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Porträt - Classified

Einfach ambitioniert

Das belgische Jungunternehmen Classified wagt einen Vorstoß ins Geschäft mit Schaltgruppen. Statt überlieferter Technik möchte man eine smarte Nabenschaltung in den Markt drücken. Potenzial sehen die Erfinder auch beim E-Bike.

Der Weg ist steinig, aber beschreiten möchten sie ihn von Beginn an mit Stil. Wer das Fahrrad-technik-Start-up Classified zwischen alten Schlachthöfen im zunehmend modernisierten Stadtteil Den Dam in Antwerpen besucht, kann ins Staunen geraten. Ein schwarzer Schriftzug auf der Backsteinfassade des renovierten Altbaus am Damplein zeigt den Namen des ambitionierten Unternehmens an, und hinter den hohen Fenstern werken junge Männer an Rennrädern. Urban, modern, durchdacht und aus einem Guss, für einen Neuling auf dem Fahrradmarkt erweckt das belgische Unternehmen schon auf den ersten Blick einen ziemlich ausgeklügelten Gesamteindruck.

»Müssen alles erklären«: Die Gründer Roëll van Druten (Bild oben) und Mathias Plouvier (Bild unten, Mitte) zusammen mit Tom Boonen (rechts) im velobiz.de-Interview

Sie haben sich einiges vorgenommen, daher ist der Weg tatsächlich mühsam. Classified startete 2019 und bewegte sich gleich in die Spitzenklasse des Fahrradmarkts. Man drang ins Revier einiger der mächtigsten Unternehmen vor und sagte einem Triopol den Kampf an. Das belgische Unternehmen hat eine Schaltung entwickelt, die ohne vorderen Umwerfer arbeitet und mit einer Zwei-Gang-Nabenschaltung im Hinterrad nicht nur das gleiche Spek-trum abbilden soll wie die klassische
Konkurrenz, sondern zugleich einen Evolutionsschritt beim Schalten verspricht. Schaltungen von Classified lassen sich unter Volllast bedienen, von 1500 Watt spricht der Anbieter. »Wenn man es einmal ausprobiert hat, weiß man, wie sinnvoll und angenehm dieses Schalten ist«, sagt Roëll van Druten, der Erfinder und Mitgründer des Unternehmens. »Du wirst anders schalten und das Fahrrad anders nutzen, wenn du Classified kennengelernt hast.«
Van Druten ist promovierter Ingenieur, viele Jahre war er in der Automobil-Zulieferindustrie, ein renommierter Experte für Antriebstechnik. Seine Leistung als Innovator ist gut dokumentiert, zahlreiche Patente hält der Niederländer, er war eine treibende Kraft bei der Entwicklung von Doppel-Kupplungs-Getrieben. Neben seiner Arbeit für den belgischen Spezialisten Punch Powertrain war van Druten mit einem eigenen, kleinen Unternehmen schon seit Jahren daran tätig, Getriebe für Fahrräder zu verbessern. »Ich habe mich auf Fahrräder konzentriert, denn in diesem Markt besteht ein großer Bedarf an Innovationen«, sagt der heutige CTO von Classified. Das Problem des Schaltens unter Last hatte es ihm besonders angetan.

Handarbeit im Hauptquartier: Direkt im Antwerpener Loft-Büro arbeiten Senior Mechanical Engineer Bruno De Naeyer (Bild oben) und Team an ihrem Produkt. Mit Ex-Profi Boonen (unten) tauschen sie sich über praktische Probleme aus.

Physikalisch ist das bei der Kettenschaltung ein großes Problem, aber auch bei den meisten Nabenschaltungen ist bei hoher Last das Schalterlebnis nicht befriedigend. Sieben Jahre forschte van Druten, ehe seine Technik bereit war für den Markt. Er tüftelte an der mechanischen Lösung in der Nabe, an der Form, an der Übertragung der Schaltsignale. Irgendwann hatte er eine kabellose Technik beisammen, die inzwischen auch patentiert ist.

