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Eltern-Taxi ohne Verbrennungsmotor – in Deutschland noch zu oft die Ausnahme.
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Report - Fahrradsozialisation

Familienmobilität 2.0 – aber wie?

Ein urbanes Lebensumfeld, das generationenübergreifend gleichzeitig Aufenthaltsqualität, Platz zum Leben und Arbeiten sowie ein hohes Maß individueller Mobilität und sichere Wege bietet, wäre ein schönes Ziel. Wie Beispiele aus den Fahrradnationen zeigen, ist das keine Utopie – allerdings auch kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis fortwährender politischer, planerischer und kommunikativer Arbeit.

Viele Rahmenfaktoren sprechen für eine neue Form von Mobilität. Verkehrsexperten sehen in der Entschleunigung, kleineren und leichteren Fahrzeugen, Sharing-Konzepten, vernetzten Systemen aus ÖPNV und Individualverkehr und nicht zuletzt der vermehrten Nutzung von Fahrrädern und der Stärkung des Fußgängerverkehrs Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft. Die Realität sieht dagegen hierzulande oft ernüchternd aus. Ständige Staus, überfüllte Busse und Bahnen, hoher Parkdruck in den Wohngebieten und ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit und Aggression prägen vielfach das Alltagsbild.

Nachholbedarf bei der ­Fahrradförderung

Inzwischen greift die Erkenntnis um sich, dass das Fahrrad einen wesent­lichen Beitrag für den Erhalt unserer Mobilität leistet. Angesichts bereits heute überlasteter Infrastrukturen und einem in den kommenden Jahren allen Prognosen nach weiter steigenden Verkehrsaufkommen sehen sogar Autolobbyisten das Fahrrad inzwischen als wichtiges Glied in der Mobilitätskette. Selbst der ADAC ist nicht mehr gegen das Fahrrad. Auch dank steigender Radnutzung seiner eigenen Mitglieder.
Mit einer echten Fahrradförderung tut man sich Deutschland trotz einzelner positiver Beispiele jedoch nach wie vor schwer. In der Praxis beschränken sich die Maßnahmen allzu oft auf die Entschärfung von Unfallschwerpunkten, eine möglichst kostengünstige Verbesserung der bestehenden Rad­infrastruktur, zum Beispiel durch das Einrichten von Schutzstreifen sowie allgemeine Appelle zu mehr Rücksicht im Straßenverkehr. Die übrigen Maßnahmen zielen eher auf die Radfahrer selbst und reichen von gutmeinenden Ratschlägen zur besseren Sichtbarkeit über Schulungen und Hinweise zum regelkonformen Verhalten im Straßenverkehr bis hin zur fast drohenden Aufforderung, einen Helm zu tragen, und Schwerpunktkontrollen zur Ahndung von Fehlverhalten. Eine aktive Förderung des Radverkehrs, so sollte man meinen, sieht anders aus.
Wenig hilfreich im Sinne einer konsequenten Förderung ist in diesem Zusammenhang auch der mit guter Absicht erstellte Nationale Radverkehrsplan 2020 – solange er nicht mit konkreten Zielen und ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet ist. So lauten zumindest die vorherrschenden Kommentare zu dem Mitte letzten Jahres vorgestellten Masterplan der Bundesregierung. Bleibt es beim eingeschlagenen Kurs, so steht zu befürchten, dass eine ganze Generation junger Menschen deutlich stärker als ihre Eltern auf den Pkw als primäres Fortbewegungsmittel geprägt wird. Mit entsprechenden Folgen für die Städte, in denen die Bedürfnisse nach Lebensqualität und Mobilität aufeinandertreffen. Dass es auch anders geht, zeigen unsere europäischen Nachbarn.

Was haben uns die Fahrradnationen voraus?

