
Markt - Reshoring und Nearshoring
Eine Frage der Rahmenbedingungen
Die Leitmesse Eurobike ist das beste Beispiel dafür, wie global vernetzt die Fahrrad- und E-Bike-Industrie heutzutage ist. Bis auf wenige Ausnahmen kommt kaum ein Fahrradmodell ohne Komponenten aus, die im Ausland, häufig in Asien, gefertigt wurden. Gerade zu Pandemiezeiten hat die lange Lieferkette der Fahrradbranche erhebliche Probleme bereitet. Zu dieser Zeit ließen sich vermehrt Forderungen danach vernehmen, Produktionsprozesse zurück in die Heimatländer der Hersteller (Reshoring) beziehungsweise in nahe gelegene Länder (Nearshoring) zu verlegen.
Ein Unternehmen, das im Kontext der Covid-19-Pandemie näher an den österreichischen Standort gerückt ist, ist der Kinderradhersteller Woom. Motiviert war das durch eine Explosion der Transportkosten und begrenzten Ausbaukapazitäten in Asien. Anfang 2021 nahm das Unternehmen eine Montagelinie bei einem polnischen Partnerunternehmen in Betrieb. Für die Produktion von Woom sind nun fünf Standorte relevant, von denen drei in Asien und zwei in Europa liegen. COO Johannes Kisslinger erklärt: »Aus Resilienzgründen ist es das Ziel, die Produktion zwischen den Standorten und Regionen ausbalanciert gleich zu verteilen.« Nicht alle Eier in einen Korb zu legen, könne entscheidend sein, wenn ein Standort von neuen Zöllen, geopolitischen Krisen, Naturkatastrophen oder Streiks betroffen ist. Die Standortfrage ist für den Hersteller ein Dauerbrenner, so Kisslinger: »Das Thema ist bei uns laufend in Bewegung, weil wir uns sehr schnell entwickeln und global Märkte bedienen.«
Einen Teil der Wertschöpfungskette in Europa zu betreiben, hat betriebswirtschaftliche und organisatorische Vorteile für Woom. Das Unternehmen kann Räder, die in Europa montiert werden, leichter nach Farbe und Modellen priorisieren und so schneller auf Marktschwankungen reagieren. Zudem ist der Cash-Conversion-Cycle, also eigentlich die Lagerdrehzahl, kürzer als bei asiatischen Montagebetrieben. Dort sorge der lange Transport dafür, dass Hersteller Räder schon lange vor dem Verkauf bezahlen müssen. Vorteilhaft sei auch, Geschäfte in Euro abwickeln zu können. Die geografische Nähe erleichtere es Woom, die Qualität zu betreuen und Änderungen vorzunehmen. Auch für die Entwicklungsabteilung seien die Nähe zum Standort und die nicht vorhandene Zeitverschiebung in Polen praktisch.
Ohne asiatische Teile geht es kaum
Für eine neue Produktlinie habe man sich jüngst bewusst für einen Partner in Europa entschieden, um den Vorteil der kurzen Wege zu nutzen, verrät Kisslinger. »Da steckt sehr viel neue Technologie für uns drin, was Produktionsverfahren und Materialien betrifft.« Dennoch betont der COO, dass eine Produktion über die Montage hinaus häufig am Geld scheitert. »Einen Aluminiumrahmen in Europa zu finden, der in unsere Preiskategorie passt, bleibt eine Herausforderung«, ordnet Kisslinger ein.
Die Produktionsstätte in Polen ist einer von fünf relevanten Standorten für Kinderradhersteller Woom. Ziel ist es, die Produktion zu verteilen, um resilent zu sein.