Privates Vermögen für weniger Pannen

Im Kern möchte Classified die Ära des vorderen Umwerfers beenden. Dass es sich bei dieser Anwendung um ein relevantes Thema für den Fahrradmarkt der Zukunft handelt, davon sind die Gründer von Classified ebenso überzeugt wie der ehemalige Weltklasse-Radsportler Tom Boonen, eine der Legenden des Sports im rennradverrückten Flandern. Van Druten und sein Mitgründer Mathias Plouvier, ein Jurist aus Belgien, hatten dem Superstar vor einigen Jahren von ihrer Idee berichtet. Boonen dachte drüber nach, meldete sich wieder bei den beiden und entschied sich, als einer der ersten Investoren privates Vermögen in das junge Unternehmen einzubringen. »Wenn man sich anschaut, was beim Rennrad Pannen verursacht, ist es ganz oft der vordere Umwerfer. Das ist antiquierte Technik«, sagt Boonen, »meistens führt ein Problem damit zu abgeworfenen Ketten oder Kettenklemmern.« Beim Besuch im Unternehmen ist Tom Boonen auch im Haus, zufällig, wie es heißt, nimmt sich Zeit für Statements und Bilder, steht hinter der Marke und natürlich auch vor den Augen des Publikums. Überhaupt ist bemerkenswert, wie sich die Firma präsentiert. Die Räume erinnern an kalifornische Tech-Gründungen, die Architektur ist offen, die Büroatmosphäre durchdesignt, das Setting locker und sportlich. Hier hat sich jemand viele Gedanken nicht nur über eine Technik am Fahrrad gemacht, sondern auch darüber, wie eine moderne Firma sich gegenüber Mitarbeitenden und Besuchenden zeigt.

Bei Classified verkaufen sie sich durchaus revolutionär. Man hört Vergleiche mit anderen Technologien, die erst erklärungsbedürftig waren. Das iPad ist so ein Beispiel, von dem die Rede ist. Entsprechend sind Boonen und CEO Plouvier fest überzeugt, dass sie einen enormen Schub in die Branche bringen können. »Wenn man sich anschaut, wo das Radfahren heute ist, und wenn man das mit der Autoindustrie vergleicht, etwa mit Tesla, dann ist das doch bizarr«, sagt Plouvier. Allerdings bedeutet das Einführen eines neuen Schaltprinzips auch harte Missionarsarbeit: »Du musst alles erklären«, sagt Tom Boonen, der damit allerdings kein Problem zu haben scheint. Geschäftsführer Plouvier ergänzt: »Und zwar jedem: dem Verbraucher, dem Mechaniker, dem Sportlichen Leiter, dem OEM-Hersteller, der Öffentlichkeit.« Anstrengend sei das, »vor allem, wenn man in einem Markt unterwegs ist, den sich drei Player aufgeteilt haben«. So haben sie bei Classified vor gut zwei Jahren angefangen, die Geschichte immer und immer wieder zu erzählen – und bleiben überzeugt, dass ihre Technik die bessere ist als die etablierte von Shimano, Sram und Campagnolo.

Ins Innere des Planetengetriebes lässt Tüftler Van Druten die Besucher nicht schauen, dennoch erklärt er geduldig das Prinzip seines Antriebs. Währenddessen hört man von den Werkbänken am Fenster Arbeitslärm, die Classified-Antriebe werden an einer Station auf Testräder montiert. Daneben liegt die tatsächliche Fertigung der Getriebe. Jeder einzelne »Hub« kommt aus diesem Haus, jedes Produkt geht hier durch die Qualitätskontrolle. Eine ist eine offene Werkstatt, wo auch Tom Boonen kameratauglich den Mitarbeitern über die Schulter schaut. Neben dem Standort in Antwerpen gibt es noch eine Dependance in Eindhoven. Dort in den Niederlanden arbeitete Van Druten nach der Promotion an der Hochschule. Die Unternehmer berichten über die Nähe zum universitären Umfeld und auch zu Software- und Elektronikanbietern in Eindhoven. »Wir haben viele Kooperationen mit Unternehmen in unserer Nähe, die es uns ermöglichen, Lösungen schnell umzusetzen«, sagt van Druten. Inzwischen sei das Unternehmen in der Lage, die Produktion zu skalieren, wenn die Nachfrage wächst, die Werkzeuge für eine Massenproduktion seien vorhanden. Wichtig sei dafür die Zusammenarbeit mit Partnern in Europa. 90 Prozent der Zulieferer, heißt es bei Classified, produzieren in Belgien oder den Niederlanden. Man hat also hier eine Botschaft im Angebot, die in der Fahrradindustrie durchaus von Interesse sein dürfte. Nur ist es eben noch nicht das Thema, das die Kommunikation von Classified derzeit beherrscht.

Flämisches Fabrikat: Die patentierte Technik wird am Damplein in Antwerpen montiert, getestet und verpackt.

