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Markt - Ordersysteme

Geht’s auch ohne?

In diesen Wochen plant der Handel seine Vororder beziehungsweise ist schon längst mittendrin. Das Vorordersystem ist gefühlt so alt wie die Fahrradbranche. Aber ist es auch immer noch bewährt? Oder muss sich etwas ändern?

Wer im Fahrradsegment als Einzelhändler tätig sein will, kommt bei den gängigen Geschäftsmodellen bisher kaum an der Vororder vorbei. Der überwiegende Anteil der Vororder wird wohl immer noch klassisch getätigt mit mehrmonatigen Vorläufen und einer relativ starren Festlegung auf Modelle, Mengen und Liefertermine. Der Lohn dieses starren Systems ist mitunter ein Preis-Leistungs-Verhältnis, mit dem manche Fahrradmarken ihren Handelspartnern ein scharfes Schwert im Wettbewerb mit Direktvertriebsmarken in die Hand legen.

Doch das System birgt große Risiken, die Fahrradhändler gegen die attraktiven Verkaufspreise sorgfältig abwägen müssen. Besonders deutlich wurde dies in der jüngeren Vergangenheit, als der Markt sich deutlich abkühlte und Fahrradlieferungen aus längst vergessenen Vorordern sich mitunter vor den Ladentüren stapelten, weil die Lager- und Ladenfläche bereits proppenvoll war. Übrigens im diametralen Gegensatz zum Kontostand vieler Fahrradhändler. Die derzeit anhaltende Pleitewelle im Fahrradhandel hat ursächlich zu einem nicht geringen Teil auch mit dem antiquiert anmutenden Vorordersystem zu tun.

In den Boom-Jahren mag das Thema Vororder etwas in den Hintergrund gerückt sein, doch inzwischen wächst im Handel wieder der Wunsch, es anders zu machen. Ideen und Ansätze, wie man es besser machen könnte, gibt es durchaus. Das meiste davon ist schon längst bekannt und im Prinzip auch verfügbar.

Das vermeintliche Vorbild, das gerne herangezogen wird, ist die Automobilindustrie. Sie schafft es schließlich, millionenfach Fahrzeuge herzustellen, die in aller Regel Konfigurationswünsche der Kundschaft berücksichtigen. Wo das nicht notwendig scheint, sorgen günstigere Basismodelle für attraktive, zumindest niedrigere Preise und schnelle Verfügbarkeit. Doch in der Fahrradwelt läuft es nur selten in dieser Form.

Harsche Kritik

Die Kritik, die am herrschenden Vorordersystem geübt wird, ist inzwischen durchaus harsch: Es sei ein Relikt aus alten Tagen, das den Handel benachteiligt, indem es die Risiken auf ihn abwälzt und an dem bislang vor allem aus Gewohnheit, fehlender Flexibilität und auch Druck der Hersteller festgehalten wird. »Die Fahrradbranche steckt in einem System fest, das längst überholt ist«, formuliert es ein Branchenexperte.

Doch es ist nicht so, als hätte eine Vororder gar keine Vorteile. Zumindest mit Blick durch die Industriebrille: Der wesentliche Vorteil, gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Situation wie der aktuellen, besteht für die Hersteller darin, dass sie mit einer Vororder ihre Warenbestellungen absichern können beziehungsweise sie erst dann finanziert bekommen. Die Situation, dass ein Hersteller allein mit Eigenkapital auskommen könnte, dürfte heute eine seltene Ausnahme sein. Im Prinzip benötigen alle Fahrradhersteller in mehr oder weniger großem Umfang Fremdkapital.

Dieses bekommen sie deutlich leichter und zu besseren Konditionen, aktuell überhaupt erst, wenn sie mit prall gefüllten Orderbüchern nachweisen können, dass die Ware, die sie einkaufen wollen, bereits Abnehmer hat. Aus dem Handel stößt das auf Kritik, denn auf diese Weise fühlt sich mancher als Mithaftender seiner Marke, der er aber gar nicht sein will. Schmackhaft wird ihm das von Industrieseite gemacht, indem verwiesen wird auf seine doch hohe Marge (ein natürlich streitbarer Punkt) und das sonst nicht zu stemmende große Volumen.