Die Niederländer ohne ihr heißgeliebtes und zu allen möglichen Gelegenheiten quer durch die sozialen Schichten genutztes Fiets? Ein schwer vorstellbares Bild. Das Fahrrad ist hier so tief in der Gesellschaft verankert, dass man die Existenz eines spezifischen Rad-Gens für möglich halten könnte. Dabei ist die Begeisterung der Niederländer wie auch der Dänen keineswegs naturgegeben, sondern das Ergebnis rationaler Erwägungen und Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Willens, Mobilität als wichtige wirtschaftliche und soziale Komponente zu erhalten und darüber hinaus ein sicheres und lebenswertes Umfeld zu schaffen. Auslöser für die Entwicklung in den Niederlanden, die 1971 begann, war die traurige Zahl von 400 Kindern unter 14 Jahren, die in diesem Jahr im Straßenverkehr getötet wurden und die Menschen zu Protesten auf die Straße trieb. Mit der Ölkrise 1973 wurde in einem breiten Konsens beschlossen, Alternativen für das Konzept der autogerechten Stadt zu schaffen, die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern.
Eine ganz ähnliche Entwicklung findet sich auch in Dänemark. Nicht die Diskussion um das »richtige« Verkehrsmittel bestimmt hier seit den 1980er-Jahren die Politik, sondern der Wille, Städte wieder lebenswerter und damit attraktiver zu machen. Vor allem für qualifizierte Arbeitnehmer, renommierte Unternehmen und junge Familien. Für die Bewohner von Kopenhagen ist das Fahrrad inzwischen aus ganz praktischen Erwägungen heraus ganz selbstverständlich die erste Wahl. 36 Prozent der Einwohner fahren mit dem Rad zu Arbeit, zur Schule oder zur Universität. Bis 2015 soll dieser Anteil auf 50 Prozent steigen. Zu den Gründen der Fahrrad­nutzung befragt, antworteten bei Um­fragen über die Hälfte (55 %) »es ist schneller«. Als weitere Gründe genannt werden »praktisch« (33 %), »gesund« (32 %), »preiswert« (29 %) sowie »ein guter Weg um den Tag zu beginnen« (21 %). Nur eine Nebenrolle spielt bei der Wahl des Fahrrads der Umweltgedanke (9 %).
Die Beliebtheit des Fahrrads, darauf weisen die Planer hin, ist allerdings keineswegs ein Selbstläufer, sondern das Ergebnis einer ganzheitlichen Planung, die Infrastrukturen für den ruhenden und fließenden Verkehr und eine Vielzahl flankierender Maßnahmen mit einschließt.

Fahrradkampagnen in Dänemark

Die Kampagnen der Dänen setzen nicht auf den erhobenen Zeigefinger, sondern auf erfreuliche Erlebnisse und Erfahrungen, Humor und Spaß, was nach den Erfahrungen der Macher deutlich effektiver ist. Wichtiges Ziel ist es dabei auch, die laufenden Kampagnen öffentlich zu machen und zu zeigen, welche Maßnahmen für Fahrradfahrer ergriffen und umgesetzt werden. Langfristig soll das kontinuierliche Marketing die Bevölkerung immer wieder an die Vorteile des Radfahrens erinnern.
Mit einem ersten Kampagnentyp werden regelmäßige Radfahrer in ihrem Verhalten gestärkt und Radfahrer, die nur ab und zu auf dem Rad unterwegs sind, ermutigt, das Fahrrad öfter zu nutzen. Eine Hauptzielgruppe sind junge und mittelalte Radfahrer, die relativ preiswert über Schulen, Ausbildungsstätten und Arbeitgeber erreicht werden können. Ein Beispiel ist die Kampagne »We cycle to work«, die regelmäßig rund 100.000 Teilnehmer verzeichnet.
Ein zweiter Kampagnentyp zielt auf die langfristige Verhaltensbildung. Ausgehend von der Annahme, dass die Kultur des Radfahrens immer wieder durch junge Radfahrer neu belebt werden muss und Verhaltensmuster in der Kindheit geformt werden, sind Kinder die Zielgruppe. In Wettbewerben und Schulungen werden Kinder gezielt an das Radfahren herangeführt. Flankiert von umfangreichen Maßnahmen, die den Straßenverkehr und vor allem die Schulwege sicherer machen.
Eingefleischte Autofahrer zu erreichen, bindet nach den Erfahrungen der Dänen zu hohe Ressourcen. Sie gehören deshalb nicht zu den Hauptzielgruppen, werden aber mit Kampagnen und Maßnahmen zu mehr Rücksicht, wie zum Beispiel der Reduzierung der Geschwindigkeit auf Schulwegen aktiv mit in die Verantwortung eingebunden.