Aktuell stößt das Unternehmen mit seinen Argumenten in eine exklusive Nische vor: den Rennradsport, auch aufs Gravelbike. »Das Investment ist enorm groß«, sagt Co-Gründer Plouvier über den Vorstoß ins Geschäft mit Schaltgruppen, »aber wenn du da einen Teil des Marktes gewinnst, kannst du dir ein sehr attraktives Geschäft sichern.« Dass eine neue »Experience« durch das Umschalten bei vielen Hundert Watt möglich sei, ist das eine Argument. Das dürfte sehr kompetitive Sportler aufhorchen lassen. Erfinder van Druten sagt, sein Mechanismus erzeuge etwa 99,5 Prozent der Effizienz eines klassischen Kettenantriebs. Bei Tests an 14 Prozent steilen Anstiegen habe man letztlich Vorteile für Classified gegenüber einem Zweifachantrieb bei ansonsten gleicher Konfiguration gemessen, im Flachen sei zudem ein entsprechender Aerodynamik-Vorteil zu erkennen. Letztlich sei die »virtuelle« Schaltung in der Hinterradnabe auch sehr langlebig, mehr als 40.000 Schaltvorgänge teste man mit einem »Hub«. »Danach sah es immer noch wie neu aus«, sagt van Druten.

Kooperation mit wichtigen Laufrad-Herstellern

Mühsam ist der Weg dennoch, denn es geht nur Schritt für Schritt in den Markt. Corona und der Radboom bei gleichzeitigem Angebots-Engpass haben die Hersteller gezwungen, ihre Order auf längere Zeit abzusetzen. So war es für Classified schwierig, kurzfristig in diesem Geschäft Fuß zu fassen. »Im Moment ist unser wichtigster Absatzkanal noch Aftermarket, aber innerhalb weniger Jahre wird sich das wahrscheinlich in Richtung Verkäufe in Verbindung mit OEM ändern«, prognostiziert Plouvier. Verbraucher ordern meist das Classified-Set über Händler und bekommen dafür einen Classified-Laufradsatz und den »Hub« zum Preis von 2.599 Euro. Händler in Deutschland, Österreich und der Schweiz betreut das Unternehmen von Antwerpen aus, ein internationales Vertriebsnetz in Nordamerika, Afrika, Asien und im Pazifik entsteht gerade.
Alternativ gibt es für Einzelkunden inzwischen auch Nachrüstsätze der Nabenschaltung für kompatible Laufradsätze.

»Es war ein Zug, auf den ich aufgesprungen bin.«

Tom Boonen, belgischer Star & Investor

Da war es ein Meilenstein für das Unternehmen, zur Eurobike im vergangenen Sommer die Kooperation mit sieben Laufradherstellern zu melden, darunter DT Swiss, Enve, Mavic und Reynolds. Mittlerweile haben jedoch auch Fahrradhersteller die Technik aus Belgien auf Rädern spezifiziert. Rose beispielsweise bietet ein Gravelbike mit Classified-Ausrüstung. Vorangegangen war die flämische Radsportmarke Ridley, die ja auch nur eine kurze Autofahrt entfernt ihre Räder montiert.

Der Marktvorstoß im prestigeträchtigen Rennradsegment ist für die Classified-Macher allerdings nur der Auftakt. Sie fahren gern Rennrad, die Betriebsausfahrt am Mittwochabend ist immer ein verkapptes Rennen, heißt es. Aber der Blick der Macher geht längst weiter. Zunächst soll die Classified-Antriebstechnik schon bald in Mountainbikes und Urban-Modellen verbaut werden. Wenig verwunderlich ist zudem, dass Roëll van Druten auf den großen Boom im E-Fahrradmarkt schaut. »Bei E-Bikes haben die aktuellen Naben im Markt ein Problem mit der Haltbarkeit«, sagt er, »und die hohe Kraft der Motoren führt dazu, dass die Geräte nicht reibungslos schalten.« An dieser Stelle würden die Argumente für den Classified-Antrieb noch einmal für einen deutlich größeren Absatzmarkt interessant. Aber mehr verraten die Gründer über den beabsichtigten Vorstoß ins E-Bike-Segment noch nicht.

»Es war ein Zug, auf den ich aufgesprungen bin«, sagt Tom Boonen über sein Investment bei Classified. Zumal Boonen nicht allein war als Investor, mit ihm zusammen war LRM eingestiegen, Ende 2020 führte dann die britische Bridford Investments eine Finanzierungsrunde über 5 Millionen Euro an. Die Akquise neuen Kapitals ist ein Dauerthema für Plouvier, Kapital für einen mutigen Vorstoß. Anfang dieses Jahres meldete Classified dann, dass Anna van der Breggen, Marcel Kittel und André Greipel in das Unternehmen investiert hätten. Das seien keine Werbebotschafter, sagt auch die Pressesprecherin, sondern überzeugte Teilhaber und Fans der Technik. Es dürfte für die Marktanbahnung sicher hilfreich sein, wenn derart erfolgreiche Radsportler einem neuen Produkt auf diese Weise ihr Vertrauen aussprechen. //

15. Dezember 2022 von Tim Farin

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