Es ist nicht so, dass der Handel gar keine Vorteile hätte. Der Händler profitiert davon, dass er zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt Ware bekommt, deren Verfügbarkeit ungewiss wäre ohne eine rechtzeitig abgegebene Vororder. Andererseits: Mancher Händler nennt es eine künstliche Verknappung, dass einige Marken keine nennenswerte Nachlieferfähigkeit besitzen und damit die Vororder umso wichtiger wird. Je relevanter, unersetzlicher eine Marke dem Händler erscheint, desto eher ist er geneigt, sich zu verpflichten. Auch das gilt: Die Vororder ist nicht das einzig wichtige Thema bei der Markenauswahl. Die Verkäuflichkeit der Ware kompensiert vieles. Viele attraktive Marken sind wie eingangs erwähnt nur durch eine Vororder zu bekommen. Der Massenmarkt ist ein Vorordermarkt. Wer da nicht mitspielen will, ist sofort in der Nische.

Bitte gleich einpacken

Ein unbestreitbarer Vorteil des Vorordersystems ist der Umstand, dass Kunde oder Kundin im Radladen sofort ein Rad mitnehmen kann. Das ist schließlich der Sinn des Ganzen: Die Kundschaft hat es möglichst einfach. Zum richtigen Zeitpunkt steht das passende Rad für sie bereit. Ohne, dass sie jemals darüber nachdenken mussten, was sie eigentlich wollen. Dafür haben sich die Akteure der Fahrradwirtschaft umso mehr Gedanken gemacht. Trotzdem gehen die besten Pläne oft genug nicht auf.

Hat der Händler passend vorgeordert? Mit dieser Ungewissheit muss er bis zum Verkauf leben.

Dem bestehenden Vororderprozess wird auch eine Mitschuld an den Überbeständen nach der Corona-Phase zugeschrieben. Es wurde fleißig bestellt, zum Teil auf Jahre im Voraus, weil sich der Eindruck verfestigte, man würde sonst keine Ware bekommen. Nun hat man diese Ware bekommen und stellt fest, dass die eigenen Einschätzungen und die der gesamten Branche stark danebenlagen. Ob ein anderes System zu weniger Bestelldruck geführt hätte, sei dahingestellt.

Auf der Suche nach Alternativen

Doch wie ließe sich die finanzielle Last der Vororder besser verteilen, vielleicht sogar ganz vermeiden? Eine naheliegende Lösung heißt Custom-Made. Niemand ordert vor, stattdessen wird produziert, wenn ein Fahrrad tatsächlich bestellt wird. Zumindest die Custom-Made-Anbieter versichern, dass auch die Marge keineswegs schlechter wäre als bei der vorspezifizierten Ware. Keine Kapitalbindung, maximale Flexibilität, minimales Risiko – wenn das so überzeugend ist, wie es klingt, warum ist Custom-Made nicht schon längst Standard in der Branche? Immerhin gibt es das Konzept seit Jahrzehnten.

Eine Herausforderung ist die Zielgruppe. Natürlich macht es keinen Sinn, Kundenkreisen tiefschürfende Optionen anzubieten, deren Bedeutung und Wert sie gar nicht richtig einschätzen können. Ob man eine Sitzheizung will oder nicht, lässt sich auch ohne große Erfahrung entscheiden, ob man lieber mit Shimano oder Sram schalten möchte, dürften deutlich weniger Radfahrende sinnvoll begründen können.

Das andere ist die schon erwähnte Verfügbarkeit der Ware. Schon mit einem Jahr Vorlauf schaffen es Hersteller regelmäßig nicht, wie vereinbart pünktlich zu liefern. Der globale Fahrradmarkt hat seine Unwägbarkeiten. Die Diskussion um Lieferpünktlichkeit ist so alt wie die Vororder selbst.

Es muss aber gar nicht die Komplett-Individualisierung sein. Über die Jahre hat sich herausgestellt, dass nur wenige Kundinnen und Kunden so tief gehen wollen. Viel häufiger ist eine Basis-Flexibilität völlig ausreichend. Rahmenfarbe und -größe, Kontaktpunkte am Rad und vielleicht noch zwei, drei andere Optionen genügen den meisten. Damit sinkt die Komplexität für alle Beteiligten. Dies ändert aber nichts daran, dass die Hersteller dann das Lagerrisiko weitgehend selbst tragen müssten.