Kampf um den öffentlichen Raum

In Deutschland hat sich der Pkw-Bestand seit 1970 verdreifacht. Damit weisen wir einen der höchsten Motorisierungsgrade der Welt auf. Die Folge: Kinder können nur noch eingeschränkt autonom an der Mobilität teilnehmen. Denn obwohl die Straßenverkehrsordnung zum Beispiel vorschreibt, dass sie bis zu ihrem achten Geburtstag auf dem Gehweg fahren müssen und bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr fahren dürfen, fehlt meist eine durchgängige fußverkehrs- und fahrradadäquate Infrastruktur, die das Radfahren auch auf dem Bürgersteig und das Queren von Straßen ohne Sichtbehinderung ermöglicht.
Aktuell verschärfen sich die Probleme weiter, denn trotz hoher Benzinpreise gibt es einen klaren Trend zu immer größeren und leistungsfähigeren Autos. Nach den Zahlen des CAR-Center der Universität Duisburg-Essen haben zwar Familienvans nur noch einen Marktanteil von elf Prozent an den Verkaufszahlen, dafür haben sportliche Geländewagen (SUVs) deutlich hinzugewonnen. Sie kommen inzwischen auf einen Anteil von 16 Prozent und sorgen mit dafür, dass die durchschnittliche PS-Zahl im vergangenen Jahr eine Rekordmarke von 137 PS erreicht hat.

Mama-Taxi-Kinder lernen schlecht

Eine Studie der Universität von Kopenhagen mit 20.000 Schülern hat gezeigt, dass Kinder, die von ihren Eltern regelmäßig mit dem Auto zur Schule gefahren werden, schlechter lernen. Kinder, die selbständig zur Schule gehen oder fahren, konnten sich den Untersuchungen zufolge deutlich besser konzentrieren.

Fahrradbranche ist aktiv in der Nachwuchsförderung

Viele Unternehmen aus der Fahrradbranche haben erkannt, dass es sich lohnt Familien und Kinder aufs Rad zu bringen und unterstützen lokal und überregionale Projekte und Initiativen.
Beispielhaft ist das Projekt »Schoolbike-Räder an die Schulen«, für das 2011 der Startschuss gegeben wurde. Ziel der Initiative ist es, in den kommenden Jahren mehrere hundert Räder zu einem Sonderpreis an die Schulen zu bringen. Die Gesamtkoordination liegt beim RadClub Deutschland, der von zahlreichen Förderkreismitgliedern wie der Bico, Continental, Busch und Müller, Abus, Sram, SQ Lab, Wippermann, Hebie, Humpert und der Messe Essen unterstützt wird. In diesem Jahr werden an zehn Schulen jeweils 15 besonders ausgerüstete Räder vergeben. Bewerbungen nimmt der RadClub wieder für 2014 an. Kriterien sind unter anderem eine Fahrradförderung und mindestens zwei radaffine Pädagogen, ein geeignetes Gelände / Straßen im Umfeld, eine Kooperation mit einem Radsportverein, einem Radhändler sowie eine Beschreibung der Zukunftsvision »Fahrrad« an der Schule. Neben den Rädern erhalten die Schulen eine Beratung und werden mit ausführlichem Infomaterial versorgt.
Weitere Projekte für Kinder unter der Federführung des RadClubs sind die bekannten »Fette-Reifen-Rennen«, die bundesweit bei über 100 Veranstaltungen im Jahr ausgetragen werden, die Aktion Lichtcheck, die in Zusammenarbeit mit 2.000 Fahrradhändlern in Deutschland durchgeführt wird sowie ein Kids- und Trainingscamp zusammen mit dem daran angeschlossenen Projekt BikeHero, mit denen gezielt Nachwuchsförderung betrieben wird.
Auch bei vielen anderen Aktionen, die durch die Bundesregierung oder öffentliche Träger initiiert werden, ist die Fahrradbranche regelmäßig unterstützend oder als Projektpartner mit dabei. Meist in Form von Sachspenden, wie Helmen, die beispielsweise von Abus für die Arbeit der Verkehrswacht oder das gemeinsam mit weiteren Partnern initiierte Projekt »Fahrradhelm macht Schule« kostenlos oder besonders günstig zur Verfügung gestellt werden. Überhaupt hat das Thema Schule nach Torsten Mendel von Abus noch große Potenziale für Hersteller und Händler. So bietet das Unternehmen Händlern schon seit einiger Zeit spezielle Werbemittel für Grundschulen und extra leicht zu bedienende Kinderschlösser an. Um die Helmakzeptanz bei älteren Schülern zu erhöhen, die sich eher an ihrer Peer-Group und YouTube-Helden wie Danny MacAskill, als an ihren Eltern orientieren, hat Abus inzwischen auch Helme in Skater-/BMX-Optik im Programm.

15. Februar 2013 von Reiner Kolberg
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