Erschwerend wirkt, dass selbst ein in Europa produzierter Rahmen sich kaum ohne asiatische Komponenten und somit eine global verflochtene Lieferkette bestücken lässt. »Die Komponentenwelt und die Expertise für Komponenten ist in Asien. Es ist eine große Herausforderung, einen Großteil der Komponenten für Fahrräder in Europa zu sourcen, insbesondere wenn man nicht im High-End-Bereich tätig ist.«
Produkte als Plattform aufbauen
Jayu Yang ist Investorin und Beraterin des Fahrradherstellers Haro Bikes, der US-amerikanische Wurzeln in der BMX-Szene hat und seit wenigen Jahren den europäischen Markt bespielt. Auch sie sieht vor allem im höherpreisigen Segment Raum dafür,
Produktionsschritte in Europa durchzuführen. »Wenn der Wert des Endprodukts höher ist, macht es mehr Sinn, in Europa zu montieren«, sagt Yang. Fahrräder für den europäischen Markt montiert das Unternehmen in Deutschland. Um dabei flexibel zu sein, hilft vor allem die Angebotsstruktur, wie Verena Begemann, General Manager bei Haro Bikes, erklärt: »Wir verstehen unser Produktportfolio als modulare Plattformen – ähnlich wie es in der Automobilindustrie üblich ist.« Montiert werden die Räder dann je nach Kundenwunsch mit verschiedenen Qualitätsstufen an Komponenten. Die Konstruktion und Lackierung erfolgen zuvor in Taiwan.
Reaktionsschnell zu sein, sei wichtig, weil viele Händler ihre Ware heute spontaner ordern. Begemann erklärt: »Die Weise, wie Händler seit Covid Bestellungen aufgeben, hat sich sehr verändert.«
Große Lagerbestände hat der Handel schon immer gerne vermieden, heute liegt besonders hohes Augenmerk auf diesem Thema. »Heute ist mehr Flexibilität gefragt. Order für ein ganzes Jahr im Voraus zu haben, ist ein großer Luxus, weil man weiß, wie viel Geld reinkommt«, sagt Jayu Yang. Der Geldfluss sei durch kürzere Orderzeiträume langsamer denn je, was eine Herausforderung für den Hersteller darstellt.
»Wenn man verschiedene Industrien vergleicht, hat die Fahrradindustrie eine der kompliziertesten Lieferketten«, so Yang. Die Vorlaufzeit, um Produkte aus Asien zu beziehen, betrage häufig rund ein halbes Jahr. Einzelne Produktionsschritte in Europa durchzuführen, kann unter Umständen dazu beitragen, Zeit zu sparen und den Warenumschlag zu beschleunigen. Das sei wichtig, weil die Kapitalkosten hoch sind. »Dieser Druck wirkt sich auf allen Ebenen der Lieferkette aus«, erklärt Yang. Ihr Blick auf die Kostenfaktoren zeigt, wie viele verschiedene Gründe in die Standortentscheidungen einfließen. Auch Zölle, die verfügbaren Arbeitskräfte und den Aufwand, individuelle Vorschriften einzuhalten, gilt es zu berücksichtigen.
Bürokratie und andere Hürden
Gerade um in Deutschland und anderen europäischen Ländern mehr Fertigungstiefe wiederzuerlangen, sieht man bei Haro Bikes größere Herausforderungen, etwa durch saisonale Schwankungen in der Produktion. Spezifisch für Deutschland kritisiert Yang zudem die umfangreiche Bürokratie: »Alles kostet so viel Zeit in der Verwaltung.« Als Mensch aus dem außereuropäischen Ausland eine Firma aufzubauen, sei schwierig. »Der schwerste Schritt ist tatsächlich, ein Bankkonto zu eröffnen«, erklärt Yang.
Wer dennoch ein europäisches Land als Standort wählt, wähle häufig Länder mit wenigen Vorschriften und niedrigen Löhnen, etwa in Osteuropa. Dafür finden sich einige Beispiele, etwa das Giant-Werk in Ungarn oder das litauische Werk von Pon Bike. Bei Haro sieht man vor allem große Hersteller prädestiniert, solche Investitionen zu stemmen.