Hybride Vertriebsmodelle

Wie genannt ist eine Individualisierung nicht immer erforderlich. Gerade bei den Einstiegspreislagen dürfte es schwierig sein, sinnvolle Optionen zu bieten. Deswegen lautet ein recht neuer Vorschlag, hybride Vertriebsmodelle einzuführen. Gemeint ist damit, dass Einstiegs- und mittlere Preislagen in einem Vorordersystem bleiben. Alles Hochwertigere wird erst produziert, wenn es tatsächlich benötigt wird. Die Optionen dafür müssen wie gezeichnet nicht ausufern. Tatsächlich bietet kaum noch ein Custom-Made-Anbieter wirklich komplette Flexibilität. Inzwischen schnüren sie sinnvolle Pakete, die das meiste abdecken. Doch noch hat sich niemand zu so einem System entschlossen.

Das häufigste Maß an Flexibilität findet sich heute bei Herstellern, die nachträgliche Vororderanpassungen erlauben, bis es an die tatsächliche Produktion geht. Diese Anbieter haben ihre Montage in der Regel in Deutschland, wenigstens aber im nahe gelegenen Ausland. Der Kunde wünscht ein grünes Fahrrad, vorgeordert wurde aber ein blaues? Ein Anruf, eine Mail, ein Klick im Backend und die Order ist angepasst. Überhaupt sehen es Händler als ihre Königsdisziplin, möglichst viel von ihrer Vororder zu verkaufen, noch bevor sie überhaupt ankommt. Dabei hilft solche Flexibilität natürlich.

Die heute am klügsten agierenden Marken, die Flexibilität bieten, schauen sich regelmäßig ihren eigenen Konfigurator an. Dort sehen sie im Detail, welche Räder zusammengestellt werden und bekommen ihre Marktforschung frei Haus geliefert. Trends können diese Marken frühzeitig erkennen und sich entsprechend vorbereiten.

Eine andere Einsichtsquelle sind die Daten der Händler. Dort ließe sich direkt ablesen, was im Markt gefragt ist. Doch noch findet ein solcher Datenfluss nicht flächendeckend statt. Der Handel dürfte schneller zu überzeugen sein, wenn er für seine Dateneinsichten auch margenmäßig angemessen kompensiert würde.

Womöglich steckt auch ein ökonomischer Nachteil in den Vororder-Alternativen. Wenn die bestellte Ware mal geliefert ist, muss sie auch an den Mann, die Frau und das Kind gebracht werden. Es herrscht beträchtlicher Waren- und damit Abverkaufsdruck. Niemand kann es sich leisten, gemütlich auf hereinspazierende Kundschaft zu warten und sie dann zwanglos zu beraten. Mit weniger Warendruck könnte man vermuten, dass die Gesamtumsätze sinken. Ob das auch für die Margen gilt, ist eine andere Frage. Bei individualisierten Produkten gibt es wenig Preisdiskussionen.

Vermutlich ist die Wirkung des Ordersystems aber nur begrenzt auf die Umsätze. Der Umstand, dass es nur wenige Branchen mit ähnlich hochpreisigen Verkaufsgütern gibt, die auf Vororder setzen, spricht dafür, dass es auch anders geht. Und der Handel hat auch ohne zusätzlichen Druck größtes Interesse an guten Verkaufszahlen.

Ideen und Ansätze, um die bestehenden Vorordersysteme zum Vorteil aller zu verbessern, gibt es also viele. Was davon in nächster Zeit umgesetzt wird, bleibt offen. Gerade in einer Phase mit wirtschaftlichen Herausforderungen dürfte es besonders schwer sein, größere Veränderungen zu bewirken. Bevor man auf bedarfsgerechte Produktion umsteigen könnte, müssten ja erst mal die Überbestände abverkauft werden. Wo gerade kein Bedarf, da keine Produktion. Es gäbe also erst mal eine Produktionspause, die die Fahrradindustrie gerade schon hatte und hat.

Daher wird bis auf Weiteres das vertraute Vororderspiel gespielt. Und das mit den aktuellen Überbeständen gilt auch nicht mehr umfassend. Immerhin gibt es zum ersten Mal seit Jahren in mehreren Segmenten wieder Bedarf an Nachschub und Neuheiten, die man nicht ignorieren kann. Da kann man jetzt schon zugreifen und den Lieferanten so Spielraum schaffen. //

21. August 2025 von Daniel Hrkac
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