatz am Haus unterbringen zu können? Jedenfalls scheint die Vorherrschaft des Autos mit all seinen Nachteilen für die Fahrradgemeinde hierzulande ein bisschen dazu zu führen, dass das Spezialrad hier bis auf Weiteres eine besondere Stellung einnimmt. //

Was ist ein Spezialrad?

Eine recht einfache, aber klare Negativdefinition war bis vor einigen Jahren: »Das ist ein Zwei- oder Dreirad, das nicht beim typischen Fahrradhändler im Laden steht. Ein bestimmtes Modell oder eine Typvariante kann aber vielleicht bei ihm bestellt werden.«

Dazu gehörten Dreiräder verschiedenster Couleur, Falträder, Kompakträder und Lastenräder sowie Tandems. Dazu kamen Räder für die Reha oder dezidiert für Menschen mit Einschränkungen, die in puncto Antrieb oder Steuerung deutlich vom klassischen Fahrrad abrückten, also etwa per Hand angetrieben wurden oder mit Speziallenker für Armstümpfe bedient wurden. Heute ist fast die komplette Bandbreite beim ehemaligen Brot- und Butter-Händler vertreten, klassische Reha-Räder, die auf die Nutzer oder Nutzerinnen eingestellt werden müssen, ausgenommen. Die Händler tun sich lediglich mit tiefen Trikes noch etwas schwer, Aufrechtdreiräder findet man beim »normalen« Händler schon häufig.

18. Oktober 2022 von Georg Bleicher

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