Auch der österreichische Hersteller KTM Fahrrad betreibt einen Standort in Osteuropa. Geschäftsführerin Johanna Grabner-Urkauf erklärt: »Unsere Zentrale und gleichzeitig der wichtigste Produktionsstandort liegt in Mattighofen. Um als Vollsortimentler auch Einstiegsklassen abdecken zu können, wird gerade im unmotorisierten Bereich auch bei unserer Tochterfirma in Tschechien produziert.«
Früher wurden Stahlrahmen von KTM Fahrrad direkt in Mattighofen gefertigt. Die aktuellen Rahmen kommen aus Asien. Über eine Tochterfirma pflegt der österreichische Hersteller eine enge Beziehung zu seinen Lieferanten. Zum Teil verfüge man über eigene Büros im Werk der Lieferanten, um möglichst nah an der Fertigung zu sein und die Qualität kontrollieren zu können. »Wir haben sehr gute und langjährige Beziehungen zu unseren Lieferanten«, erklärt Grabner-Urkauf. Das sei neben finanziellen Aspekten ein Mitgrund für die Produktion in Asien.
»Einen Aluminiumrahmen in Europa zu finden, der in unsere Preiskategorie passt, bleibt eine Herausforderung.«
Johannes Kisslinger, COO Woom
Lackiert werden die Rahmen dann in Österreich. Die hauseigene Lackiererei in Mattighofen sei ein großer Vorteil. Grabner-Urkauf erklärt die Hintergründe: »Das ist historisch gewachsen. Das andere ist natürlich, dass wir flexibel entscheiden können, welche Modelle wir in zwei bis drei Wochen bauen möchten oder auch müssen. Dabei sind wir unabhängig davon, welcher Rahmen wann geliefert wird.« Während der Pandemie habe die Anlage dazu beigetragen, den Lagerbestand an Kompletträdern besser kontrollieren zu können und auftragsbezogener zu arbeiten. Eine eigene Einspeicherei halte das Unternehmen zudem mit Blick auf die zu verbauenden Laufräder flexibel.
Politische Stellschrauben
Für mehr Fertigungstiefe in Mitteleuropa seien die Arbeits- und Energiekosten ein wichtiger Faktor. Grabner-Urkauf plädiert dafür, als Industrie in Verbänden zusammenzuarbeiten und sich so mehr Gehör bei der Politik zu verschaffen. Denn: »Wenn man eine Investition tätigt, ist das für einige Jahrzehnte. Da braucht es eine verlässliche Gesetzgebung.«
Als politische Stellschraube sieht Johannes Kisslinger von Woom die Möglichkeit, Investitionen zu fördern. Er betont zudem: »Aus Technologiesicht ist das Know-how in Europa für die Rahmenfertigung vorhanden, Asien steht Europa hier aber diesbezüglich in keinster Weise nach.«
Ihre Standortentscheidungen fällen Unternehmen nicht im Vakuum. Sie sind vielmehr von globalen Entwicklungen und politischen Entscheidungen abhängig. Bei KTM Fahrrad fällt etwa der freie Personenverkehr im Schengen-Raum ins Auge. Der ist wichtig, weil ein großer Teil der Belegschaft aus dem Ausland kommt. »Hätten wir diese Bedingungen nicht, könnten wir hier nicht über 100.000 Räder im Jahr produzieren.«
Wirtschaftlich dürften viele Unternehmen der Fahrradbranche nach dem Auf und Ab der letzten Jahre derzeit bei großen Investitionen eher sparsam agieren. Ob Reshoring und Nearshoring künftig die Standorte Deutschland und Europa stärken und unabhängiger machen, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass die Politik hierbei Einfluss nehmen kann. Hinweise für zielführende Schritte finden sich im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Die Bundesregierung will etwa die Stromsteuer und damit die Stromkosten reduzieren, einen Deutschlandfonds für Investitionen auf den Weg bringen und Bürokratie abbauen. Ob und wie sie diese Schritte umsetzt, bleibt abzuwarten. //
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